Der Amerikaner Adam Haslett beobachtet in seinem Roman, wie sich eine Familie gegen die Depression wehrt. »Stellt Euch vor, ich bin fort« ist auch von seiner persönlichen Erfahrung des Verlusts geprägt.
Depression ist in den Industriestaaten längst eine Volkskrankheit. In Deutschland erkranken jährlich bis zu fünf Millionen Menschen, in den USA hat etwa jeder fünfte Bürger psychische Probleme. Was liegt also näher, als einen Roman über den Schmerz am Dasein in der Gegenwart zu schreiben, über die Seelennöte in der Wohlstandsgesellschaft, den Niedergang der traditionellen Industrie, das Abgleiten in eine prekäre Existenz und das erdrückende Gefühl, den Anschluss zu verlieren? Wahrscheinlich wenig, und doch hat sich Adam Haslett anders entschieden. Er interessiert sich so gar nicht für die Umstände, die die Depression zu einem Massenphänomen gemacht haben, sondern dafür, was diese Krankheit in einer Familie anstellt. In seinem zweiten Roman erzählt er die Geschichte einer mittelamerikanischen Kleinfamilie, in deren Mitte das Ungeheuer der psychischen Erkrankung sein Unwesen treibt.
Der Roman beginnt mit einem Familienurlaub, in dem John von einem Moment auf den anderen den knatternden Motor des Bootes ausschaltet, in dem er mit seinen Kindern sitzt. Er lässt sich auf den Boden des kleinen Bootes fallen und schließt die Augen, als würde er ein Nickerchen machen. Und während die Jolle in den Wellen schaukelt und langsam von der Küste wegtreibt, sagt er zu seinen Kindern: »Stellt euch vor, ich bin fort. Stellt euch vor, ihr beide seid ganz allein. Was macht ihr?« An diese Worte erinnert sich Johns Tochter Celia, wenn sie an den Ausflug im letzten gemeinsamen Urlaub mit ihrem Vater denkt. Für die Tochter war es eines dieser Spiele, die sich anfühlen, als wären sie gar keine Spiele, »weil das, was man tut, wirklich zählt, und man nie weiß, was noch passiert.«
Dass man in Adam Hasletts zweitem Roman nie so genau weiß, was noch passiert, und doch die ganze Zeit von einer unheimlichen Ahnung beschlichen wird, was hier eigentlich vor sich geht, liegt an seiner überaus klugen und sensiblen Architektur. Der 1970 geborene Amerikaner rekonstruiert die erschütternde Geschichte einer Familie aus den unterschiedlichen Perspektiven ihrer Mitglieder. Sie erstreckt sich über ein halbes Jahrhundert, ist dabei aber so dicht, als würde man mit John, Margaret und ihren Kindern Michael, Celia und Alec für wenige Stunden in eine Welt eingeschlossen werden, in der Liebe und Trauer, Glück und Unglück, Licht und Dunkel so nah beieinanderliegen wie in keiner anderen.
Der Roman setzt mit einem Ereignis ein, dessen Bedeutung erst am Ende aufgeklärt wird. »Es ist etwas passiert. Mit meinem Bruder«, ist alles, was man von Alec nach drei Seiten erfährt, nur um kurz darauf um Jahrzehnte zurückgeworfen zu werden. Da erinnert sich Margaret, wie sie sich als junge Amerikanerin im London der sechziger Jahre in John verliebte. Als sie kurz vor ihrer Hochzeit noch einmal zu ihren Eltern nach New York fliegt, verschwindet er spurlos. Sie findet ihn in einer psychiatrischen Klinik wieder. »Man könnte sagen, sein Geist schließt sich ab und fällt in eine Art Winterschlaf«, erklärt der behandelnde Arzt Margaret seinen trübseligen Zustand.
Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sich John wegen seiner Depression in klinische Behandlung begibt. Er wird sogar an ihr zugrunde gehen. Denn die Worte in seinem Kopf, diese »Armee aus winzigen, unsichtbaren Toten, die ihre winzigen, flirrenden Sicheln schwingen und auf das Fleisch des Geistes einhacken«, werden nie mehr verschwinden. Das von Celia geschilderte Spiel ist Teil seines verzweifelten Plans, seine Familie auf seine Abwesenheit vorzubereiten. »Was ich versuche, ist unmöglich. Mich von ihnen verabschieden, ohne zu sagen, dass ich gehe«, gesteht er sich selbst wenig später.
Schon in seinem viel gelobten Erzählungsband Hingabe hat Haslett über psychische Abgründe geschrieben. Es ist kein Zufall, dass er sowohl mit diesen tiefschürfenden Erzählungen als auch mit seinem neuen, aufwühlenden Roman für den Pulitzer-Preis und den National Book Award nominiert wurde. Beide Bücher prägt die intensive Auseinandersetzung mit den Abgründen der menschlichen Psyche.
Stellt Euch vor, ich bin fort ist sein bislang persönliches Buch. Den Selbstmord seines depressiven Vaters hat er hier ebenso verarbeitet wie seine homosexuelle Identität. Diese hier nachgezeichnete Familiengeschichte ist aber nicht seine eigene, sondern die seiner Figuren. Sie ist einerseits ihr Klagelied über die Unwiederbringlichkeit der Zeit und andererseits das Protokoll ihres permanenten Überlebenskampfes. »Weil wir uns stets beweisen mussten, dass wir mehr waren als bloße Funktionen eines Verlustes«, wie es Celia an einer Stelle formuliert.
Die Tochter wird den Tod des Vaters zu verarbeiten versuchen, indem sie als Psychologin gescheiterten Jugendlichen hilft und Trost in einer nicht perfekten, aber stabilen Beziehung findet. Ihr Bruder Alec sucht Halt darin, sein Leben fest im Griff zu haben. Bis ihn die Liebe trifft, überwältigt und herausfordert. Johns Frau Margaret findet in der Pflege ihres ältesten Sohnes Michael eine neue Aufgabe, die sie emotional geradewegs zurück in ihre Ehe katapultiert. Denn Michael hat die manisch-depressive Erkrankung seines Vaters geerbt. Eine Tragödie, die dazu beiträgt, dass Johns Tod bald nicht mehr das Damoklesschwert über den Köpfen der Familie ist. Stattdessen wird Michaels Taumel zwischen den Höhen der Musik und den Gräueln der Sklaverei, zwischen der Faszination aufopferungsvoller Liebe und dem Delirium der Antidepressiva zum neuen Zentrum des Familienlebens.
Hasletts Figuren haben einen eigenen Blick auf die Ereignisse. Aus der Vielzahl der Perspektiven setzt sich die Familiengeschichte wie in einem Kaleidoskop zusammen. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen schlagen sich auch im Ton nieder. Dabei sticht Michael, der sich an den Zuständen der ihn umgebenden Welt aufreibt, aus allen heraus. Im Gegensatz zu seinem Vater gibt er seinen Dämonen Raum, indem er schreibt. Haslett fängt in seinen Briefen an die Tante oder dem ausgefüllten Aufnahmebogen in einer Klinik Michaels Wahn, aber auch dessen Genie ein – etwa bei der als militärischer Operationsbericht abgefassten Schilderung einer Familienaufstellung.
Bei aller Ironie aber ist dieser Roman vor allem eine herzergreifende Liebeserklärung an das Leben und die Familie (abseits konservativer Konzepte). Wenngleich sich am Ende die familiäre Tragödie auf dramatische Weise wiederholt, bleibt die tiefe und innige Verbundenheit in Erinnerung, die diese Familie über alle Katastrophen hinweg zusammenhält.