Die Hamburger Comickünstlerin Isabel Kreitz erzählt in ihrem neuen Comic von einem verbotenen Autor und seinem Beitrag zum letzten NS-Propagandafilm. »Die letzte Einstellung« bedient sich frei an der Biografie von Erich Kästner, ist aber mehr als eine Kästner-Story.
»Hollywood hat mich nicht gerufen«, begründet Heinz Hoffmann seinen Verbleib in Deutschland, während um ihn herum alle die Flucht ergreifen. Dabei hätte der Journalist und Autor in Hollywood Drehbücher schreiben können, Filmemacher wie Ernst Lubitsch, William Dieterle und all die anderen deutschen Stars in Hollywood hätten sicher Bedarf gehabt. Aber Hoffmann bleibt in Deutschland. Er ist weder jüdischen Glaubens noch Kommunist, würde schon irgendwie durchkommen. Außerdem eigne er sich nicht fürs Exil. »In einer anderen Sprache leben, denken, dichten…«, das kommt für ihn nicht infrage. »Nein, ich bleibe. Wie soll ich denn sonst über all das hier schreiben«, sagt er zu Beginn von Isabel Kreitz neuem Comic »Die letzte Einstellung« großmütig im Kreis seiner Freunde.

Darin erzählt die deutsche Comickünstlerin eine Geschichte aus dem letzten Kriegsjahr 1944. Heinz Hoffmann lebt seit mehr als einem Jahrzehnt als »verbotener Autor« in Berlin, mit Rücklagen und Auslandstantiemen hat er sich über Wasser gehalten. Doch bei einem Luftangriff brennt seine Wohnung aus, er braucht ein neues Dach über dem Kopf. Er sucht seine ehemalige Geliebte Erika Harms auf, die bei der staatseigenen UFA in Potsdam arbeitet. Sie bringt seinen Namen ins Spiel, als das NS-Propagandaministerium händeringend einen Ghostwriter für Wolfgang Liebeneiners Film »Das Leben geht weiter« sucht, der – nach Vorbild des britischen Propagandafilms »Mrs. Miniver« von William Wyler – die Stimmung in der kriegsmüden deutschen Bevölkerung heben soll.
Die nationalsozialistische Propaganda unter Joseph Goebbels ließ kein Medium aus, um die Bevölkerung zu manipulieren. Ein zentrales Element war seit jeher das Kino, wie zuletzt Joachim A. Lang in seinem Film »Führer und Verführer« gezeigt hat. Das Thema prägt auch Daniel Kehlmanns letzten Roman »Lichtspiel«, der gerade in den USA für Vergleiche mit dem Trump-Faschismus sorgt. Er handelt von Georg Wilhelm Pabst, einem der renommiertesten Filmemacher der Weimarer Republik, der im Dritten Reich moralische Kompromisse macht, um weiter künstlerisch tätig sein zu können. Das Pabst nicht der einzige Kunstschaffende war, der sich in der Nazidiktatur kompromittieren ließ, hat Dominik Graf in seiner Dokumentation »Jeder schreibt für sich allein« vor Augen geführt.
Eine der ambivalentesten Figuren in Grafs Film ist Erich Kästner, der am Anfang der Nazidiktatur in Berlin der Verbrennung seiner eigenen Bücher als heimlicher Zaungast beigewohnt, am Ende aber das Drehbuch zu Josef von Bákys Münchhausen-Film im Auftrag von Joseph Goebbels verfasst haben soll. In seinem autobiografischen »Fabian«-Roman, den Graf als dreistündiges Kaleidoskop großartig verfilmt hat, hat Kästner den Zerfall der Menschlichkeit dokumentiert. Wer meint, das konnte er nur, weil er zwölf Jahre lang schweigend dem Nazi-Terror beiwohnte, irrt, denn seine »Geschichte eines Moralisten« erschien bereits 1931. Kästner hätte fliehen können, traf aber seinen Biografen zufolge mit Goebbels die Abmachung, unter Pseudonym für die UFA schreiben zu können. Das Kriegsende erlebte Kästner nicht in Berlin, sondern in Tirol, wo er den Dreharbeiten für den letzten NS-Propagandafilm beiwohnen konnte.
Die Geschichte des Kästner-Drehbuchs für die NS-Propaganda greift nun Isabel Kreitz in ihrem neuen Comic auf. Ihr Protagonist Heinz Hoffmann ist eine fiktionalisierte Variante des berühmten deutschen Autors, viele Aspekte aus dessen Biografie finden sich in Hoffmanns Lebensgeschichte wieder. »Natürlich hatte ich beim Schreiben und Zeichnen Erich Kästner vor Augen, seinen Sprach-Duktus, sein Aussehen. Nur würde ich niemals behaupten, seine tatsächlichen Motive und Gefühle wiedergeben zu können. Heinz Hoffmann ist meine Interpretation, eine Erfindung mit realem Hintergrund«, erklärt die Hamburgerin im Hintergrundgespräch zum Comic. Darin konzentriert sie sich einerseits auf die politischen Entwicklungen nach Machtergreifung der Nationalsozialisten und ihre Auswirkungen auf Hoffmanns Umfeld, andererseits auf die Dreharbeiten zu Wolfgang Liebeneiners Film, denen Hoffmann während der letzten Kriegsmonate in der norddeutschen Provinz beiwohnen kann.
Erster Auszug aus »Die letzte Einstellung«
In dunklen Strichen, mit wenig Licht und viel Schatten, erzählt sie diese Geschichte, der Comic ist eher an frühere Arbeiten wie »Rohrkrepierer«, »Haarmann«, »Die Entdeckung der Currywurst« oder »Die Sache mit Sorge« angelehnt, als an ihre munteren Kästner-Adaptionen, die sie selbst als »eine Art geistiges Kinderzimmer« bezeichnet. Vor allem zur Geschichte über den Journalisten und Geheimagenten Richard Sorge sind Ähnlichkeiten im Eintauchen in die Parallelwelten der Realpolitik zu erkennen. Kreitz gehört zu den meist prämierten Künstler:innen in der deutschen Comicszene, sie wurde unter anderem mit dem Sondermann-Preis für den besten deutschen Comic, mit dem Max und Moritz-Preis als »Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin«, dem Wilhelm-Busch-Preis, dem Rudolph Dirks Award und dem e.o.plauen-Preis ausgezeichnet.
Das geistige Kinderzimmer von Isabel Kreitz




»Die letzte Einstellung« ist die erste umfassende Comicerzählung seit ihrem St.Pauli-Epos »Rohrkrepierer«, das 2015 erschienen ist. Dazwischen hat sie die auf zehn Bände angelegte Comicreihe »Die Unheimlichen« bei Carlsen herausgegeben, eine Serie mit illustrierten Gespenstergeschichten, zu denen sie selbst die Adaption der Berliner Zombiegeschichte »Den Nachfolgern im Nachtleben« von Sarah Khan beigetragen hat.
Nach fast achtjähriger Arbeit an »Die letzte Einstellung« liegt nun dieser lang erwartete Comic vor, der mit viel Liebe fürs Detail Kästners Biografie und die Geschichte über den letzten NS-Propagandafilm in einer packenden Erzählung zusammenführt. Ausgangspunkt dieser akribisch recherchierten Geschichte ist Hans-Christoph Blumenbergs Dokumentation »Das Leben geht weiter – Der letzte Film des Dritten Reiches«, die Kreitz vor Jahren in die Hände bekam. Zeitgleich habe sie bei der Arbeit an den Kästner-Comics viel Material gefunden, das sie mit der Geschichte zum letzten NS-Propagandafilm verbinden konnte. Kästner-Fans und Cineast:innen werden besonders viel Freude an diesem Band haben, es braucht aber keine vertieften Kenntnisse, um von dieser Geschichte eingenommen zu werden.
Comics von Isabel Kreitz






Der Comic beginnt mit einer Szene, die Hoffmanns Frau ihrem Gatten macht, weil der vom treffen mit einer Geliebten und einem Kind kommt. Warum Kreitz ausgerechnet diesen Einstieg gewählt hat, bleibt unklar, da die Konstellation im Comic abseits von vagen Anspielungen, in die man wiederum viel hineininterpretieren müsste, nicht weiter verfolgt oder aufgegriffen wird. Dabei erschweren allerdings visuelle Ähnlichkeiten der Frauenfiguren zuweilen die Zuordnung zu diesem Prolog.
Vorzugsausgabe mit signiertem Exlibris


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Kästners Rolle als Herzensbrecher spielt in der weiteren Erzählung nur eine untergeordnete Rolle. Ganz im Gegensatz zu Erika Harms, die von Kreitz als selbstbewusste Figur inszeniert wird. Angelehnt ist die Figur an Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle, deren Perspektive für Kreitz unvermeidlich war: »Als Frau kann ich es schlecht vermeiden, den weiblichen Standpunkt einzunehmen, gerade, wenn ich wieder auf ein so typisches Gespann aus Künstler und Muse stoße, wie bei Kästner und Enderle. In den Selbstzeugnissen Kästners spielt seine Lebensgefährtin Luiselotte Enderle nur eine untergeordnete Rolle, aus seinen Briefen an sie geht hervor, wie angespannt ihr Verhältnis bis zuletzt war. Da braucht es nicht viel Fantasie, die weibliche Hauptfigur zu animieren.«
Zweiter Auszug aus »Die letzte Einstellung«
Am stärksten ist der Comic, wenn er die großen Bilder sucht. Die Kinopremieren in den großen Sälen lassen an Orwell’sche Überwältigungsfantasien denken, die Straßen- und Freiluftszenerien sind bis ins kleinste Detail ausgeführt. Manchmal entgleiten ihr die Gesichtszüge bei ihren Figuren, meist bei Menschenansammlungen oder Gruppenbildern. Dann wirkt die Mimik zuweilen etwas maskanartig – vielleicht auch ein Ausdruck der Schockstarre der Zeit? Meist aber ist man überwältigt von den detaillierten Zeichnungen, bis in die Hintergründe hinein ist jeder Strich akkurat ausgeführt. Spurensucher haben hier sicher ihre Freude, Quellen, Bezüge und Verweise auszumachen. Und nicht zuletzt beherrscht Kreitz das Spiel mit Licht und Schatten – sowohl metaphorisch als auch zeichnerisch – in Perfektion.
Am Ende wendet sich der Comic vor allem der moralischen Frage zu ob es ein richtiges Leben im Falschen gibt. Diese Kernfrage, die sich vor allem jene im inneren Exil gestellt haben, treibt Heinz Hoffmann um. Insbesondere der Einsatz von hunderten Zwangsarbeitern bei den Dreharbeiten machen ihm zu schaffen. »In was für einem Zustand die Leute sind! Und ihr behandelt sie wie Vieh! Das ist gegen alle Moral…», wirft er Erika Harms vor. Da ist er aber längst schon selbst Teil des Propagandaapparats – ob er will oder nicht.