Der Roman »Vilnius Poker« gilt als wichtigstes litauisches Werk des 20. Jahrhunderts. In diesem Kult-Buch streift ein Bibliothekar durch die Stadt und kämpft mit seinen Dämonen. Ričardas Gavelis inszeniert die sowjetische Okkupation als paranoides Delirium, in dem Trauma, Lüge und Gewalt ebenso verhandelt werden wie Liebe, Sex und Literatur.
Es ist kein Zufall, dass dieser Roman kurz vor dem Fall der Mauer erschienen ist. Ričardas Gavelis versteckte das Manuskript lange Zeit vor den sowjetischen Behörden. Erst Glasnost und Perestroika ermutigten ihn, seinen Text dem Verleger von Vaga Publishers, Aleksandras Krasnovas, anzuvertrauen, verbunden mit der Auflage, bei einer Veröffentlichung keinerlei Änderungen – nicht einmal bei Rechtschreibfehlern – vorzunehmen. Nahezu eine Unmöglichkeit angesichts der staatlichen Zensur. Der voranschreitende Kollaps der Sowjetunion machte es aber doch möglich, dass Krasnovas den Roman an allen Behörden vorbei zur Veröffentlichung brachte. Im November 1989 ist »Vilnius Poker« in einer Auflage von 50.000 Stück erschienen und avancierte innerhalb weniger Wochen und Monate zum absoluten Bestseller. Sein Verfasser, der bis dato völlig unbekannte 39 Jahre alte Physiker und Mathematiker Ričardas Gavelis, war plötzlich in aller Munde. Sein ebenso revolutionärer wie fantasmagorischer Roman wurde als radikaler Kommentar zum Zusammenbruch des Ostblocks und dessen totalitärer Geschichtsvergessenheit gelesen.

Die Geschichte von Vytautas Vargalys, der bis 1950 als Freiheitskämpfer gegen die sowjetische Okkupation kämpfte, als Verräter vom sowjetischen Geheimdienst gefoltert und nach Sibirien deportiert wurde, um Jahren später als Versehrter zurückzukehren, nur um in Vilnius in den nächsten Albtraum zu stürzen, führt exemplarisch den Zynismus und die Unmenschlichkeit des realen Sozialismus eindrucksvoll vor Augen.
Am Beispiel dieses physisch gebrochenen, aber psychisch hellsichtigen Mannes, der als Bibliothekar in Vilnius arbeiten und seiner Kollegin Lolita verfallen wird, führt Gavelis auch aus, wie sich Misstrauen und Paranoia unter permanenter Überwachung, Bedrohung und Verfolgung in die Seele des Individuums fressen. Die skrupellose Macht des Kremls lauert in seiner Perspektive hinter jeder Ecke, der drückende Nebel der Desinformation lässt jede Wirklichkeit nur als eine mögliche von vielen Welten erscheinen. Mit Vargalys spazieren wir nicht nur durch die als »Nekropolis der Seele« umschriebene litauische Hauptstadt, »sondern auch durch die Straßen meiner Innenwelt«.
»Vilnius Poker« erzählt aus vier Perspektiven von der sowjetischen Besatzung Litauens. Neben Vargalys (Hell-)Sicht der Dinge wird die Geschichte auch von seinem Bibliothekskollegen Martynas Poška, seiner zeitweiligen Lebensgefährtin Stefanija und zuletzt durch die Brille eines im wahrsten Sinne des Wortes vor die Hunde gegangenen Gelehrten aus der Gründungszeit der Stadt erzählt.
Der durch Stadt, Geschichte und Gesellschaft mäandernde Bewusstseinsstrom des traumatisierten Bibliothekars bildet das Epizentrum dieses erschütternden Romans, der voller Grausamkeit und Poesie ist. Zurück aus dem Gulag wird Vargalys von Erinnerungen und Albträumen heimgesucht, die sein Leben unter der Kuratel des von »Leichenoid Breschnew« angeführten »Regierenden Altenheims« der Ostblock-Kommunisten prägen. Sie lenken aber auch seinen Blick, der einerseits die Welt der Duckmäuser, Mitläufer und Betäubten einfängt, sich andererseits aber auch den Subversiven, Oppositionellen und Glückssuchern zuwendet.
Egal wohin er blickt, überall regieren Angst und Gewalt, die einander gegenseitig gebären. Das Resultat ist eine Gesellschaft, in der »leere Blicke, farblose Augen, strohfarbenes Haar« vorherrschen. Daran erkennt er die »scheußlich auskanukten Kreaturen«, die willenlosen Bewohner in der »kastrierten Stadt«, in der »die litauischen Viertel und die jüdischen Viertel – die farbigen Städtchen in der Stadt« dem kommunistischen Einheitsgrau weichen mussten.
In diesen Beschreibungen der totalitären Gegenwart gibt es Parallelen zu »Europas Hunde«, dem meisterhaften Roman von Alhierd Bacharevič, der im März mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde. Dies liegt nicht nur in der politischen Ausrichtung des Romans, sondern auch an seiner literarischen Orientierung am Scheidepunkt zwischen Realismus und Fiktion. Bacharevič wie Gavelis haben Leopold Bloom, die Hauptfigur in James Joyce Dublin-Roman »Ulysses« zum Vorbild ihrer Hauptfigur gemacht. Und so wie »Europas Hunde« auch ein Minsk-Roman unter den Vorzeichen einer protofaschistischen Fremdherrschaft ist, ist »Vilnius Poker« eine Hommage an Litauens Hauptstadt unter russischer Okkupation.
Dieser tristen Welt kehrt der vom Lager traumatisierte Vytautas Vargalys den Rücken zu, als er sich der schönen Funktionärstochter Lolita Banytė-Žilienė, kurz Lolka, zuwendet. Der Name der deutlich jüngeren Bibliothekskollegin lässt schon Böses erahnen, auch Nabokovs gleichnamiger Roman führt ja bekanntermaßen in den – mindestens moralischen – Abgrund. Die junge Kollegin aus der Bibliothek ruft dunkle Erinnerungen in ihm hervor. Bald schon findet sich der tragische Held auf der Anklagebank wieder, wo zweifelhafte Aussagen die dünne Schicht zwischen Wahrheit und Fiktion perforieren.
Gavelis in kreisenden Reflexionen erzählter Roman zielt auf das Hässlichste im Menschen und macht daraus keinen Hehl. Von Anfang an führt er in eine düstere Welt, in der sich explizite Bordellszenen und hyperrealistische Lagerberichte, Schilderungen aus der Gosse oder aus der Pathologie zu einem Bild verdichten, in dem der Körper nichts als Gewalt und Unterdrückung kennt: »Vilnius Poker« ist ein ebenso störrischer wie verstörender Roman, in dem sich Szenen entfesselter und pornografischer Gewalt abwechseln mit den Schilderungen des halb paranoiden, halb verfolgten Vargalys, der hinter den Kulissen der Welt, durch die er sich bewegt, eine Verschwörung vermutet. »SIE waren es, die diesem Menschen die Seele ausgesaugt haben, die Kanuken haben ihn auskanukt. Er war früher einmal ein Mensch gewesen«, beschreibt Gavelis‘ Antiheld einen jungen Mann, der ihm im Bus gegenübersitzt und den er als Schwachsinnigen wahrnimmt.
Dieses SIE zielt auf eine demiurgische, zeitlose Verschwörung, die von den Erzengeln bis zu den Illuminaten reicht. »SIE zerstören niemals nur ein Buch oder einige Bücher, SIE verstehen genau, dass SIE sich so verraten, Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden. Wenn SIE eine Gefahr wittern, dann vernichten SIE massenhaft, SIE können eine Millionenstadt auslöschen wegen eines einzigen Menschen, der das Wesentliche begriffen hat. Dem Untergang von Atlantis und der Tragödie von Sodom und Gomorrha haftet bis in unsere Tage der Geruch IHRER Untaten an.«
Der literarische Kosmos von »Vilnius Poker«





Paranoide Schübe, schamlose Sexszenen und höhnische Alltagsbeschreibungen gehen in diesem Roman Hand in Hand und versinnbildlichen die aus der Geschichte gelöste Gegenwart unter der Okkupation. »Die Polenzeit« und »die Deutschenzeit« gehen direkt über in »die Russenherrschaft«, an »die litauische Zeit von 45 Vilnius kannst du dich nicht einmal erinnern, sie fließt nur mit der Neris, mit ihrem Wasser dreht und dreht sie sich immer im Kreis«, heißt es auf den ersten Seiten des Romans. Hier schon wird der mächtige Strudel in Gang gesetzt, mit dem die Sowjetunion die nationalen Wurzeln ihrer unterworfenen Satellitenstaaten verschlang. »Ganz Vilnius war am Verlöschen, am Dahinschwinden«, klagt Vargalys, »meine alte, heilige Stadt wurde von der übelsten Sorte russischer Lumpenproleten heimgesucht.«
Hier klingt der passend (t)rotzige Ton an, in den Claudia Sinnig diese Erzählung gebracht hat. Die Trägerin des Hieronymusrings 2023 konnte für die ebenso sprach- wie bildgewaltige Erstübersetzung dieses Romanungeheuers auf den Erfahrungsschatz ihrer facettenreichen Übertragungen aus dem Litauischen, Polnischen und Russischen zurückgreifen. Sie ist eine versierte Kennerin der litauischen Literatur, ihr Portfolio reicht von Tomas Venclovas Stadtporträt »Vilnius. Eine Stadt in Europa« über Antanas Škėmas biografische Geschichtsschreibung in »Apokalyptische Variationen« bis hin zu Eugenijus Ališankas Lyrik oder den historischen Streifzügen der litauischen Intellektuellen Irena Veisaitės. Die Vielseitigkeit, die in dieser Auswahl anklingt, schlägt sich in ihrer akustischen Übersetzung nieder.
Übersetzungen von Claudia Sinnig





Neben der Fixierung des Tons auf der lexikalischen Ebene zeichnet sich Sinnigs Übertragung insbesondere durch ihren Rhythmus aus. Der deutsche Text rollt und springt, kreischt und singt, dröhnt und klingt. Er ist ein sich ständig wandelnder Derwisch, dessen Irrwitz zur verlässlichen Konstante wird. Das erinnert nicht zufällig an die Anarchie des Freejazz, der hier auch motivisch eine zentrale Rolle spielt.
Vilnius war im Ostblock ein Zentrum des Jazz, das Ganelin-Trio erlangte in den Achtzigern über die Landesgrenzen hinaus Berühmtheit. Der Roman greift den Jazz auf und schafft damit eine der engsten Analogien zwischen der Welt, die der Roman heraufbeschwört, und der Welt, in der er entstand. Wenn es in »Vilnius Poker« heißt, dass Jazz »außerordentlich gefährlich für SIE« sei, weil SIE der Welt den Gedanken übergestülpt hätten, »dass Musizieren darin bestehen würde, auf dieselbe Weise dieselben Töne aus denselben Instrumenten herauszuholen«, dann ist das eine kaum zu überlesende Anspielung an die kommunistische Mono-TON-ie, die die Zensoren selbst der Musik verpasst haben.
Vyautas Vargalys besucht im Laufe des Romans immer wieder Untergrund-Konzerte, die über mehrere Seiten beschrieben werden. Auf einem dieser Gigs »in einer Kirche voller Abfall und Wein« (die es auch in eine Youtube-Dokumentation geschafft hat) wird für ihn ein Stück gespielt, das dem Roman nun seinen Titel gibt. Es ist ein kraftvoller Akt, der sich jeder Zuordnung entzieht, ein Fest der Anarchie. Er symbolisiert »die nicht seiende Musik unseres nicht seienden Lebens«, hält gebieterisch die Zeit an und trägt in andere Dimensionen.
So geht es einem auch beim Lesen dieses Romans, der einen von der ersten bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt. Wie Gavelis etwa die Lagererzählung mit dem Outlaw-Dasein in Litauens Hauptstadt verwebt, ist schlicht großartig. Vargalys innere Monologe kreisen dabei um existenzielle Fragen, die ausgelöst von seinen Beobachtungen und Assoziationen die politische Theorie und Praxis von der griechischen Antike bis zur erzählten Gegenwart umfassen.
Dazu kommen eine von Nabokov abgekupferte und ins Misogyne gewendete Lolita-Affäre (deren Brutalität vor dem Hintergrund von Vargalys Lagererfahrung eine Art innere Racheerzählung bildet), die Samisdat-Sub-Kultur im Ostblock und die Kulissenhaftigkeit der Wirklichkeit. In vier Teilen bringt der 2002 mit nur 52 Jahren verstorbene Ričardas Gavelis diese Themen in einen anspielungsreichen, magisch-realistischen Überwältigungstext, der in der osteuropäischen Literatur seinesgleichen sucht.
In Ričardas Gavelis Jahrhundert-Roman prallt die absolute Unmenschlichkeit des Lagers, wie sie Warlam Schalamow beschrieben hat, auf die wilde Anarchie, die man bei Thomas Pynchon, Roberto Bolaño oder Alan Moore findet, und die Welthaftigkeit eines James Joyce oder Franz Kafka. Die unerträgliche Zumutung des Seins in einem totalitären Regime wird hier in einen psychischen Höllenritt übersetzt, den niemand unbeschadet überstehen kann. Gavelis macht auf überwältigende Weise deutlich, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Die abgrundtiefe Dunkelheit, die von diesem Roman ausgeht, fließt aus der erzählten Vergangenheit bis in unsere Gegenwart.