Gesellschaft, Politik, Sachbuch

Verschissene Schlüsseljahre

© Thomas Hummitzsch

Mit Georg Diez und Michael Mazohl haben zwei Journalisten aus Deutschland und Österreich ähnliche Analysen über die Zusammenhänge der verdrängten Vergangenheit und der gruseligen Gegenwart geschrieben. In ihren Büchern rechnen sie mit den Fehlern der Achtziger und Neunziger Jahre ab.

Um die Gegenwart zu gestalten, müssen wir die Vergangenheit verstehen, schreibt Spiegel-Journalist Georg Diez in seinem neuen Buch »Kipppunkte«, in dem er Rückschlüsse aus den Versprechen der Neunziger auf die Krisen der Gegenwart trifft. In den Jahren nach der Wende seien aus Gründen konservativer Besitzstandswahrerei und neoliberaler Gier entscheidende Weichen nicht gestellt worden, so seine zentrale These.

Der Zeitraum der »Neunziger« beginnt für Diez allerdings nicht am 1. Januar 1990 oder am 9. November 1989, sondern bereits 1973 mit dem Ende des Bretton-Woods-Abkommens. »Alles, was wir heute über die Klimakatastrophe wissen, war damals schon klar. Alles, was Elon Musk und seine Oligarchenfreunde an digital-libertären Dystopien erschaffen, wurde damals vorbereitet. Alles, was westliche Hybris, demokratischen Verfall und die Übermacht der Märkte ausmacht, wurde damals diskutiert«, schreibt er in seinem Vorwort. Entsprechend weit reichen für ihn die Neunziger Jahre über die Milleniumsgrenze hinaus. Das Ende der Kipppunkt-Epoche setzt er im Jahr 2016, als Donald Trump zum ersten Mal zum Präsidenten der USA gewählt wurde.

Georg Diez: Kipppunkte. Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart. Aufbau Verlag 2025. 395 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen https://www.aufbau-verlage.de/aufbau/kipppunkte/978-3-351-04242-4
Georg Diez: Kipppunkte. Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart. Aufbau Verlag 2025. 395 Seiten. 26,- Euro. Hier bestellen.

Überaus zugänglich betrachtet Diez die vergebenen Chancen, um die deutsche, die europäische und die Weltgesellschaft besser auf die Herausforderungen der Gegenwart vorzubereiten. Als entscheidende Kipppunkte oder Kippmomente nennt er für Deutschland die Wiedervereinigung oder die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, für Europa die Balkankriege oder die Ostannäherung und für die globale Entwicklung den Oslo-Prozess im Nahen Osten oder die in Paris unterzeichnete NATO-Russland-Grundakte.

So wurde etwa im Wendeprozess versäumt, eine neue Verfassung zu schreiben, die die Gesellschaft jetzt weniger anfällig für Fragen der Identität machen würde. Deutschland sei 1990 bereits reif gewesen für Rot-Grün, schreibt Diez, Helmut Kohls CDU aber gewann dank der Stimmen aus der ehemaligen DDR. Die drängenden Fragen der Gestaltung der Zukunft in Fragen der Energieversorgung, Stichwort Klimawandel, seien acht weitere Jahre in konservativer Bräsigkeit ertränkt worden. Und auch anschließend habe sich die Besitzstandswahrung wie Mehltau über die Republik gelegt.

In Europa wiederum sei in den Neunzigern versäumt worden, eine Politik abseits wirtschaftlicher Interessen zu implementieren. Das feuere wiederum die gegenwärtige innere Krise der Europäischen Union, aber auch den Konflikt mit Russland an. Es war eine »verschissene Zeit«, wie Barbi Markovic in ihrem gleichnamigen Roman treffend auf den Punkt bringt, die vor allem für Krise und Kriege steht. Im Nahen Osten sei die Chance einer friedlichen Umgestaltung ausgeschlagen worden, während weltweit das Prinzip der Austerität als Kernelement der neoliberalen Marktwirtschaft etabliert worden sei.

»Etwas ging verloren im Denken über die Mechanik der Welt, etwas schrumpfte. Konflikte waren nicht mehr eingeplant, und wenn sie kamen, schienen wesentliche Teile von Politik und Medien überfordert. Eine Folge der versprochenen Entspannung war eine eruptive Anspannung«, schreibt Diez in seinem Buch über die Nuller Jahre, die noch ganz im Zeichen der Versprechen der Neunziger gestanden hätten.

Diez verbindet in seiner äußerst zugänglichen Analyse Aspekte von Wirtschaft, Politik, Technologie, Umwelt, Kultur und Wissenschaft, um atmosphärisch dicht aufzuzeigen, welches Gestaltungspotenzial in den von ihm definierten Neunzigern lag.

Das Problem liegt nicht in der inhaltlichen Analyse, sondern in dem Label, das der Buchtitel mit seiner Verknappung auf die Neunziger verpasst. Denn dass in über vier Jahrzehnten – auf diesen Zeitraum erstrecken sich für Diez die »Neunziger« – politische Fehlentscheidungen getroffen wurden, liegt ebenso in der Natur der Sache, wie die Tatsache, dass sich diese bis heute auswirken. Dennoch ist das Buch durchaus lesenswert, wenn man es als Angebot versteht, historische Fehlentwicklungen zu ihrer Wurzel zurückzuverfolgen und von dort neue Ideen zu entwerfen.

Ein ähnliches Angebot unterbreitet Michael Mazohl mit einem Schwerpunkt auf Österreich in seinem Buch »Die scheiß 80er-Jahre«. Der Österreicher studierte Digitale Kunst und entwickelte im Anschluss Arbeitnehmer-Kampagnen für Gewerkschaften und ander Institutionen. Außerdem leitete er das Magazin Arbeit&Wirtschaft, das wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische Themen aus Sicht von Arbeitnehmer:innen reflektiert.

In seinem Buch räumt er mit dem verklärten Jahrzehnt auf, in dem Falco zum Weltstar und Österreich mit Personen wie Bruno Kreisky oder Kurt Waldheim verbunden wurde. Mazohl zeichnet ein Jahrzehnt der »Freunderlwirtschaft, Korruption und ideologischer Machtkämpfe«, in dem – wie auch Diez betont – nicht nur der Neoliberalismus zur alles unterwandernden Wirtschaftsideologie aufstieg, sondern auch der Sozialstaat abgebaut und gesellschaftliche Spannungen verstärkt wurden. Dass ein Jörg Haider in diesem Jahrzehnt mit dem Wind der Neuen Deutschen Welle »im Sauseschritt« an die politische Spitze stürmte, ist vor diesem Hintergrund kein Wunder.

Michael Mazohl: Die scheiß 80er-Jahre. Wie uns das verklärte Jahrzehnt bis heute prägt. Kremayr & Scheriau 2025. 200 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen https://www.kremayr-scheriau.at/bucher-e-books/titel/die-scheiss-80er-jahre/
Michael Mazohl: Die scheiß 80er-Jahre. Wie uns das verklärte Jahrzehnt bis heute prägt. Kremayr & Scheriau 2025. 200 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Mazohls Buch ist eine lokale Abrechnung mit familienbiografischen Bezügen, die insbesondere für Österreicher:innen aufzeigt, »wie uns das verklärte Jahrzehnt bis heute politisch prägt«. Seine mit zahlreichen popkulturellen Verweisen gespickte Zeitreise durch die größten Fuckups der Achtziger macht deutlich, wie heute Mechanismen greifen, auf die schon damals gesetzt wurde.

Das Prinzip »Flood the world with shit« galt damals wie heute und hat – trotz einer radikal veränderten Medienlandschaft – immer noch denselben Effekt. Es wird berichtet und hält die destruktiven Kräfte im Diskurs. Und wenn doch mal nicht berichtet wird, dann übernehmen das die Propagandaplattformen der Rechtsextremen und Neoliberalen (er nennt hier etwa die »Agenda Austria« als »Hochburg des real existierenden Neoliberalismus in Österreich«), die mit Fake News und manipulativen Nachrichten über die Lügenpresse schimpfen.

Geog Diez und Michael Mazohl machen beide auf ihre Weise deutlich, wie politische Bequemlichkeit, intellektuelles Versagen und gesellschaftspolitische Nonchalance zu folgenschweren Entscheidungen und Entwicklungen geführt haben, die maßgeblich für die Krisen der Gegenwart sind. Vor allem zeigen sie mit unterschiedlichem Blickwinkel auf, wo das Vertrauen in (gesellschafts-)politische Entscheidungsprozesse erste Risse bekommen hat. Den skandalbehafteten Achtzigern in Österreich folgten die hasenfüßigen Neunziger in Deutschland, beide Länder sind seither deutlich nach rechts gerückt. Nicht daraus zu lernen wäre fatal. Diese beiden Bücher bieten eine fundierte Basis.

Ideen ermöglichen und beschleunigen Veränderungen, wenn die Zeit reif dafür ist, schreibt Georg Diez – »wenn die Krise den Status Quo unmöglich macht«. Gut möglich, dass dieser Kipppunkt bald erreicht ist.