Allgemein, Literatur, Roman

Überwältigendes Kopfkino

© Thomas Hummitzsch

Comic-Ikone Alan Moore schreibt die Geschichte eines Arbeiterviertels in Northampton zu einer vielstimmigen und verschachtelten Welt- und Geistesgeschichte um. Sein Roman »Jerusalem« ist politische Kampfschrift und sinnliche Komödie, Gegenwartsanalyse und Hirngespinst, ein fulminanter Geistertanz auf den Ruinen des Kapitalismus. Ein ebenso einschüchterndes wie überwältigendes Werk, das vor kreativer und geistiger Energie überschäumt.

Mick Warren ist noch ein Kleinkind, als das erste Mal der Tod nach ihm greift. Ein verschlucktes Hustenbonbon bildet die Grundlage einer Nahtoderfahrung, die ihn gut fünfzig Jahre später ankriechen wird, als er vom Schlag getroffen erneut über seine Existenz nachdenkt.

Alan Moore: Jerusalem. Aus dem Englischen von Hannes Riffel & Andreas Fliedner in Zusammenarbeit mit Alexander W. Müller & Ralf Gnosa. Carcosa Verlag 2024. 1.445 Seiten. 78 Euro. Hier bestellen https://carcosa-verlag.de/unsere-buecher/jerusalem/
Alan Moore: Jerusalem. Aus dem Englischen von Hannes Riffel & Andreas Fliedner in Zusammenarbeit mit Alexander W. Müller & Ralf Gnosa. Carcosa Verlag 2024. 1.445 Seiten. 78,- Euro. Hier bestellen.

Warren vegetiert in den Boroughs vor sich hin, einem auf den ersten Blick von Armut, Alkohol und Abschaum geprägten Arbeiterviertel von Northampton, das sowohl im vor- als auch im nachindustriellen Großbritannien ein Elendsviertel ist. Auf den zweiten Blick aber sind die Boroughs ein komplexes Gebilde aus Dimensionen, Geschichten, Erfahrungen und Beziehungen, die von Generation zu Generation weiterwachsen. Sie bilden den ebenso seidenen wie rote Faden für den Überwältigungs- und Imaginationsroman »Jerusalem«, an dem Moore fast zehn Jahre lang gearbeitet hat.

Alan Moore ist den meisten als Comicautor bekannt. Sein Werk umfasst Arbeiten wie das viktorianische Comic-Epos »From Hell« (mit Eddie Campbell), eine historisch fundierte und düstere Saga um die Morde von Jack the Ripper im London des 19. Jahrhunderts, Kult-Serien wie »Watchmen« (mit Dave Gibbons) und »The League of Extraordinary Gentlemen« (mit Kevin O’Neill) oder den Anarchisten-Comic »V wie Vendetta« (mit David Lloyd), in der er der Guy-Fawkes-Maske zu ihrer Berühmtheit verhalf. Ganz andere Wege ging er in seinem kunstvollen Erotikcomic »Lost Girls« (mit Melinda Gebbie-Moore), in dem drei Ikonen der Kinderliteratur in einer Art zeitlosen Wunderland ihr sexuelles Erwachen zelebrieren.

Die wichtigsten Comics von Alan Moore

In der Szene der Neunten Kunst genießt er Legendenstatus, Moore gilt als einer der einflussreichsten und innovativsten Erfinder von Comicgeschichten. Dabei hat er schon seit fast zwanzig Jahren keinen neuen Comic mehr geschrieben. Zum einen, weil er immer auf Zeichner angewiesen ist, die seine mit detaillierten Beschreibungen versehenen Geschichten in Bilder übersetzen, zum anderen, weil er von der Mainstream-Comic-Industrie gelangweilt ist. In den Nuller Jahren beschloss er daher, dorthin zurückzukehren, wo er hergekommen ist: zur Literatur.

Wenn Moore etwas macht, dann nur richtig, weshalb man seinen neuen Roman »Jerusalem« als das bezeichnen muss, was es ist: ein Ungetüm. Damit sind nicht nur die fast 1.500 eng bedruckten Seiten gemeint, auf denen sich die wild ausufernden Geschichten der Boroughs entfalten, sondern auch die Sprache, die Stilmittel, der Sound, die Gattungsvielfalt, die literarische Verspieltheit und nicht zuletzt die Vorstellungskraft, mit der Moore und seine deutschen Übersetzer diesem literarischen Leviathan Leben einhauchen.

Karte der Boroughs in Alan Moores »Jerusalem«
Karte der Boroughs in Alan Moores »Jerusalem«

Moore kennt die Boroughs aus dem Effeff, er ist ein Kind dieses Viertels. Das merkt man der Visualität und Griffigkeit dieses Überwältigungsromans an. Wann immer sich die Handlung räumlich entfaltet, verwandelt sich der Text im Kopf der Leser:innen in Bilder, so plastisch werden die Straßen, Gassen, Plätze und Hinterhöfe, die Häuser, Keller, Kneipen und Spelunken mitsamt Türen, Tresen und Stühlen beschrieben. Hier wandelt ein Erzähler durch vertrautes Terrain, Michael Warren und seine Schwester Alma sind irgendwie auch Stellvertreter ihres Schöpfers, was nicht heißt, dass dieser Roman irgendwelche autofiktionalen Bezüge aufweisen würde. Zumal sich Warren zuallererst selbst repräsentiert und dann uns alle als zwischen Leben und Tod pendelnde Wesen, die mit den realen und irrealen Aspekten des Daseins konfrontiert sind.

Als Warren ein halbes Jahrhundert nach dem Vorfall mit dem Hustenbonbon einen Arbeitsunfall hat, hebt es sein Bewusstsein aus den Angeln und er selbst gerät »aus der Spur«, wie es im Roman heißt. Durch einen Schlag auf den Kopf öffnet sich so im Jahr 2005 der Zugang zu den versperrten Erinnerungen seiner ersten Nahtoderfahrung in den 1960ern. Plötzlich gingen ihm »eine Vielzahl von beunruhigenden Gedanken durch den Kopf, merkwürdige Erinnerungen, die an die Oberfläche gewirbelt worden waren, als er bewusstlos gewesen war.« Fortan macht sich Michael Sorgen, dass er wie schon sein Ahne Ernest Vernall verrückt werden könnte.

Oben und Unten in den Boroughs

In Alan Moores Erzählung der Boroughs steht die Welt mehr als einmal auf dem Kopf.

Der Roman folgt nun seinen Epiphanien. »Jerusalem« ist also selbst nichts anderes als das Kopfkino seiner Hauptfigur, die wiederum ein herbeifantasierter Wiedergänger ihres Schöpfers ist. Die als Erinnerungen und Einbildungen getarnten Hirngespinste Warrens bilden für dessen Schwester Alma nicht nur die Grundlage einer Reihe von Gemälden, sondern dienen als Schlüssel zu verborgenen Kammern der menschlichen Existenz. Sie öffnen in der Matrix der erzählten Gegenwart die Portale zu anderen Zeiten, fernen Welten und unterdrückten Stimmen.

Heroinsüchtige Prostituierte, betrunkene Dichter, tote Kinder, düstere Engel, korrupte Politiker, religiöse Zeitwanderer, traurige Dämonen und Gespenster auf Todesmission geistern durch das metaphysische Weltgebäude der Boroughs, die Moore hier in ein multidimensionales und in sich verwinkeltes Universum an Geschichte und Geschichten, Geografie und Kosmologie, Mythologie und Mystizismus, Politik und Religion, Klassenkampf und Weltenbrand, Geistesblitz und Bildersturm gebracht hat. Das ist genauso größenwahnsinnig wie es klingt und nicht immer nur vergnüglich, aber selbst da, wo diese Erzählung an ihre Grenzen gerät, ist es unheimlich interessant, zu sehen, wie Moore selbst diese überwindet.

In einzelnen Vignetten greift er die Geschichten der Bewohner der Boroughs auf. Mit nur wenigen Kunstgriffen verschiebt er dabei Zeit und Raum, als würde er nur kurz am Kaleidoskop drehen, durch das wir als Lesende schauen. Dabei tauchen Figuren wie Oliver Cromwell, William Blake, Samuel Becket, James Joyce, Charlie Chaplin, Adam Smith und Margaret Thatcher auf, ganz nebenbei und doch permanent werden die Errungenschaften und Katastrophen der britischen Wirtschaftsgeschichte kommentiert. Dazu kommen Seitenhiebe auf die Idiotie der neuen Rechten und die Lethargie der Arbeiterklasse, Spinnereien von Geisterwelten und Engelszungen sowie funkensprühende Verschmelzungen historischer Fakten mit fantastischen Ideen. Samuel Hamen spricht von einem »All-yau-can-imagine-Verfahren«, ein Begriff, der mir für Moores sprudelnde Fabulierkunst recht passend scheint.

Moore spielt wild mit den Möglichkeiten der Literatur, indem er sich frei assoziierend bei Vorläufern bedient. In der Struktur von »Jerusalem« klingt die »Göttliche Komödie« an, man kann in diesem Roman auch die säkularisierte Antwort auf Dantes Höllenritt lesen. Das mittlere Buch ist komplett im Stile eines Jugendromans verfasst und konzentriert sich auf die Familiengeschichte der Warrens beziehungsweise Vernalls. In einem Kapitel rechnet Moore mit den Reagonomics ab, »dem mystischen, monetaristischen Dumpfbackenkack, der Voodoo-Wirtschaftslehre, an die Ronald Reagan glaubte und diese bürgerliche Idiotin Margaret Thatcher«, ein anderes hat er zu einer mitreißenden Burroughs-Pastiche ohne Punkt und Komma geklöppelt. Wieder andere sind wie ein Bühnenstück von Shakespeare verfasst oder ahmen das semantisch überschriebene Sprechtheater eines James Joyce nach.

Originalausgabe als Hardcover und Taschenbuch

Alan Moore: Jerusalem. Knockabout Comics 2016. 1.250 Seiten.Alan Moore: Jerusalem. Knockabout Comics 2016. 1.250 Seiten.
Alan Moore: Jerusalem. Knockabout Comics 2016. 1.250 Seiten.

Überhaupt wandert Moore immer mal über die Joyce-Brücke. »Jerusalem« verlässt über die gesamten 1.500 Seiten die Boroughs nicht, was »Ulysses«-Leser:innen an die Dublin-Erkundung am Bloomsday erinnern dürfte. Hier wie da finden sich spielerische Verweise zur lokalen Arbeiter- und Gegenkultur, für die Moore in seinem Roman dann beispielsweise die Tänzerin Lucia Joyce heranzieht. Dabei handelt es sich um »die Tochter des berühmteren James, deren fragiler Geisteszustand erstmals offenbar geworden war, während sie als Chefassistentin ihres Vaters an dessen unlesbarem Meisterwerk „Finnegans Wake“, das damals noch den Titel „Work in Progress“ trug, mitarbeitete.« »Work in Progress« lautet wiederum der Titel des ersten Kapitels, was nicht einfach nur ein Zitat, sondern auch formulierter Anspruch ist. Und der will sich wiederum nicht so hundertprozentig vom Bild trennen, weshalb Almas Gemälde, die im letzten Kapitel als Vernissage den Roman beschließen, die Titel der vorangegangenen Kapitel tragen.

Hier bietet es sich an, einige Worte zur Übersetzung zu verlieren. Allein die Tatsache, dass dieser auf und mit allen bedeutungstragenden Ebenen spielende Überwältigungsroman knapp zehn Jahre nach seinem Erscheinen (2016) in einer deutschen Fassung vorliegt, ist zweifellos eine Leistung. Verlagsgründer Hannes Riffel (ehemaliger Lektor bei Klett-Cotta und S. Fischer) und H.P.Lovecraft-Übersetzer Andreas Fliedner haben hier den Großteil dieser Mammutarbeit geleistet. Die Bücher I und III haben sie kapitelweise im Wechsel übertragen, Buch II sowie Vor- und Nachspiel hat Riffel im Alleingang übersetzt.

Seitenauszüge aus der deutschen Ausgabe

Gemeinsam haben die beiden Übersetzer einen Sound entwickelt, der bei aller Varianz zu den einzelnen Erzählungen in sich konsistent und glaubhaft ist. Dabei ist nicht jede Übersetzungsentscheidung überzeugend, aber angesichts des schieren Volumens sieht man es Riffel und Fliedner nach, wenn ein Gefäß »halbgefüllt« statt »halbvoll« oder von »schmierigem Messing« statt von »verschmiertem Messing« die Rede ist.

Das Problem der Redundanz im Ausgangstext können sie ohnehin nicht beheben. Der geniale Comicautor Alan Moore ist leider nur ein halbgenialer Romancier, weil er hier nicht durch Sprechblasen oder grafische Vorgaben zur Zurückhaltung gezwungen wird. Schon im Original wiederholen sich Motive und Bilder innerhalb der Absätze füllenden Satzketten, die Übersetzung greift das konsequent auf. Sicherlich, es geht um den Exzess, aber auch der braucht eine Form, die überzeugt. Das ist in »Jerusalem« nicht immer der Fall, was aber am Original und nicht an der Übertragung liegt. 

Für besondere Herausforderungen haben sich Riffel und Fliedner weitere Unterstützung ins Team geholt. Der Literaturwissenschaftler Ralf Gnosa hat ein in Reimen erzähltes Kapitel in deutsche Verse gebracht, Fantasy- und SciFi-Experte Alexander »Molosovsky« Müller hat das Joyce-Kapitel »Neben der Spur« übersetzt. Insbesondere dieses Kapitel hinterlässt einen ambivalenten Eindruck, viele Über- und Verschreibungen scheinen Wortspielereien um ihrer selbst willen, während es Joyce in »Finnegans Wake« um das Erschließen auf semantischen Mehrwert legte.

Hierzu ein kurzer Exkurs zu Ulrich Blumenbach, der seit geraumer Zeit an seiner Version einer deutschen Fassung von »Finnegans Wake« sitzt. In der vorletzten Ausgabe von »Schreibheft. Zeitschrift für Literatur« sprach er mit Erhard Schüttelpelz über seine Arbeit. Gleich zu Beginn räumt er ein, dass dieses Werk unübersetzbar sei, wenn Übersetzen bedeutet, dass alle Sinnschichten des Originals bewahrt bleiben können. Es gebe aber »fruchtbare Formen des Scheiterns«, so Blumenbach, die einer strukturäquivalenten »Nacherschaffung oder einfach Veranschaulichung von Joyces Techniken« entspreche.

Die Übersetzer haben mit diesem Werk eine geradezu gottgleiche Mission

»Meiner Meinung nach ist schon viel gewonnen, wenn ich ansatzweise vermitteln kann, wie die Prosa durch Wortneuschöpfungen, Überblendungen, Mehr- und Quersprachigkeit, Teekesselchen, Stabreime, Gleichklänge und Abweichungen von den orthographischen Konventionen zu einer Vieldeutigkeit aufgeladen wird, bei deren Lektüre eine anarchische Assoziationsmaschinerie auf Touren kommt, die Bedeutungen herauskitzelt, die der Autor gemeint haben kann, aber nicht muss. Ich möchte zur Sinnfektion anstiften. Und ich möchte zeigen, was für ein unglaublich komisches, sinnlich-erotisches und musikalisches Buch das ist.«

Ulrich Blumenbach, Schreibheft 1012

Zur Sinnfektion anstiften und fruchtbar Scheitern ist ein Maßstab, den man auch für das Joyce-Kapitel in Moores Überwältigungsroman ansetzen kann. Es gilt, in der Übersetzung das umzusetzen, was über dem Kapitel steht: man muss Mut haben, neben der Spur zu übersetzen, allerdings ohne die Spur aus dem Auge zu verlieren. Denn wie soll man Bedeutungen erschließen, wenn das eigene Sprachverständnis »aus dem Gleis gesprungen« (Blumenbach) ist? Dies gilt es, sich immer vor Augen zu halten. Leichter gesagt, als getan.

Achtet man darauf, fallen einem Scheinlösungen ins Auge. Die Sprache fährt dort ganz unproduktiv vor die Wand. Etwa wenn der deutsche Text aus einer »Lichtquelle« eine »Pflichtschwelle« macht, aus einem »berühmten Schriftsteller« ein »peerühmter Schrufftstaller« wird oder die »Unbekümmertheit« als »Krummbetrümmerkleid« entstellt wird.

Norbert Wehr (Hrsg.): Schreibheft 102. Rigodon Verlag 2024. 171 Seiten. Hier bestellen https://schreibheft.de/archiv/schreibheft-102
Norbert Wehr (Hrsg.): Schreibheft 102. Rigodon Verlag 2024. 171 Seiten. Hier bestellen.

Es gibt aber auch Fälle, die an der Grenze zur Genialität wandeln, bei genauer Betrachtung dann aber doch schwächeln. Wenn »Sanatorien« in »Schahmatorien« überführt werden, will man schon jubeln, aber das h in diesem verspielten Neologismus ver-h-gelt einem die ungetrübte Freude. Denn sowohl die vermutete Scham, die in solchen Instituten herrscht, als auch die möglicherweise gemeinten Schamanen, in deren Rolle Ärzte springen, werden ohne h geschrieben.

Kofferworte wie »Schmärzte« oder »Müdi­ka­men­ten« sind wiederum ganz uneingeschränkt großartig, weil sie den Schmerz an die Ärzte binden und die ermüdende Wirkung an die Medikamente. Und wenn die »Heilanstalt« zur »Heulunstillt« wird, in der das Heulen ungestillt bleibt, will man Nachsicht walten lassen mit all dem, was vielleicht nicht so ganz gelungen ist, weil man bei Müllers Ver- und Überschreibungen doch immer wieder unvermutet neue Bedeutungsebenen entdecken kann.

Mögliche Referenz-Romane

Dass dieser Überwältigungsroman nun in einer deutschen Fassung vorliegt, ist dem erst 2023 gegründeten Carcosa-Verlag zu verdanken, der sich der »anspruchsvollen, progressiven Literatur mit fantastischem Einschlag« verpflichtet hat. Neben Moores Romanungetüm findet man im Programm etwa Erstübersetzungen von Ursula K. Le Guins hoffungsvollem Zukunftsroman »Immer nach Hause« oder eine Werkausgabe der US-amerikanischen Feministin Joanna Russ.

»Jerusalem« legt der Verlag allen »Leser:innen von James Joyce, Roberto Bolaño und David Foster Wallace« ans Herz und stellt ihn so an die Seite anderer exzessiver Werke, die sich einer klaren Zuordnung entziehen. Man könnte hier auch Stefano d’Arrigos »Horcynus Orca«, Joshua Cohens »Witz« oder Thomas Pynchons »Die Enden der Parabel« nennen. Zweifellos gehört Moores zwischen irdischen und überirdischen Welten changierender Roman in diese Kategorie. Am meisten aber ähnelt diese in drei Büchern verfasste Geschichte dem Kampf von Gut gegen Böse, wie ihn J.R.R. Tolkien in seiner Mittelerde-Saga »Herr der Ringe« beschrieben hat, deren kaleidoskopische Struktur Dante Alighieris Höllenkreise aufgreift.

Gut und Böse ist dabei eng mit der Ohnmacht der Arbeiterklasse und der Allmacht der Wirtschaftselite verbunden. Im Kern – sofern man einen Kern in diesem ständig sich überschlagenden Universum ausmachen will – ist »Jerusalem« eine Außenseitergeschichte, die vom Leben am Rand der britischen Gesellschaft erzählt. Die von Klasse, Armut und Niedergang, von vergebener Hoffnung und mutigem Aufbegehren handelt und einen Zeitraum von der beginnenden Industrialisierung bis zur postindustriellen Gegenwart in den Blick nimmt. »Jerusalem« erzählt vom sinnlosen Verschleiß der Vielen für den Reichtum der Wenigen in den »Knochenmühlen« der Großindustrie und der Dienstleistungsgesellschaft.

In dem Sinne ist dieser Roman eine ebenso geistreiche wie grenzüberschreitende Erkundung der »satanischen Spinnereien«, von denen William Blake in seinem Gedicht »Jerusalem« schreibt, in dem er eine Hymne auf ein zukünftiges England singt: »Und ward Jerusalem erbaut, | Wo Leid aus Satans Mühlen quillt?«, heißt es da. Und weiter: »Bringt mir den Bogen, golderglüht: | Bringt Sehnsuchtpfeile mir zur Wehr; | Bringt mir den Speer: O Wolken flieht! | Den Feuerwagen bringt mir her!«

Impressionen der deutschen Ausgabe

  • © Thomas Hummitzsch
  • © Thomas Hummitzsch
  • © Thomas Hummitzsch

Dieser Feuerwagen ist in Moores Opus Magnum ein »schwebender Mahlstrom« im metaphysischen Zentrum der Boroughs, der sogenannten Menschenseele, in der eine Bande verstorbener Mädchen ihr Unwesen treiben. »Das ist so was wie der Geist des großen Schornsteins, den’s hier unten früher gab«, erklärt die Anführerin dieser »Todtoten«. »Da haben sie den ganzen Müll von Northampton verbrannt. In der dreiseitigen Welt ist die Anlage schon vor siebzig Jahren abgerissen worden, aber hier unten in der Gespensterwelt konnte niemand das Feuer löschen. Seither brennt es unentwegt, und es wird immer größer. Wenn du meinst, es sieht schlimm aus und riecht furchtbar, dann solltest du’s mal aus dem Obergeschoss sehen. Bei uns heißt es „der Destruktor“.«

Dieser Höllenmaschine ist die Destruktion eingeschrieben. Umhüllt von einer schwarzen Wolke ist diese ewig rauchende Müllverbrennungsanlage die teuflische Mühle, von der Blake spricht. Ein Unort, an dem alle Vernichtung ihren Anfang und nie ein Ende nimmt. Was aus den Sterblichen wird, die mit dem Destruktor in Berührung kommen, bleibt unklar, »auch wenn man keine Intelligenzbestie sein musste, um zu dem Schluss zu gelangen, dass er bestimmt niemandem guttat.« Und blickt man aber auf das Schicksal der Toten in jenem satanischen Mahlstrom, ahnt man, was den Lebenden droht. Sie werden »verbrannt und dann in Stücke gerissen, von seinen Wirbelströmen zu Atomen pulverisiert, die Überreste in den unerbittlichen Onyxstrudel hineingesogen. Soweit irgendjemand wusste, waren die Essenzen dieser Unglücklichen in dem entsetzlichen, unaufhörlichen Kreisen womöglich noch immer am Leben und bei Bewusstsein.«

Dantes Fegefeuer ist bei Moore ein Weltenbrand, der Destruktor im Herzen der Boroughs eine ruinöse (Denk-)Fabrik der Dunkelheit. Diese »satanische Spinnerei« verkörpert im Kosmos von »Jerusalem« all die zerstörerischen Kräfte der Liberalisierung, die die Vereinzelung der Menschen vorantreiben und das soziale Miteinander unterwandern. In ihren Hochöfen geht mit den Bettlern, Arbeitern und Prostituierten, den Dichtern, Künstlern und Politikern, mit den Obdach-, Geist- und Körperlosen auch die ganze Idee eines solidarischen Miteinanders in Flammen auf. »Es war vielmehr die reine und furchtbare Poesie des Feuers, das Moral, Vertrauen und menschliches Glück in Brand setzte, das die fragilen Fäden, welche die Menschen miteinander verbanden, in Asche verwandelte. Dieses Feuer war in der Lage, Anstand, Selbstachtung und Liebe zu verbrennen« und die Welt mehr und mehr ins Dunkel zu ziehen.

»Moore lädt uns ein, den Destruktor als die buchstäbliche Verkörperung einer verheerend realen – und apokalyptisch giftigen – Weltsicht zu betrachten, die toxische soziale, politische und wirtschaftliche Beziehungen aufrechterhält«, schreibt die LA Reviews of Books in einer klugen wirtschaftspolitischen Analyse des Romans.

So ist »Jerusalem« ein geradezu sozialpolitisches Erzählprojekt, in dem sich das Revolutionäre der linken Geistesgeschichte spiegelt. Die Ausbeutung des Proletariats an den Feuern des Kapitalismus ist dabei nur ein Aspekt dieser hässlichen Welt, die der Frauen unter den Lenden des Patriarchats oder der BIPOCs unter den Prügeln des Kolonialismus bilden weitere.

Im letzten Kapitel »Sehet doch nach dieser Verfluchten…« beschreibt Moore die Vergewaltigung der Schwarzen Prostituierten Marla: Er stellt ihrer brutalen Misshandlung die Beschreibungen anderer Ausbeutungserzählungen gegenüber und lenkt so den Blick von der individuellen Ausbeutung hin zur globalen. Das ist ethisch schwierig, auch in einem literarischen Text. Und doch macht er da einen Punkt, wenn im Namen des Neoliberalismus der Planet, die Gesellschaft, das Individuum und seine geistige Freiheit gefickt werden. Die Geschichte der Welt ist eine Geschichte des Missbrauchs.

Alan Moore und sein vielseitiges Werk

  • © Thomas Hummitzsch
  • © Thomas Hummitzsch
  • © Thomas Hummitzsch
  • © Thomas Hummitzsch

Oder um es mit Peachum aus Bertolt Brechts »Dreigroschenoper« zu sagen: »Natürlich hab ich leider recht, die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht. Wir wären gut – anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.« Vor dem Hintergrund der Verhältnisse kann man die vielen Kneipen- und Gossenszenen in dieser vieldimensionalen Weltgeschichte aus den Boroughs als eine übergreifende Metapher für den Missstand lesen, dass man gar nicht so viel fressen und saufen kann, wie man angesichts der Verhältnisse kotzen müsste.

Doch damit setzt Moore nicht den finalen Punkt. Vielmehr muss man noch einmal zu Blake zurück und dessen Traum für ein künftiges England: »Zum Geisteskampf bin ich bereit, | Nicht schläft das Schwert in meiner Hand: | Bis wir erbaut Jerusalem | Auf Englands grün & trautem Land.«

Dieser widerständige Gigant schwingt sich aus der finstersten Dunkelheit hinauf in himmlische Höhen. Moores in Literatur gegossener Geisteskampf ist ein scharfes Schwert, das nicht nur die neoliberale Erfolgsstory, sondern auch das herkömmliche Erzählen grandios in Stücke haut. »Jerusalem« ist ein fulminanter Geistertanz auf den Ruinen des Kapitalismus. Ein besseres Antidot zu Trumps Musk-elspielen wird man kaum finden.