Davi Kopenawa ist einer der bekanntesten indigenen Aktivisten der Welt, mit dem Anthropologen Bruce Albert hat er jahrelang seine Ansichten geteilt. Ihr Gesprächsband »Der Sturz des Himmels« ist ein ebenso aufrüttelnder wie perspektivverändernder Weckruf.
»Ich bin kein Ältester und ich weiß nicht viel. Dennoch ließ ich meine Worte, damit sie weit entfernt von unserem Wald gehört werden können, in der Sprache der Weißen aufzeichnen. Vielleicht werden sie diese Worte nun endlich verstehen, und nach ihnen ihre Kinder, und später die Kinder ihrer Kinder. Dann werden ihre Ansichten über uns nicht mehr so düster und verdreht sein, und vielleicht verlieren sie am Ende sogar den Willen, uns zu zerstören.«
Schon in dieser Aussage des Schamanen Davi Kopenawa klingt an, dass man es hier mit einem ungewöhnlichen Text zu tun hat, der seine Dringlichkeit nicht verbirgt. Beim »Sturz des Himmels« handelt es sich nicht um eine typische (An)Klage, wie man sie oft in den postkolonialen Debatten wahrnimmt, sondern eher um das Konstatieren eines Missverständnisses, dass das Verhältnis der westlichen Moderne zur Existenz indigener Völker bis heute prägt. Dass es anders sein könnte, kommt in dem Wörtchen »endlich« zum Ausdruck, würden »die Weißen« nur endlich einmal zuhören und verstehen.

Eine einmalige Gelegenheit, den Worten eines der bekanntesten indigenen Aktivisten der Welt zu folgen, bietet dieser nicht nur in seinem Umfang, sondern auch in seiner Sprache überwältigende Gesprächsband. Schon dessen Entstehungsgeschichte zeigt, welch Ereignis allein dessen Existenz ist. Jahrzehntelang hat der französische Anthropologe indigene Völker im Amazonasgebiet aufgesucht und ist dabei immer wieder Kopenawa begegnet. Dabei ist nicht nur ein gemeinsames Engagement für die Rechte der Indigenen entstanden, sondern auch eine vertrauensvolle Freundschaft, die die kulturellen, weltanschaulichen und sprachlichen Barrieren überbrückt. Sie ist der Quell dieses fast eintausend Seiten zählenden Werkes, das Autobiografie, Menschheitserzählung, politischer Appell und literarisches Denkmal in einem ist.
Davi Kopenawa ist tief in den Wäldern des brasilianischen Nordens geboren. Weiße Christen, Viehzüchter und Goldsucher (»Metallesser«) sind in die Region eingefallen und haben zahlreiche Krankheiten eingeschleppt. Große Teile von Kopenawas Familie sind infolge ums Leben gekommen. Kaum erwachsen, begann er selbst, sich für die Anliegen seines Volkes zu engagieren. Der fast Siebzigjährige arbeitete viele Jahre für die brasilianische Indigenen-Behörde, sprach vor internationalen Organisationen und in New York vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, bevor er sich in seinem Heimatdorf niederließ und Schamane wurde. Die Erfahrungen, die er in seinem fast siebzigjährigen Leben gemacht hat, bilden die Grundlage dieses Buches (und eines gleichnamigen französischen Dokumentarfilms), die in Zusammenarbeit mit Bruce Albert entstanden sind.
»Der Sturz des Himmels« ist ein gleichermaßen literarisches wie politisches Projekt, in dem Fragen des Kolonialismus und der globalen Gerechtigkeit ebenso eine Rolle spielen wie die Zerstörung der Welt durch Maßlosigkeit und Raubbau. In Anlehnung an Claude Lévi-Strauss‘ anthropologischen Reisebericht »Traurige Tropen« könnte man diesen geistreichen Lebensbericht auch unter den Titel »Traurigen Regenwald« stellen. Darin geht es um das Miteinander der Menschen in einer Welt, zu der die Menschen der Moderne den Bezug verloren haben. Es geht um Gedächtnis und Geschichte, um Zuhören und Verstehen, um den Geist des Waldes und den Kosmos, der sich über der Welt aufspannt. Die Perspektiven, die der Schamane des Yamomani-Volkes dabei aufzeigt, eröffnen nicht nur Einblicke in eine völlig andere Welt und Denkweise, sondern öffnen die Augen für unsere eigene, selbstvergessene Lebensweise.
Das ist auch auf die bemerkenswerte Übersetzung von Karin Uttendörfer und Tim Trzaskalik zurückzuführen, zu der auch ein äußerst lesenswertes Toledo-Journal vorliegt. Unter der vielsagenden Überschrift »Die Übersetzung einer Übersetzung einer Übersetzung« machen sie die vielseitige Übertragung transparent, denn »Alle am Buch Beteiligten übersetzen!« Davi Kopenawa hat für seine Gespräche mit Bruce Albert die Sprache der Yamomani in sein selbst erworbenes brasilianisches Portugiesisch übersetzt. Albert wiederum hat seine Eindrücke und Aufzeichnungen in einen französischen Text gebracht, der die Vorlage für diese deutsche Übersetzung darstellt. »Folglich übersetzen wir als deutsche Übersetzer:innen die übersetzende Neuschreibung einer Transkription einer Übersetzung«, heißt es da.
Schon aufgrund dieser dreifachen Überschreibung von Denken und Sprechen wäre es ungewöhnlich, wenn sich »Der Sturz des Himmels« als gewöhnlicher Text vor den Leser:innen entfaltete. Während der dreijährigen Arbeit an der Übersetzung sei es immer wieder um den Versuch gegangen, zu verstehen, was in der besonderen Sprache Kopenawas gesagt wird, was impliziert wird und wie sie gemacht ist. Uttendörfer und Trzaskalik wollten »lesend Bruce Albert und dem Werden des Textes folgen, in dieses Werden eintreten und dabei anders werden; und je mehr wir anders / zu Anderen werden, desto besser lesen, desto besser verstehen wir«.
Darin wird schon deutlich, wie universell der Einfluss von Sprache auf den Blick auf die Welt und die Verhältnisse, die uns umgeben, ist. Denn wenn es für Dinge kein Konzept gibt, fehlt auch eine Sprache und folglich ein Verständnis dafür. Seine Autorität als Schamane geht auf eine besondere Redetechnik namens Kãomari zurück, die »den Worten unserer Ermahnungen ihre Stärke« gibt. Kãomari »lehrt unsere Kehle, gut zu reden. Es lässt die Worte eines nach dem anderen aus ihr hervorkommen, ohne dass sie sich verhedderten oder ihre Kraft verlören.«
Wer dafür aber kein Gehör hat, weil ihm die Sprache fehlt, dem fehlt auch das Empfinden für die Bedeutung solcher Worte. Vielleicht ein Grund, warum Kopenawas Interventionen gegenüber Vertreter:innen westlicher Gesellschaften bislang verhallt sind. Er selbst formuliert das natürlich nicht als Vorwurf, sondern als Begrenzung seines eigenen Vermögens. »Ich kann nicht wie die Weißen sprechen! Sobald ich versuche, sie nachzuahmen, entgleiten mir die Worte oder sie verdrehen sich, selbst wenn mein Denken gerade bleibt! Meine Zunge wäre nicht so verknotet, wenn ich zu meinen eigenen Leuten sprechen würde.«
Diese Knoten muss eine Übersetzung bestmöglich lösen. Bruce Albert und infolge Karin Uttendörfer und Tim Trzaskalik gelingt das in beeindruckender Weise, indem sie für die ungewöhnlichen Worte des Yamomani-Schamanen unkonventionellen Lösungen (er)finden. Der Fernseher wird hier zum »Gesangsbaum«, U-Bahnen sind »große Regenwürmer« und Manhattan eine »Gruppe von Steinbergen, in der die Weißen aufeinandergeschichtet leben.«


Erhellend sind vor allem die konzeptuellen Herangehensweisen, denen man in den Worten von Davi Kopenawa begegnet. So spricht der Schamane immer wieder vom »geraden Denken« seines Volkes, dem die Idee zugrunde liegt, dass sich die Gedanken der Yamomani »in alle Richtungen« entfalten können. Dem steht das Denken des sogenannten zivilisierten Westens gegenüber, das »kurz und dunkel« ist und »sich nicht ausdehnen und erheben« könne, weil wir den Tod nicht wahrhaben wollten. Blickt man auf die Tatenlosigkeit angesichts des fortschreitenden Klimawandels und der allgegenwärtigen Umweltzerstörung versteht man sofort, wovon Kopenawa spricht. Angetrieben würde all das von der Gier der Weißen, die Waren wie Verlobte betrachten würden. »Ihr Denken ist derart an sie gebunden, dass sie, wenn sie sie beschädigen, während sie noch neu sind, vor Wut sogar weinen müssen. Sie sind wirklich in Waren verliebt.« Es sind solch erhellenden Perspektiven, die dieses Buch so lesenswert machen.
Die Transferleistung dieser Übersetzung ist in Worten kaum zu messen. Stünde der Internationale Literaturpreis vom Haus der Kulturen der Welt diesem sich jeder Gattungszuordnung entziehendem Werk offen gegenüber, gäbe es wohl kaum ein besseres Preisträger-Buch. Zum Einen wird wohl kaum mehr Weltkultur in einem Werk zu finden sein. Und zum Anderen würden sowohl Bruce Albert als Erstübersetzer (und Autor) sowie Karin Uttendörfer und Tim Trzaskalik (als deutschsprachige Übersetzer:innen) ausgezeichnet.
Zugegebenermaßen enthält der Text viele Redundanzen, die sich aus dem gesprochenen Wort ergeben. Das hätte man alles kürzen können, aber dann wäre Davi Kopenawa in all seiner Ruhe und Ausgeglichenheit nicht mehr erkennbar. So bekommt man ein Eindruck dieses Mannes, der Zeit seines Lebens für die Anliegen seiner Menschen kämpft und darauf setzt, dass steter Tropfen den Stein höhlt. »Der Sturz des Himmels« ein überaus ernster und ernst zu nehmender Appell, unser Weltsicht und Lebensweise auf den Prüfstand zu stellen. Mit klarem Blick und innerer Ruhe seziert Davi Kopenawa über Bruce Albert in den Worten von Karin Uttendörfer und Tim Trzaskalik das »Lügendenken«, in dem wir uns eingerichtet haben, um unser Leben auf Kosten von Schwächeren unverändert weiterzuführen. Dieses Buch ist nicht weniger als ein Vermächtnis, ein literarischer und politischer Solitär.