Literatur, Roman

Niemandsland Kitchike

Kitchike könnte ein ganz normaler Ort sein, ist es aber nicht. Denn die Wahrheit ist in dem Kaff ebenso wenig zu finden wie die Gerechtigkeit. Gerüchte, Erzählungen und Mythen halten die Menschen in dieser Stadt zusammen. Misswirtschaft, Neid und Streit treiben sie auseinander. Louis-Karl Picard-Siouis Roman »Stories aus Kitchike – Der große Absturz« erzählt eindrucksvoll davon.

»Kitchike hats drauf, alles kaputtzumachen, was gut und schön ist.« Was für ein vernichtendes Urteil für den Dreh- und Angelpunkt des kanadischen Reservats, in dem die Angehörigen der »Ersten Nationen der nordamerikanischen Großen Schildkröte« leben. Einem guten Dutzend von ihnen hört man in Louis-Karl Picard-Siouis schmalem, aber nichts desto trotz großen Roman »Stories aus Kitchike – Der große Absturz« zu.

Da ist beispielsweise Jean-Paul Paul Jean-Pierre, ein in die Jahre gekommener Handwerker, der in Kitchike geboren ist. »Ein eingeborener autochthoner indigener nordamerikanischer Indianer«, wie es heißt, der im Laufe der Zeit den Anschluss verloren hat. Seine Frau hat ihn verlassen, seine Kinder kommen nur noch selten und bei welcher Telefongesellschaft er eigentlich gerade seine Rechnung begleichen muss, weiß er auch nicht mehr. Ihm ist das Leben über den Kopf gewachsen, die schwarzen Löcher, die er überall sieht, symbolisieren seine Überforderung. Er hatte schlicht kapituliert, heißt es an einer Stelle, »weil etwas aufzugeben leichter war, als sich um die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen zu kümmern.«

Ein anderer ist der alte Roméo, ein naturverbundener Traditionalist, der sich lieber hinter den Rändern von Kitchike aufhält als in der Stadt. Den es verwirrt, dass die seinen die Katastermentalität der weißen Kolonialisten übernommen haben und alles vermessen, statt sich in die Wälder zu begeben, wo ihre Wurzeln sind. Das ist aber nur ein Grund, warum er den Reservatschef Saint-Ours – den Heiligen Bären – genauso wenig mochte wie dessen Vorgänger, seinen Vater. Das verbindet ihn mit Piere Wabush, einem Draufgänger und Möchtegern-Frauenheld, der von der Familiendynastie an der Spitze des Reservats die Nase voll hat und den Kids in diesem »Niemandsland« namens Kitchike eine Chance geben will.

Louis-Karl Picard-Sioui: Stories aus Kitchike – Der große Absturz. Aus dem Französischen (Québec) von Sonja Finck und Frank Heibert. Secession Verlag für Literatur 2020. 184 Seiten. 20,50 Euro. Hier bestellen.

Aus vielen Stimmen setzt sich das Panorama dieser Stadt zusammen, die ebenso gewöhnlich wie ungewöhnlich ist. Alte Rechnungen und neue Schulden, weltanschauliche Differenzen und persönliche Loyalitäten, Liebesschwüre und Animositäten, Sucht, Gier und Wehmut sind die Treiber der Geschehnisse, die die »Stories aus Kitchike«, so der Untertitel dieses Buches, zusammenhalten. Die Gerüchteküche bei »Chez Alphonse« – einer Mischung aus Tankstelle und Bar, die von Madame Paul geführt wird – brodelt gewaltig, man muss nur das Ohr auf die Theke legen, um von den Freund- und Feindschaften in der fiktiven Reservatshauptstadt zu hören.

Louis-Karl Picard-Sioui ist Anthropologe und Schriftsteller, mit »Kwahiatonhk!« hat er eine Organisation zur Förderung französischsprachiger indigener Literatur gegründet, die Autor:innen wie Naomi Fontaine, Michel Jean, Joséphine Bacon, Virginia Pésémapéo Bordeleau oder die Comiczeichnerin Diane Obomsawin unterstützt. Sein 2017 im französischen original erschienener Roman, dessen Übersetzung von Sonja Finck und Frank Heibert für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nominiert ist, ist keineswegs ein Gründungsdokument, in seiner mehrdimensionalen Annäherung an indigene Normalität aber durchaus als ein solches zu lesen. Wollte man Vergleiche ziehen, dann läge der zu Tommy Oranges Roman »Dort, Dort« nahe, ein Gegenwartsroman, der anhand der Ereignisse rund um ein Powwow – ein inszeniertes Traditionsfest, bei dem Rituale aufgeführt werden – indigene Wirklichkeit wiedergibt.

Sonja Finck und Frank Heibert haben den Figuren ganz individuelle Stimmen gegeben. Allein das ist eine bemerkenswerte Leistung, gleiten andere Übersetzungen an der Stelle doch oftmals in einen angenommenen Einheitston, um die – hier indigene – Minderheiten-Markierung deutlich zu machen. Dazu kommt, dass sie konstant die Binnenperspektive der First Nations wahren, sei es auf sprachlicher oder motivischer Ebene, weshalb man diesen als Gesamtkunstwerk aufgemachten Roman wie einen authentischen Bericht aus dem Reservat liest.

Das beginnt schon bei der Selbstbezeichnung der indigenen Bevölkerung, die Sonja Fink und Frank Heibert – zwei absolut erfahrene und anerkannte Literaturübersetzer:innen – vor einige Herausforderungen gestellt hat, wie sie in ihrem Nachwort zeigen. Auf sprachlicher (und übersetzerischer) Ebene wird diese Innenperspektive fortgesetzt, etwa wenn die religiösen Vertreter als »Mann des Kreises« und »Mann des Kreuzes« bezeichnet werden. Oder auf erzählerischer Ebene, wenn die Perspektivlosigkeit der indigenen Bevölkerung anhand der Vernichtung des natürlichen Lebensraumes von einem kleinen Jungen beschrieben wird: »Mama sagt, gibt nichts mehr zu jagen in Kitchike. Weiße haben Wald weggemacht, für Kühe für Burger.« Oder der Einbruch der Moderne die Entwurzelung einer ganzen Generation vorantreibt: »Die Jugend, hypnotisiert von den Lichtern der Stadt, kehrte der Natur mehr und mehr den Rücken.«

Dieser Blick von innen spiegelt sich auch in der Perspektive auf die Eroberung und Unterwerfung der indigenen Kulturen durch weiße Kolonialisten. Wie sich dabei »französischsprachige indigene Literatur« von anderer indigener Literatur wie etwa der von Tommy Orange unterscheidet, wir deutlich, wenn man Passagen wie die folgende in den Blick nimmt, die zudem auch belegt, wie treffsicher Picard-Sioui Bilder zu schaffen vermag: »Wir kamen nicht in den Genuss von britischen Nummern, wir wurden ja schon von den Franzosen rangenommen. Vierhundert Jahre später steckt uns immer noch deren Baguette im Hals und die Anglos dürfen uns auch noch ficken. Das sind wir: Kitchike, die MILF der ältesten kolonialen Gruppenvergewaltigung auf Erden.«

Wie in dieser mehrfach traumatisierten Lebensgemeinschaft die einen an den Verletzungen und Entbehrungen zugrunde gehen, während sich die anderen an den Verheißungen der Unterwerfung bereichern, wie dies die Menschen auseinander und neu zusammentreibt, wie die einen ewig den Arsch hinhalten, während die anderen sich zu den Vergewaltigern gesellen, davon handelt dieser (auch buchgestalterisch, wie das Titelbild des Beitrags zeigt) bemerkenswert schöne Roman.

3 Kommentare

  1. […] ist. Wenn etwa Tommy Orange seinen Roman »Dort, Dort« in der Sprache der Cheyenne oder Louis-Karl Picard-Sioui seine Erzählung »Der Große Absturz« in der Sprache seines »Wolfsclans der Wendake« verfasst hätte, wären diese umwerfenden und […]

Kommentare sind geschlossen.