Literatur, Roman

Das »Aleph« im Bolañoversum

Mit »Die Nöte des wahren Polizisten« ist ein weiteres Werk posthum aus dem Archivo Bolaño ans Tageslicht befördert worden. Viele unterstellen dem Roman einen allzu fragmentarischen Charakter und sprechen vom Ausbeuten eines Gesamtwerks. Womöglich aber bildet der Roman die Essenz eines Grenzen sprengenden Gesamtwerks.

Was ist über den hinterlassenen Roman Die Nöte des wahren Polizisten des 2003 verstorbenen chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño nicht schon alles geschrieben und gesagt worden? Die Süddeutsche Zeitung, die schon im Mai 2011 von der Trouvaille im wenig geordneten Nachlass schrieb, wies darauf hin, dass die Teile oft »unvereinbar und provisorisch« wirkten, die taz schreibt von einem »unvollendeten, fragmentarischen« Roman und die FAZ sprach jüngst von »recyceltem Material« und einem »versandenden Werk«. Zwar finden sich neben diesen verheerenden Einschätzungen in nahezu allen Kritiken auch im Grundsatz lobende Worten. Der Eindruck aber bleibt: Hier wird das Werk eines ganz großen bis zur Unerträglichkeit ausgebeutet. Lohnt es sich, dieses Spätwerk, an dem Bolaño nachweislich bis zu seinem Tod gearbeitet hat, überhaupt zur Hand zu nehmen? Oder muss nach dem die globale Bolañophilie auslösenden Welterfolg von 2666 nicht ohnehin jedes weitere Schriftstück aus der Feder des Chilenen daran kranken, diesen dort geleisteten gargantuesken Irrsinn nicht wiederholen zu können? Ein Ergründungsversuch.

Die Nöte des wahren Polizisten erzählt die Geschichte von Oscar Amalfitano, chilenischer Professor für elisabethanische Prosa und Literaturübersetzer, Witwer und Vater einer 16-jährigen Tochter (Rosa Amalfitano), Vielreisender und Späthomosexueller. Die Geschichte beginnt in Barcelona – vermutlich Ende der 1980er Jahre, wie der Kapiteltitel »Der Fall der Berliner Mauer« vermuten lässt, der ansonsten keinerlei Rolle spielt –, wo Amalfitano an der Universität lehrt und eine leidenschaftliche Affäre mit seinem Studenten Joan Padilla führt. Padilla, der sich ansonsten munter durch die Kommilitonenschaft fickt, liebt es, Literatur in homosexuelle und heterosexuelle Gattungen einzuteilen. Demnach stellen Romane natürlich die Heten unter den geschriebenen Wörtern dar, während Prosa in unterschiedlichem Maße homosexuell ist (was Bolaño seinen Erzähler wunderbar umfassend und eingängig demonstrieren lässt). Als herauskommt, dass der Professor mit seinem Studenten ein Verhältnis hat, verliert dieser seine Anstellung und flieht vor möglichen Gerüchten und anderen Unannehmlichkeiten nach Santa Teresa, Mexiko.

In diesem Alter Loco der Ciudad Juarez lässt sich Amalfitano mit einem professionellen Kunstfälscher namens Castillo ein, der sich auf Larry-River-Tableaus spezialisiert hat, die er derart frei kopiert, »dass die Authentizität dieser Leinwände vielleicht darin bestand, dass sie nicht genau wie die von Larry Rivers aussahen und gerade dadurch paradoxerweise als Originale durchgehen konnten.« An der Universität Santa Teresa, die in ihrem miserablen Ruf nur durch wenige andere unterboten wird, versucht Amalfitano einen unauffälligen Alltag zu finden. Seiner bislang bibliophilen Tochter gesteht er eines Tages seine spät entdeckte Faszination an anderen Männern, woraufhin sich diese von ihm und der Literatur ab und der Videokunst zuwendet.

Amalfitano und Padilla schreiben sich fortan immer wieder Briefe, die im Laufe des Romans immer wieder eingestreut werden. In diesen Briefen erfahren wir, dass Padilla weiterhin zahlreiche Affären pflegt, sein Studium aufgibt, als Lektor und Übersetzer für einen kleinen Verlag arbeitet, sich mit der sektiererischen Gruppe der »Barbarischen Literaten« um einen gewissen Raoul Delorme auseinandersetzt und beginnt, einen (heterosexuellen) Roman mit dem Titel »Der Gott der Homosexuellen« zu schreiben und außerdem eine Art geschwisterliche Liebe mit einer jungen Frau pflegt. Irgendwann gesteht Padilla seinem ehemaligen Amant, dass er an Aids erkrankt ist (was der aufgeweckte Leser dem vielversprechenden Titel seines Romanprojekts schon hätte entnehmen können) und bringt diesen wiederum dazu, sich in Mexiko zu untersuchen.

Am Rande dieses Briefwechsels geht es auch immer wieder um den französischen Schriftsteller Arcimboldi, dessen Werk – auch dank einiger alter Übersetzungen eines gewissen Oscar Amalfitano – in Spanien wiederdeckt wird. Ein ganzes Kapitel widmet Bolaño den elf Romanen, zwei Theaterstücken, zwei Gedichtbänden, den Essays und Übersetzungen des Romanciers, der »französisch bis in die Arschritze« ist und in seiner Freizeit gern talentlos dem Klavierspiel und der Zauberei nachgeht. Mit Inhaltsangaben und Motivationserkundungen stellt Bolaños Erzähler diese Werke vor, ohne dass dies an der Oberfläche der Erzählung zu einem wesentlichen Mehrwert führt.

Im letzten Kapitel des Buches geht es um die atmosphärische Schilderung des Bezirks Sonora, in dem Santa Teresa – Bolaños Version der mexikanischen Ciudad Juarez – liegt. Über diesem Bezirk, der dem Bolaño-Leser als Tatort von über einhundert Frauenmorden aus 2666 bekannt ist, liegt der Schatten der Geschichte, wie der Chilene an einer fortgesetzten Vergewaltigungsgeschichte der Frauen einer Familie deutlich macht. Diese beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts und lässt sich in dem Roman bis in die wilden Jahre der internationalen linken Studentenbewegung verfolgen. Jeweils im zarten Alter von 16 Jahren werden die stets alleinstehenden Frauen dieses Stammbaums, die im Wechsel María Expósito und María Expósito Expósito heißen, Opfer eines sexuellen Übergriffs, der sie schwanger und die schwängernden Männer mit einem Fluch zurücklässt, der über kurz oder lang zum Tod der Täter führt. Über Santa Teresa schwebt aber auch das Unheil der Gegenwart, wie die Frauenmorde, die hier nur leicht angedeutet, in 2666 aber einen 350-seitigen Ausflug in die Welt des Meuchelns und Mordens einnehmen, deutlich machen.

Parallel dazu wird die windige Aufstiegsgeschichte der Zwillingsbrüder Pablo und Pedro Negrete erzählt, die gemeinsam die Karriereleiter in Santa Teresa hinaufsteigen – der eine im Polizeidienst und der andere an der Universität, an der Amalfitano eine Anstellung finden wird. Nach der Begegnung mit dem Literaturprofessor ereilt den Unirektor Pablo Negrete eine Vision, in der Amalfitano als apokalyptischer Reiter durch Santa Teresa zieht und eine Spur des Todes hinterlässt, woraufhin dieser den Chilenen von seinem Polizistenbruder – ohne Resultate – überwachen lässt. Ein Schelm wer dabei denkt, dass Pablo Negrete in Amalfitano den »Gott der Homosexuellen« gesehen hat, von dem dessen ehemaliger Geliebter Padilla schreibt.

In dem knappen Nachwort der Witwe des Chilenen erfährt der geneigte Leser, dass Roberto Bolaño die Arbeit an diesem Roman Anfang der 1980er Jahre begonnen und bis zu seinem Tod immer wieder fortgesetzt hat. Etwa 300 Seiten umfasst das auf verschiedene Dateien und Mappen verteilte Konvolut, das nun in dieser (re-)konstruierten Fassung vorliegt. Ein Witz, angesichts der fast 40.000 Manuskript-Seiten, die Roberto Bolaño in den etwa 15 Jahren seines literarischen Schaffens angefertigt hat. Aber einer, der es in sich hat. Denn Die Nöte des wahren Polizisten ist so etwas wie eine Keimzelle der großen und kleinen Epen des Chilenen.

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All jenen, denen Bolaños Werk nicht vertraut ist, sei an dieser Stelle der Hinweis gegeben, dass der Chilene ganz offensichtlich zu keinem Zeitpunkt an nur einem Buch, aber permanent nur an einem Werk gearbeitet hat. Die Faszination der Hinterlassenschaft dieses Autors macht aus, dass der Erzählstrom der einzelnen Werke über die sie einschließenden Buchdeckel hinausgeht. Über Namen, Personen, Orte, Situationen, Themen und Motive bilden sich unzählige Brücken zwischen den Romanen und Erzählungen Bolaños, die den Leser ständig verführen wollen, über sie in ein anderes Werk und eine andere Geschichte hinüber zu gehen.

In dem Fragmentroman ist man permanent geneigt, zu Die wilden Detektive, Bolaños größtem Romanerfolg zu Lebzeiten, zu greifen. In der Literaturgruppe der »Barbarischen Literaten« ist unschwer eine indirekte Anspielung an diese wilden Literaten und die avantgardistischen »Viszerealisten« zu erkennen, die den Entwurf einer Gegenbewegung zu Raoul Delormes intellektueller Faschistensekte darstellen, die auch in Bolaños romanesker Erzählung Stern der Ferne keine unwesentliche Rolle spielt. Darin sendet sein Erzähler letzte Grüße vom »Planeten der Monster«, dessen intellektuellen Hintergrund der Chilene in Die Naziliteratur in Amerika entblättert hat, dem Roman, mit dem Bolaño 1996 schlagartig Berühmtheit erlangte, bevor er zwei Jahre später mit den Die wilden Detektive den bedeutendsten Literaturpreis für lateinamerikanische Literatur, den Premio Rómulo Gallegos sowie den Premio Herralde erhielt.

Das Personal, das Bolaño in dem vorliegenden »Keimzellenroman« auftreten lässt, kennt der Bolaño-Fan vor allem aus dessen posthum erschienen Werk 2666, in dem er die Kontinuität der faschistischen Gewalt vom Dritten Reich über die Diktaturen auf dem »Planeten der Monster« namens Südamerika bis hin in die Gegenwart an der mexikanisch-amerikanischen Grenze fortschreibt. Der hier als französischer Romancier auftretende Arcimboldi ist noch als verschollener Nachkriegsautor Benno von Archimboldi (mit h) alias Hans Reiter, seines Zeichens Wehrmachtssoldat, in Erinnerung. Ein chilenischer Professor namens Oscar Amalfitano und seine Tochter Rosa tauchen auch schon in 2666 auf. Allerdings ist er hier von seiner geisteskranken Frau verlassen, bangt ständig um seine Tochter Rosa – ein Aspekt, der in Die Nöte des wahren Polizisten kaum eine Rolle spielt – und hilft als Archimboldi-Experte drei Archimboldianern auf der Suche nach dem verschollenen Autor. Und wie schon in 2666 versteckt sich das Alter Ego des Autoren hier nicht in der Figur des Arturo Belano, einer der beiden Hauptfiguren in Die Wilden Detektive, der auch in dem Roman Amuleto vorkommt – in dem übrigens wiederum auf die Zahl 2666 verwiesen wird –, sondern in Oscar Amalfitano, dem vom Leben durch die Welt geschubsten Literaturprofessor.

Dieses durch die Werke des Chilenen wandernde Personal ist es, das den Leser unablässig in Bolaños erzählerischen Kosmos hineinzieht. Der US-amerikanische Literaturkritiker James Wood schrieb in seinem überaus lesenswerten Buch Die Kunst des Erzählens über die ebenso wirklichen wie unwirklichen Figuren im postmodernen Roman, dass sie vom Leser verlangen, sie wirklich werden zu lassen. »Ich weiß, die Figuren sind nur fiktiv – ihr habt es mir immer wieder gesagt, aber ich kann sie nur kennen, wenn ich sie wie wirkliche behandle.« Bolaños Helden sind genau solche Figuren. Indem er sie immer wieder auf die Bühnen seiner Werke schickt, werden sie real.

Eine der Romanfiguren des französischen Avantgardisten Arcimboldi, der angehende Schriftsteller Jean Marchand (wer weiß, in welchem Bolaño-Roman dieser noch so herumspukt), träumt davon, dass sein Manuskript zu dem Roman Der Bibliothekar (übrigens  in Anlehnung an das gleichnamige Kunstwerk des Renaissancemalers Giuseppe Arcimboldo, der als Namens- und Ideengeber der Komposition als Pate für zahlreiche Bolaño-Werke gelten darf von all seinen abgelehnten Manuskripten in einer »magischen Nacht« begattet wird: »Sie sodomisieren es, vergewaltigen es oral und genital, kommen in seinem Haar, in seinem Hals, in seinen Ohren, unter seinen Achseln etc., aber als der Morgen anbricht, ist sein Manuskript nicht geschwängert, es ist unfruchtbar.« Das komplette Gegenteil geschieht in Bolaños Werk. Hier findet ein permanentes werkimmanentes und -inhärentes Befruchten und Gebären statt. Zuweilen kann dieses Begatten in eine magische Orgie ausarten, in dem sich zu den Werken Bolaños auch die der griechischen und römischen Klassik, des europäischen Mittelalters und Romantik, der deutschen Philosophie, der französischen Realisten und der lateinamerikanischen Moderne gesellen.

Ein weiteres Charakteristikum ist das immerwährende Brodeln des Historischen im Untergrund des Bolañoversums. Es ist nur ein dünner, wenngleich sprachgewaltiger erzählerischer Firniss, der die Leinwand der Geschichte von dem vor ihr stehenden Leser trennt. Stets schwingt in den Romanen Bolaños die Geschichte des Nationalsozialismus, der rechtskonservativen Diktaturen Südamerikas, der Drogenkrieg, die gegenwärtige Alltagsgewalt und ihr exemplifizierter Zenit in der mexikanischen Ciudad Juarez sowie der unaufhörliche Kampf des linken Intellektualismus und das Aufbegehren der Literatur gegen diese Zu- und Umstände mit. Mal führt Bolaño diese tragische Geschichte explizit vor, mal verbirgt sie sich Unheil drohend in literarischen Anspielungen oder werkverweisenden Begegnungen. Wie der Samen des Springkrauts liegt sie dann in einer Kapsel, die man nur zu streifen braucht, dass sie aufspringt und sich in ihrer alles ergreifenden Dimension entfaltet.

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Roberto Bolaño: Die Nöte des wahren Polizisten. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser-Verlag 2013. 269 Seiten. 21,90 Euro. Hier bestellen

Die Faszination der Bolaño-Lektüre besteht zum Großteil in dem werkübergreifenden Charakter dieser Literatur, diesem im Borges’schen Sinne »Aleph«-haften Schreibstil, in dem in jedem Einzelnen auch immer zugleich das Ganze enthalten ist. Dies ist auch in diesem Roman der Fall. Womöglich ist er gar das Konzentrat dessen, was wir als das Universum des Roberto Bolaño bereits kennen, indem er das Beste und zugleich das Bedauernswerteste, nämlich die unvermeidbare Unabgeschlossenheit der Dinge, dieses Jahrhundertwerks vereint.

Die Lektüre eines solchen ganzheitlichen Werks muss – und hier besteht wohl die größte Chuzpe in der selbstgefälligen Interpretation dieses Romans als unvollendetes Fragment – immanent lückenhaft, unvollständig und rätselhaft bleiben. Der über sich selbst hinausweisende Anspruch eines jeden Bolaño-Werks besteht darin, die mal mehr, mal weniger verborgenen Brücken zum verbleibenden Rest-Werk aufzuspüren und diesen nachzugehen, sich einzulassen auf diesen ständigen Parallelkosmos, der sich jenseits der beiden Buchdeckel befindet, die man als Leser in der Hand hält. Der Leser ist also der »wahre Polizist«, der die Aufgabe hat, die Augen offenzuhalten. Hier gibt es, allen Vorarbeiten von Literaturkritikern und fanatischen Bolaño-Lesern zum Trotz, noch unendlich viel zu tun. Auch Die Nöte des wahren Polizisten bietet hier ausreichend Anlass.

Diese ins positiv gewendete Lesart führt unweigerlich zu der Frage, ob sich das Werk des Chilenen, der angesichts seiner im Gesamtwerk allgegenwärtig bewiesenen tiefen Kenntnis der europäischen, amerikanischen und südamerikanischen Literatur zweifellos als einer der wenigen Weltliteraten gelten muss, einer Kritik dann nicht grundsätzlich entzieht, wenn nicht einmal das Fragmentarische zum Ansatz einer Problematisierung dieser Literatur herangezogen werden soll. Zugegeben, es fällt, zumal den Bolaño-Anhängern schwer, diese unter die Haut gehende Literatur, die es wie kaum eine zweite vermag, das Schicksal ihrer Helden mit dem der Geschichte und dem der Literatur zu vereinen, auseinanderzupflücken, um das Haar in der Suppe zu suchen. Und wer das Markenzeichen dieses Schreibens zu seiner Schwachstelle umdeuten will, der kann dies zweifelsohne tun. Bolaños Werk neigt zum Spalten der Gemüter. Ohnehin krankt die Reflektion jedes weiteren Bolaño-Titels an dem Anspruch, den Werke wie Die wilden Detektive und 2666 gesetzt haben.

Was man davon abgesehen aber durchaus kritisieren kann, wenn nicht gar muss, ist das einer Leichenfledderei gleichende Ausbeuten des Archivo Bolaño. Dabei geht es nicht um eine Kritik des Umstands, dass dieses Archiv nach weiteren unveröffentlichten Werken durchsucht wird. Das kann dem Fan nur recht sein, weil es dazu beiträgt, die werkübergreifende Lektüre zu erweitern und zu vervollständigen. Aber dies muss im Sinne des Autoren sowie wissenschaftlich korrekt und nachvollziehbar erfolgen. Und genau daran muss man hier Zweifel haben. In dem zweiseitigen Nachwort der Bolaño-Witwe Carolina López erfahren wir zwar, dass es mehrere Fassungen auf Bolaños Computer sowie ausgedruckt bzw. handschriftlich, abgelegt in verschiedenen Kladden, gab. Man liest auch von unterschiedlichen Seitenzahlen und mehrere Kapitelaufteilungen, bleibt aber mit zahlreichen Fragen zurück: Wie kam es denn zu der vorliegenden Romanfassung in fünf und nicht etwa in acht Kapiteln? Warum umfasst der Roman hier nur 254 Seiten und nicht, wie es eine mit der Schreibmaschine transkribierte Fassung nahelegen würde, 283 Seiten? Was ist aus dem 26 Seiten umfassenden Kapitel »Pancho Monje« geworden? Sind es die Seiten, die fehlen? Oder ist es im letzten Sonora-Kapitel aufgegangen, wo man von jenem Pancho Monje lesen kann. Und wenn ja, warum hat man das gemacht, zumal doch vier auf dem Schreibtisch von Bolaño aufgefundene Mappen eine andere Reihenfolge nahegelegt hätten. Es sind diese Fragen, die am Ende schwer im Magen und über der Lektüre dieses Romans liegen.

Sie machen aber auch deutlich, dass eine wissenschaftliche Edition des Werkes von Roberto Bolaño, auch gern in der anspruchsvollen Neuübersetzung von Christian Hansen – hier würde etwa noch neben dem Prosawerk eine neue Übersetzung von Die wilden Detektive nachgeliefert werden müssen – längst überfällig ist, um dieses epochale Werk nicht den Verkaufsstrategien der Literaturagentur zu überlassen, an die Carolina López das Archiv übergeben hat. Der Hanser-Verlag, bei dem die Hardcover-Ausgaben von Bolaños Werk erscheinen, würde sich für eine solche editierte Werkausgabe in deutscher Übersetzung durchaus anbieten. Denn bei den Klassiker-Ausgaben beweist das Münchener Traditionshaus immer wieder aufs Neue, dass es den schmalen Grat zwischen dem Bewahren eines Erbes und dem Berücksichtigen neuer Erkenntnisse zu beschreiten in der Lage ist.

Dem forschenden Leser und Bolaño-Fan sei darüber hinaus empfohlen, das überaus geschwätzige Vorwort von Juan Antonio Masoliver Ródenas zu ignorieren, da der Literaturkritiker darin zahlreiche Geheimnisse und Werkquerverweise, die es der Geschichte erst zu entlocken gilt, vorwegnimmt. Wer diese selbst entdecken will, der überblättere diese überflüssige Eloge.

Der französische Avantgardeliterat Arcimboldi ist hier, übrigens wie auch Benno von Archimboldi in 2666 spurlos verschwunden. »Ob das Verschwinden von Arcimboldi mit den Barbarischen Literaten im Zusammenhang steht?«, fragt sich Oscar Amalfitano, nachdem einige Informationen in einem Brief von Padilla dies nahelegen. »Er wusste es nicht, würde aber weitere Erkundigungen einziehen«, schließt das entsprechende Kapitel. Und mit ihm der Leser. Die Antwort befindet sich wahrscheinlich irgendwo in den unendlichen Weiten des Bolañoversums.

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