Comic

Orwellsche Bilderwelten

Orwell-Fans, die gerne Comics lesen, müssen sich nicht mit den Illustrationen des Berliners Reinhard Kleist begnügen. Um George Orwell und seine Visionen bilderreich zu erobern, haben sie die Wahl zwischen vier Roman-Adaptionen und einer fulminanten Comicbiografie.

Siebzig Jahre nach seinem Tod ist George Orwells Werk gemeinfrei. Die Literaturverlage hat das veranlasst, seine berühmtesten Werke in zahlreichen Neuübersetzungen aufzulegen, so dass man 2021 als Orwell-Jahr bezeichnen könnte. Auf den Erfolgszug sind auch einige Comicverlage aufgesprungen.

Jean-Christophe Derrien, Rémi Torregrossa: 1984. Nach George Orwell. Aus dem Französischen von Anja Kootz. Knesebeck Verlag 2021. 128 Seiten. 22,00 Euro. Hier bestellen

Der Knesebeck-Verlag, bei dem vor zwei Jahren die absolut empfehlenswerte Comic-Biografie »George Orwell« von Pierre Christin und Sébastian Verdier erschienen ist (weiter unten), hat eine der beiden »1984«-Adaption aufgelegt, die in diesem Frühjahr erscheinen. Die Übertragung der beiden Franzosen Jean-Christophe Derrien und Rémi Torregrossa ist allerdings enttäuschend. Für das Szenario hat Derrien den Roman zum Steinbruch gemacht, Torregrossas zeichnerische Umsetzung ist zu glatt und hasenfüßig. Die aneinandergereihten Versatzstücke des Textes bleiben ohne Wirkung, die braven Illustrationen schaffen kaum Atmosphäre. Dazu kommen inhaltliche Unstimmigkeiten, etwa wie Winston in den Besitz von Goldsteins Buch kommt oder wenn die sprachliche Umwälzung durch Neusprech mit den Bücherverbrennungen aus »Fahrenheit 451« verglichen wird. Bradburys Antiutopie ist jedoch erst vier Jahre nach »1984« erschienen, kann also kaum Teil von Orwells Gedankengebäude gewesen sein.

George Orwell, Sybille Titeux de la Croix, Amazing Ameziane: 1984. Übersetzt von Harald Sachse. Splitter Verlag 2021. 216 Seiten. 29,80 Euro. Hier bestellen

Wie man künstlerische Freiheit besser nutzt, zeigt die Adaption des französischen Duos Sybille Titeux de la Croix und Ameziane. Zwar ist das für Mai im Splitter-Verlag angekündigte Album sehr textlastig, aber Illustrator Amazing Ameziane gelingt es mit seinen ausdrucksstarken Zeichnungen, das Unbehagen, das eine:n beim Lesen des Romans ankriecht, auf Papier zu bringen. Er taucht seine Seiten in verschiedene Farben, ist stilistisch mutiger, wechselt immer wieder den Rhythmus und so auch gekonnt zwischen den Ebenen des Romans. Vor allem orientieren sich seine Zeichnungen deutlich stärker an dem, was Orwells bilderreiche Sprache evoziert. Die postapokalyptische Kälte Ozeaniens liegt als blau-grüner Schimmer über den Seiten, das allgegenwärtige Misstrauen in dieser Krisengesellschaft ist den grimmigen Gesichtern eingeschrieben und der unstete Rhythmus der Zeichnungen gibt der Ungewissheit des Daseins in der ozeanischen Diktatur Gestalt.

Odyr Bernardi: Die Farm der Tiere – Die Graphic Novel. Übersetzt von n.n. Panini Verlag 2021. 176 Seiten. 25,00 Euro. Hier bestellen

Nur wenige Tage vor diesem Album erscheint bei Panini zudem eine Adaption von Orwells »Farm der Tiere«, die aus der Feder des brasilianischen Comiczeichners und Malers Odyr Bernardi stammt. In kräftigen, expressiven Strichen lässt er die Geschichte vom Aufstand der Tiere aufleben. Breite Pinselstriche, simple Zeichnungen und abstrakte Hintergründe prägen machen die Bilderwelt dieses Albums aus. Stilistisch bewegen sich Odyrs Zeichnungen eher Richtung Malerei, ordnen sich zwischen Expressionismus und naiver Malerei ein. Eine klare Panelstruktur gibt es in dem Comic nicht, die Zeichnungen liegen auf dem weißen Papier, mal liefern die Zeichnungen postkartengleich eine Kontur, mal stehen sie wie freigestellt im weißen Raum. So erinnert dieser Comic mal an ein Kinderbuch, als das er sich sicher auch eignet, dann wieder an eine klassische Bildergeschichte, deren Zeichnungen passend zur fantastischen Erzählung zwar simpel ausfallen, aber genug Inspiration bieten, um dem Geschehen Leben einzuhauchen.

Pierre Christin, Sébastien Verdier: George Orwell. Die Comic-Biografie. Aus dem Französischen von Anja Kootz. Knesebeck Verlag 2019. 152 Seiten. 25,00 Euro. Hier bestellen

Am meisten empfiehlt sich aber immer noch die gezeichnete Orwell-Biografie von Pierre Christin und Sébastien Verdier, die bereits vor zwei Jahren erschienen ist. In realistischen Schwarz-Weiß-Zeichnungen lassen die beiden Franzosen Orwells Leben Revue – seine Schulzeit in Eton, die prägenden Erfahrungen in Burma, aus denen er einen tiefen Hass auf den Imperialismus mit zurück nach Europa bringt, – passieren, Enki Bilal, Manu Larcenet, Blutch und andere Zeichner illustrieren zudem farbig Tagebucheinträge und Auszüge aus seinem literarischen Werk. So entsteht ein rundes Bild des Menschen und Literaten George Orwell, das eine gute Grundlage für weitere Lektüren bildet. Konventionell setzt die Erzählung in der Kindheit von Eric Blair – so der Geburtstname des Schriftstellers, der unter seinem Pseudonym George Orwell publizieren sollte – ein, erinnert an die raue Zeit auf der Eliteschule St. Cyprien und später auf dem Elitecollege Eton, seine Zeit in der burmesischen Militärpolizei, die Erfahrungen in Paris und im spanischen Bürgerkrieg und später als Redakteur in London, wo er sich das Pseudonym George Orwell zulegt und später zu Weltruhm gelangt. Der Comic überzeugt insbesondere in der Arbeit mit den verschiedenen Ebenen, der biografischen Erzählung und den Einschüben der Gastzeichner:innen aus seinen Schriften. Wie hier Erleben, Wirken und Werk ineinanderfließen, ist absolut lesenswert.

Fido Nesti, George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Michael Walter. Ullstein Verlag 2021. 224 Seiten. 25,00 Euro. Hier bestellen

Als Nachzügler wird im Herbst die »1984«-Adaption von Fido Nesti erscheinen. Warum der herausgebende Ullstein-Verlag, der bislang die Exklusivrechte für Orwells dystopischen Klassiker hatte, sie als »erste Graphic Novel des Klassikers« anpreist, ist nicht nachvollziehbar. Auf dem deutschen Markt ist es eher die letzte, die den Reigen schließt. In gedeckten Farbtönen und konturierten Zeichnungen hat der Brasilianer Orwells bekannteste Geschichte nachgestellt. Der Stil erinnert an die russische Avantgarde und die Plakatkunst der 30er und 40er Jahre, was wiederum ideal zu Orwells wenig versteckter Stalinismus-Kritik passt. Die deutsche Fassung beruht auf der Referenzübersetzung von Michael Walter, an der sich in diesem Frühjahr zahlreiche Neuübersetzungen messen lassen mussten. Das ist insofern etwas irritierend, als dass das französische Original mit der aktuellsten Orwell-Übersetzung von Josée Kamoun arbeitet, die Orwells Roman sprachlich in die Gegenwart geholt hat. An ihr hatte sich Frank Heibert in seiner Neuübertragung orientiert. Folgt man den Kritiken zur französischen Ausgabe, dann wäre sein Text hier wohl passender gewesen, denn insbesondere die Harmonie von Nestis Zeichnungen mit der modernen Interpretation Kamouns wurde dort gelobt. Heiberts Text wurde stattdessen von Reinhard Kleist illustriert, dessen bedrückende Zeichnungen die Schmuckausgabe des Romans zieren.