Wie tief sitzt Trauma? Wie äußert es sich? Und wie kommt man darüber hinweg? Der schottische Lyriker Robin Robertson schickt in seinem poetischen Nachkriegsroman »Wie man langsamer verliert« den Kriegsveteran Walker auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen.
Walker ist ein Mann in seinen besten Jahren und dennoch ein Wrack. Gerade ist er von den Schlachtfelder des Weltkriegs zurückgekehrt, allerdings nicht nach Hause, sondern nach New York. Seine Frau lebt in Kanada, die Ehe hat den Krieg nicht überstanden. Ob es seine inneren Wunden sind, die er seiner Frau nicht zumuten will, oder andere Gründe aus denen er in die Anonymität der Großstadt flieht, bleibt offen. Er selbst spricht davon, seine Familie verloren zu haben. Später schreibt er seiner Frau Annie: »Wir waren so glücklich. Ich will wieder glücklich sein.«Klar ist, dass in Walker eine Sehnsucht wohnt, eine geradezu unstillbare Sehnsucht nach der alten, unmittelbaren Existenz.
»Zu Hause wäre das Meer jetzt Splitter von Granit,
Walker in »Wie man langsamer verliert«
Schiefer, Anthrazit; Seeschwalben würden an den Wellen nippen,
tief über einem Schwarm Makrelen piepsen,
ehe eine Urgewalt sich aus dem Wasser hebt – ein Grind- oder Buckelwal.«
Doch Robinsons Protagonist bleibt in New York und taucht ein in die pulsierende Metropole, die ihm dennoch ei Rätsel bleibt. »Ist dieser Ort eine Riesenturbine auf Hochtouren oder bloß sinnloses Motorenröhren bei Rot?« notiert er noch im Oktober 1947, bevor er sich gen Westen aufmacht. Es zieht ihn nach Los Angeles, nachdem er in einer New Yorker Bar den Filmemacher Robert Siodmak kennengelernt hat. Die dreitägige Reise mit dem »Golden State« ist wie ein Erwachen – je näher der Erzähler der Westküste kommt, desto freundlicher wird nicht nur die Welt, die er betrachtet, sondern auch der Blick auf die Dinge offener. Dieser offene, neugierige und zugleich demütige Blick auf das Leben prägt fortan die Beobachtungen von Walker.
In Los Angeles folgt auf die Harmonie der Landschaft der Irrsinn einer pulsierenden Metropole. Er lässt sich nieder in einem Hotel in City Hall, einem Viertel, dass er mit folgenden Worten beschreibt:
»ein sechs Blöcke großer Rummel, der auf die Straßen schwappt. Augen
Walker in »Wie man langsamer verliert«
rot wie Rücklichter, GIs, Docker, Ölarbeiter,
Chinesen, Japaner, Schwarze, Filipinos, Mexikaner, Indianer,
sogar Hindus und Sikhs; Straßenbahn, Autos,
Gehupe; die Bettler, Nutten, Betrunkene fleddernde Burschen;
Puffereien in den Gassen; Kneipentüren
schwingen auf – ein Schwall von Jukebox-Klängen,
klaffendes Gelächter;
Streifenwagen; das Rufen der Hotdogverkäufer,
Geraune der Luden und Huren,
der Drogenschieber; die Bullen an Straßenecken,
Soldaten und Seemänner, ihre Pfiffe, Schreie,
zerbrochene Flaschen; Kiefqualm, Bier und Schweiß.
Das war die Stadt. Wie Marseille vielleicht
oder Casablanca. Das war das Stadtleben.«
Dieser Lärm der Moderne kann aber den Lärm des Krieges in seinem Inneren nicht Stillen. Nachts träumt er von Frankreich, den Kämpfen, dem Gemetzel, von Kameraden vor und nach ihrem Tod. All das rumort in ihm, hält ihn fest in der Vergangenheit und fern von der boomenden Gegenwart, in der an jeder Ecke die urbane amerikanische Zukunft vorangetrieben wird. Das Hämmern der Schlagbohrer im Hafenviertel führt ihn direkt wieder aufs Schlachtfeld. »Der Lärm der Geschütze, das schwere Maschinengewehrfeuer und nirgends ein Fleck, sich zu verstecken, und sie rückten näher und näher, und die Leuchtkugeln brannten und es war so laut, das Schreien und Krachen…« Ein Kollege in der Redaktion, in der er schließlich als freier Autor anheuert, sagt ihm, dass er Kriegsrückkehrer wie ihn schon oft erlebt habe, »Typen, wo irgendwas den Schalter umlegt – Menschenmengen, plötzlicher Lärm…«.
Diesem Schalter umlegen gibt Robin Robertson in seinem mehrfach preisgekrönten und 2018 für den Booker Prize nominierten Roman Gestalt, indem der Lyriker zwischen Prosa und Versform wechselt. Die beschreibende Prosa gilt dabei den dunklen Erinnerungen, in Versen nähert er sich spielerisch der Gegenwart. So stürzt im Text die innere Welt in die äußere und umgekehrt, sie überlagern und ergänzen sich. Vor allem aber geben sie Einblick in die verletzte Seele eines schwer traumatisierten Mannes, der neu anfangen will.
Zu diesem Neuanfang gehört, dass er über die Welt schreibt, die ihn umgibt. Sein Interesse gilt – dem frühen Kontakt zu Siodmak sei Dank – dem Film, die boomenden Studios von Hollywood und die Bars, in denen die Sternchen von heute und morgen exzessiv feiern, sind gleich um die Ecke. So liest sich dieser Roman immer wieder wie ein Ausflug in die Kulturszene der frühen 50er, durchsetzt mit Ausflügen in den Jazz und den Film-Noir. Später wird er in seinem Notizbuch festhalten »Amerikanische Städte haben keine Vergangenheit, keine Geschichte. Manchmal denke ich, die einzige amerikanische Geschichte existiert auf Film.« Aber nicht einmal dort wird er seine Vergangenheit los. Nach einem Gespräch über Henry Hathaways Krimi »Kiss of Death« erinnerte er sich »an den Deutschen auf der Barrikade, der von einer Magnesiumkugel in die Brust getroffen wurde und wie ein Leuchtfeuer hochging: so weiß, dass man gar nicht hin-, aber auch nicht so recht weggucken konnte.«
Die Verwerfungen der McCarthy-Ära bedenkt Walker nur mit einem knappen Kommentar zur Angst vor dem Anderen. Amerika müsse seine Gespenster haben, heißt es da, »um sie zu sortieren, segregieren, falls möglich erschießen. Die nennen das Patriotismus, Nativismus, aber es ist Rassismus, nichts sonst. Und Verfolgungswahn.« Sätze wie diese, geschrieben 2018, kann man auch als Kommentar auf das Amerika der Trump-Ära lesen.
Statt der ideologischen Konflikte widmet sich Walker lieber den sozialen Fragen. Er wird eine Reportage eine Reportage über Obdachlose in San Francisco schreiben. Dabei trifft er auf Seelenverwandte, auf Kriegsveteranen, die der Lärm im Kopf nicht loslässt, die erst den Boden unter den Füßen und dann ihre Existenz verloren haben. Robertsons Roman zeichnet nach, wie sich Walker diesen Boden unter den Füßen zurückerobert. Er tut das seinem Namen getreu laufend. »Wie man langsam verliert« ist das Lebensbuch eines Flaneurs, der sich die Welt zueigen macht, indem er sie erforscht. Mit Schritten, mit Blicken und mit Worten. Die Orte, die er aufsucht, finden sich auf historischen Fotografien im Buch wieder, seine geschärfte Wahrnehmung spiegelt der Text, in den Walkers seelische Finsternis sickert.
Der Roman ist wie ein Storyboard eines Films aufgebaut, arbeitet mit Karten, Bildern, Tagebucheinträgen, Traumsequenzen, Dialog- und Alltagsszenen. Der Text mäandert wie der Held von einem Ereignis zum nächsten. Die Verbindungen zwischen Zeiten, Orten und Realitäten werden dabei assoziativ hergestellt, durch Bilder, Geräusche und Gedanken. Wie Anne-Kristin Mittag diese Herausforderung der textlichen Variation nicht nur angenommen, sondern auch gelöst hat, ist große Kunst. Ihre Übertragung lässt eine unheimliche Spannung entstehen, die diesen Text und uns Leser:innen weit darüber hinaus trägt. »Wie man langsamer verliert« ist keine Unterhaltungs- oder Erbauungslektüre, aber große, begnadete und glänzende Literatur!
[…] Seele offen. In der kunstvollen und zugleich schonungslos offenen Form konnte man das zuletzt bei Robin Robertson und seinem Roman »Wie man langsamer verliert« sehen. Diese kraftvolle Sprache findet sich nicht nur in den Kriegs-, sondern auch in den […]
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