Seit mehr als 60 Jahren finden Israelis und Palästinenser keinen Frieden. An Initiativen und zivilgesellschaftlichem Engagement für eine einvernehmliche Lösung hat es nie gemangelt. Was bis heute fehlt, ist der politische Wille.
Wenn sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (UN) am 13. September in New York versammeln, wird es ernst für die Palästinenser. Denn für die 66. Sitzung der UN-Generalversammlung liegt ein Antrag vor, der vorsieht, die palästinensischen Gebiete in den Grenzen von 1967 als stimmberechtigten Mitgliedstaat der Vereinten Nationen aufzunehmen. Wenn die Generalversammlung diese Quasi-Anerkennung des palästinensischen Staates vornimmt, ist Israel in doppelter Hinsicht bloßgestellt. Zum einen, weil es sich aufgrund des massiven Siedlungsbaus der letzten Jahre zunehmend schwer damit tut, die Waffenstillstandslinie von 1967 als künftige Grenzlinie zu akzeptieren. Zum anderen aber würde damit erstmalig virulent, dass der Staat Israel im Westjordanland einen souveränen Staat besetzt und damit gegen geltendes Völkerrecht verstößt.
Ein solcher Schritt würde aber auch die internationale Gemeinschaft unter Druck setzen, denn auf einen solchen Verstoß müsste sie reagieren. Die UN und ihre Mitgliedstaaten scheinen jedoch ohnehin überfordert von den Ereignissen zu sein, die sich seit Jahresbeginn unter dem Namen Arabischer Frühling im Nahen Osten und den nordafrikanischen Staaten vollziehen und dabei auch keinen Bogen um Israel und die palästinensischen Gebiete machen. Die mögliche Anerkennung des palästinensischen Staates einerseits und die Protestbewegungen in der arabischen Welt andererseits schaffen Hoffnungen und Unsicherheiten auf allen Seiten.
Israelische Diplomaten versuchten in den Sommermonaten, Regierungen weltweit dazu zu bewegen, von einer Anerkennung Palästinas in der Generalversammlung Abstand zu nehmen. Verwunderlich ist das nicht, denn rechtsgerichteter und damit anti-palästinensischer als das Kabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu war bisher keine Regierung Israels. Dabei gibt es kaum sachliche Argumente, den Palästinensern ihren Staat zu verweigern. Im Gegensatz zum Kosovo oder zum Südsudan existiert in den palästinensischen Gebieten alles, was ein funktionierender Staat braucht. Allein die internationale Gemeinschaft traut den Palästinensern nicht über den Weg. Die Erfahrung der Wahlen im Jahr 2006, als die Palästinenser die radikalislamische Hamas in die Regierung wählten, hat sie skeptisch gemacht. Und auch jetzt wird unter der Hand befürchtet, dass nach Gründung eines palästinensischen Staates die Islamisten die Oberhand gewinnen könnten. Seit 2006 hat es keine parlamentarischen Neuwahlen gegeben, die palästinensische Führung agiert schon lange ohne Mandat.
Auch unter Israels gemäßigten Kräften gibt es Widerstand gegen eine Anerkennung eines Palästinenserstaates. Die internationale Gemeinschaft müsse Israel dazu bringen, bei den bisher ausgeschlagenen palästinensischen Forderungen endlich Zugeständnisse zu machen. Nur das könne die Palästinenser veranlassen, ihre UN-Initiative zu verschieben, meint etwa Shaul Arieli, ein ehemaliger ranghoher Militär der israelischen Armee, der die Regierungen von Yitzhak Rabin und Ehud Barak bei den Friedensverhandlungen mit den Palästinensern vertrat. Arieli unterstützt die sog. Genfer Initiative, zu der sich bekannte israelische und palästinensische Politiker auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada zusammenschlossen und seither konkrete Verhandlungen für ein Endstatusabkommen zwischen Israel und Palästina fordern. Sie wollen die Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967, wobei etwa zwei Prozent palästinensisches gegen israelisches Land entlang der künftigen Grenzlinie getauscht werden sollen, um möglichst viele Siedlungen im Grenzbereich auf die israelische Seite zu ziehen. Ferner fordern die Genfer Initiatoren eine gemeinsame Hauptstadt Jerusalem sowie die Beschränkung des Rückkehrrechts für eine limitierte Zahl Palästinenser.
So und ähnlich sehen die Vorschläge für einen finalen Frieden zwischen Israel und Palästina alle aus. Mit ihnen sollen die seit 40 Jahren bestehenden großen Fragezeichen des Nahost-Friedensprozesses gelöst werden. Wie sie auch heißen, ob Oslo-Prozess, Wye-Memorandum, Saudischer Friedensplan, Genfer Initiative oder Road-Map – all diese Friedensvorschläge bieten ähnliche Lösungen für die zentralen Fragen: Soll Jerusalem gemeinsame oder geteilte Hauptstadt sein? Wo sollen die Grenzen genau verlaufen? Damit verbunden sind die Fragen nach dem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, der Zukunft der israelischen Siedlungen im Westjordanland und dem Zugang zu Trinkwasserressourcen.
Mit den Jahren sind diese Fragen brisanter geworden. Ein Grund dafür ist der seit dem Scheitern des Oslo-Friedensprozesses vorangetriebene Siedlungsbau. Mit den im Westjordanland errichteten Siedlungen schlägt die israelische Regierung seit Jahren zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen verhindert sie eine Teilung Jerusalems, denn Ostjerusalem ist inzwischen von einem Gürtel israelischer Siedlungen umgeben und wäre als palästinensische Hauptstadt vom übrigen Westjordanland nahezu abgeschnitten. Zum anderen dienen die Siedlungen als Maßnahme gegen den enormen Wohnungsmangel in Israel. Jungen israelischen Familien, insbesondere den kinderreichen Orthodoxen, werden die mit Staatsgeldern subventionierten Wohnungen in den grenznahen Siedlungen mit deutlich günstigeren Konditionen schmackhaft gemacht.
Inzwischen leben weit mehr als eine halbe Million Israelis im Westjordanland. Schätzungen zufolge ist nicht einmal der Hälfte dieser Menschen ihr Siedlerdasein bewusst. Die Infrastruktur, die zur Versorgung der Siedlungen entstanden ist, lässt es vergessen. Denn Siedler überfahren zwischen Wohn- und Arbeitsplatz nur selten wahrnehmbare Grenzen. Gesicherte Straßen oder Tunnel garantieren ihre freie Fahrt. Einzig die Palästinenser spüren die Siedlungen, denn sie müssen die meterhohen Sicherheitsmauern, die die israelischen Wohnparks umgeben, oft kilometerweit umfahren. »Die Siedlungen zerstören das Kompromisspotential«, bringt der angesehene palästinensische Politiker und Politikberater Mustafa Barghuthi deren Wirkung auf den Punkt.
Nirgendwo ist der Nahostkonflikt greifbarer als in Hebron, der zweitgrößten Stadt im Westjordanland. Hier kann man besichtigen, was religiöser Fundamentalismus anrichtet, wenn er politisch toleriert und unterstützt wird. Bis 1929 lebten hier Juden und Moslems friedlich zusammen, doch seither eskaliert die Gewalt immer wieder. Beide Religionen beanspruchen die Stadt für sich. Grund ist die Höhle der Patriarchen im Zentrum der Stadt, die als Grabstädte der biblischen Urväter eine der wichtigsten Kultstätten für Moslems und Juden ist. Um die jüdische Präsenz in Hebron zu sichern, ist Israel kein Preis zu hoch.
800 radikale Siedler leben hier inmitten von fast 200.000 Palästinensern. Für ihren Schutz wurden militärisch abgeriegelte Schutzzonen eingerichtet. Der weiträumige Markt im Herzen der Stadt – geschlossen. Die palästinensischen Häuser in der Altstadt – geräumt. Die kleinen, die Wohnhäuser verbindenden Gassen – mit Stacheldraht versperrt. Das historische Stadtzentrum ist bis heute eine No-Go-Area für Palästinenser, auch weil die gewaltbereiten Siedler in der Stadt ein System der Selbstjustiz etabliert haben.
Der Israeli Jehuda Shaul leistete hier seinen Militärdienst. Er erlebte, wie das militärische Konzept der Kontrolle zum alltäglichen Terrorisieren der Palästinenser missbraucht wurde. Nach seinem Militärdienst gründete er mit 65 anderen Soldaten die Organisation Breaking the Silence. Eine Ausstellung ihrer Fotos, die die tägliche Demütigung der Palästinenser im Westjordanland dokumentierten, sorgte weltweit für Furore. Bis heute sammelt die Organisation Soldatenberichte, die die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung belegen. Hebron empfindet Shaul trotz allem als »Geschenk«, denn er kann hier im Kleinen erklären, wie das Große funktioniert: »Zwei Quadratkilometer Land, die man hinter sich bringen und begreifen kann, wie die Besatzung funktioniert.«
Besatzung ist ein großes Wort, im Nahen Osten ist sie allgegenwärtig. Die bestehenden Verhältnisse sind auch Resultat des Osloer Friedensabkommens, welches die vorübergehende Aufteilung der palästinensischen Gebiete in drei Zonen vorsah. Die Zonen bestehen immer noch. Während Zone A komplett und Zone B anteilig unter palästinensischer Kontrolle steht, untersteht Zone C (etwa 60 Prozent des palästinensischen Territoriums) der israelischen Kontrolle. Israel bestimmt über fast zwei Drittel des Westjordanlandes. Der Landstreifen ähnelt einem Schweizer Käse, die Löcher bilden den palästinensischen Rechtsraum.
In Israels Gesellschaft regt sich Widerstand gegen die Verhältnisse, die die Besatzung provoziert. Ron Pundak, einer der Initiatoren des Osloer Friedensprozesses, leitet heute das Shimon Peres Center for Peace. Seiner Ansicht nach muss die israelische Gesellschaft Schuld abtragen: »Wir haben die Palästinenser nicht geheiratet. Wir haben sie vergewaltigt und müssen das wiedergutmachen – wie auch immer das aussieht.« Das Peres-Zentrum versucht dies etwa, indem es die Übermittlung von im Westjordanland und Gaza nicht kurierbaren Kinderpatienten in israelische Hospitäler initiiert. Die fast 80-jährige Ruthie Keydar will anders helfen. Sie begann vor Jahren, den israelischen Soldaten an den Checkpoints auf die Finger zu schauen, um Misshandlungen und Rechtsbrüche vorzubeugen. Inzwischen fährt sie für die Organisation Yesh Din bis zu dreimal wöchentlich in die Westbank, um Beschwerden oder Anzeigen von Palästinensern gegen aggressive Siedler zu sammeln und vorzubringen. Es gibt zahlreiche solcher zivilgesellschaftlichen Initiativen, doch ihre Wirkung in den besetzten Gebieten scheint marginal.
Durch den Checkpoint Qalandia im Süden Jerusalems geht es Richtung Ramallah. Dort fällt eines auf: Wohin man seinen Blick auch wendet, überall wird gebaut. Die palästinensische Journalistin Wafa Abdel Rahman hält diesen Boom für eine Immobilienblase. Wenn die Bauarbeiten einmal beendet seien, gebe es in Ramallah nichts mehr. Mit ihren kritischen Recherchen zu Korruption und Kungelei hat sie sich schon einige Feinde gemacht. Doch wer meint, sie genieße deshalb journalistische Freiheiten, täuscht sich. Aufgrund der israelischen Gesetze kann die Gazaerin nicht einmal das 16 Quadratkilometer kleine Ramallah verlassen. Ihre Familie hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen, bei Hochzeiten, Geburtstagen und Trauerfeiern ist sie immer abwesend. Das Sicherheitsrisiko, das für die Bewohner Gazas gilt, gilt auch für die Journalistin, die versucht, das Entstehen eines palästinensischen Staates kritisch zu begleiten. »Das Persönliche wird unter diesen Bedingungen schnell politisch und das Politische persönlich«, sagt Wafa Abdel Rahman.
Ramallah lädt mit internationalem Flair, modernen Bars und einer lebendigen Kulturszene ein, die palästinensische Realität auszublenden. Hinter den Kulissen jedoch brodelt die Wut. Unter den zivilgesellschaftlich und politisch Aktiven ist die Besatzung durch die Israelis das alles bestimmende Thema. Wer etwa Rania Khayyat von der Entwicklungsgesellschaft für Frauen im ländlichen Bereich (RWDS) zuhört, erfährt zahlreiche Geschichten von der Unterdrückung der Frau durch den Mann und Gewalt in der Familie. Khayyat führt dies aber nicht auf die traditionellen Gesellschaftsstrukturen, sondern auf die Besatzung zurück. Arabische Männer seien oft aggressiv, weil ihnen die tägliche Demütigung an den Checkpoints durch junge israelische Soldaten keine andere Wahl lasse. Ähnlich äußert sich der palästinensische Repräsentant der dänischen Arbeitergewerkschaft 3F, Ali Kileh, der die Grenzposten als Demütigungsposten bezeichnet. Diese passieren nach seinen Schätzungen täglich etwa 45.000 legale und 20.000 illegale palästinensische Arbeitnehmer. Wenn sich nur jeder hundertste Palästinenser an der Grenze ungerechtfertigt behandelt fühlt, kehren täglich 650 Palästinenser mit Wut im Bauch in ihre Familien zurück.
Seit Jahren ist die Besatzung der palästinensischen Gebiete ein nicht zu leugnender Teil der Realität im Nahen Osten. Daher kommt Mustafa Barghuthi zu dem Schluss, dass die aktuelle Situation schlimmer sei, als Anfang der neunziger Jahre. Eine Lösung könne nur darin bestehen, dass die internationale Gemeinschaft endlich aufhöre, das israelische Vorgehen im Westjordanland zu tolerieren. »Palästinenser und Israelis sind gleich als Menschen, daher müssen sie auch die gleichen Rechte haben.« Solange dieses Prinzip nicht umgesetzt ist und für Israel internationale Standards nicht zu gelten scheinen, hält Barghuthi eine dritte Intifada für »sehr wahrscheinlich«.
Die permanente Möglichkeit, auf die israelische Besatzung auszuweichen, wird der palästinensischen Gesellschaft jedoch langfristig zur Last. Es lenkt sie von den eigenen Problemen ab. Als hätte es noch eines Beweises bedurft, wurde während der Nahostreise des Autors der israelisch-arabische Regisseur Juliano Mer-Chamis ermordet. Der 52-Jährige galt auf beiden Seiten als lebendes Friedenssymbol. Noch während der Zweiten Intifada gründete er in der umkämpften Flüchtlingsstadt Jenin das Freedom Theatre und versuchte auf diese Weise, palästinensischen Kindern und Jugendlichen eine Perspektive jenseits des Märtyrertums zu geben. Sein gewaltsamer Tod hat einmal mehr den Blick auf die innerpalästinensischen Konflikte gelenkt, die einem dauerhaften Frieden ebenso im Weg stehen, wie die aktuelle israelische Politik.
Allein die Anerkennung eines palästinensischen Staates durch die UN im September würde nicht ausreichen, um diese Probleme zu lösen. Aber sie könnte Signalwirkung haben und den notwendigen Druck auf die politischen Akteure beider Seiten ausüben, dass diese ihrer Verantwortung für eine friedliche Lösung im Nahen Osten endlich nachkommen.
[…] Sackgasse Naher Osten – Gibt es eine friedliche Zukunft? […]
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