Die 20. Leipziger Buchmesse ist eröffnet, bis zum Sonntag lädt das Frühjahrstreffen der Branche zum Meinungsaustausch ein. Zum Auftakt wurde der Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung an den israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm verliehen. Bei der Festveranstaltung gab es nicht nur warme, sondern auch mahnende Worte.
Der Eröffnungsabend der Leipziger Buchmesse galt dem Philosophen Omri Boehm, der gestern im Gewandhaus den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung erhielt. Doch bevor der in New York lebende israelisch-deutsche Hochschullehrer überhaupt zu Wort kam, verschafften sich einige Aktivist:innen lautstark Gehör. Schon bei der Ankunft von Bundeskanzler Olaf Scholz protestierten Aktivisten lautstark gegen den Gaza-Krieg, Scholz’ Eröffnungsrede wurde mehrmals von schwer verständlichen Zwischenrufen aus dem Publikum unterbrochen. Medienberichten zufolge warfen die Störer der israelischen Regierung einen Genozid im Gazastreifen vor. Sichtlich aus der Contenance gebracht konterte Scholz irgendwann die Rufe mit der Aussage, dass man hier nicht zum Brüllen, sondern zum Reden sei. Zu Beginn des Kafka-Jahrs 2024 hatte dies eine absurde Note angesichts des dröhnenden Schweigens, das man sonst vom Kanzler kennt.
Austausch und freie Rede stehen im Mittelpunkt des Branchentreffens, bei dem der Zustand der Demokratie eine wichtige Rolle spielt. Die Messe möchte ein Ort der Vielfalt sein, gemeinsam mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels hatte man die Kampagne #DemokratieWählenJetzt aufgesetzt. »Literatur leistet einen wichtigen und wertvollen Beitrag für die Demokratie – sie braucht jedoch auch Demokratie als Grundlage, um sich überhaupt frei entfalten zu können«, begründete Astrid Böhmisch, die neue Direktorin der Leipziger Buchmesse, die Initiative zur Kampagne. In Sachsen wird im Herbst gewählt, wo die AfD trotz Beobachtung vom Verfassungsschutz hohe Umfragewerte verzeichnet.
Das Publikum im Gewandhaus war daher gebeten, das Motiv in die Höhe zu halten, um ein Zeichen zu setzen. Das Bild von der Aktion ging wie geplant viral, die demonstrative Einnahme der Kultur durch politische Statements gefiel jedoch nicht allen. Kein Wunder nach der Farce der Berlinale-Preisverleihung, in der sich die kleingeistige Provinzialität deutscher (Kultur-)Politik in voller Pracht zeigte. Da lud man sich die Welt ein und konnte nicht ertragen, dass die nicht die vorgestanzten Sätze aufsagte, sondern andere Ansichten präsentierte. Angesichts der unsäglichen Skandalisierung ist fraglich, welche Filmschaffenden sich künftig noch in Berlin einfinden werden, um dort ihre (womöglich kontroversen) Filme zu präsentieren.
Auch Omri Boehm kann der Haltung deutscher Politiker:innen wenig abgewinnen, das wurde bei der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung deutlich. Der israelisch-deutsche Philosoph blieb in der Dankesrede dem in seinem ausgezeichneten Buch »Radikaler Universalismus« dargelegten Ansatz eines humanistischen Universalismus treu, als er über den tobenden Nahostkonflikt und die deutsch-jüdische Freundschaft sprach. Boehm sprach über die Abgründe, die sich in der Debatte auftun. Die Öffentlichkeit sei »zwischen den Verfechtern der Doktrin des „bewaffneten Widerstands“ [der Palästinenser:innen] und der Theorie der „Selbstverteidigung“ [der Israelis]« verdunkelt, die Fronten scheinen unversöhnlich zu sein. In dieser Situation auf eine Freundschaft zwischen Israelis und Palästinensern zu hoffen, erscheine fast grotesk, sei aber alternativlos, so Boehm in Leipzig. Freundschaft, erklärte der Philosoph, sei immer der Test gewesen, der Israelis und Palästinenser:innen »vor dem katastrophalen Versagen der Brüderlichkeit und dem grotesken Missbrauch abstrakter Ideen über bewaffneten Widerstand und Selbstverteidigung beschützt hat«.
Zuvor hatte die israelische Soziologin Eva Illouz erklärt, warum in Boehms Universalismus eine vielversprechende Hoffnung liege. Die Identitätspolitik, die sich auch im Zuge des Nahostkonflikts und der um ihn kreisenden Debatten niederschlägt, helfe im Gegensatz zu universellen Ansatz nicht weiter, wie sie in ihrer Laudatio am Beispiel einer Erklärung einiger afroamerikanischer lesbischer Frauen aus dem Jahr 1977 erklärte. »Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potenziell radikalste Politik direkt unserer eigenen Identität entspringt«, erklärten diese Frauen im Combahee River Statement. »Da sich diese Identitäten durch ganz bestimmte Leben und ganz bestimmte Erfahrungen herausbilden«,machte Illouz deutlich, »sind ihre Interessen nicht übersetzbar und nicht auf andere Gruppen übertragbar, und daher können sich Menschen außerhalb einer bestimmten Gruppe – ob Minderheit oder Mehrheit – weder mit ihren Mitgliedern identifizieren noch sie verstehen und letztlich auch nicht verteidigen.«
Der öffentliche Raum sei zu einem »Schlachtfeld der Identitäten« geworden, inmitten der Kämpfe, die dort ausgetragen würden, habe Boehm Immanuel Kants radikalen Universalismus »als Form gegen jede Form unrechtmäßiger Autorität oder Macht« wiederbelebt, so Illouz. In dem Gespräch, das Boehm mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann über den Königsberger Aufklärer geführt hat, heißt es: »Der Mensch darf nie bloß ein Mittel sein, sondern immer ein Zweck.« In ihrem spannend-nerdigen Erkunden des moralischen Kant zeigen die beiden Intellektuellen vielfältig auf, wie der Gedanke der Freiheit und Gleichheit des Menschen Kants Philosophie prägte und wie diese bis heute gilt. So heißt es dort etwa: »Bestimmte ganz erhebliche Entscheidungen, wie beispielsweise die Entscheidung, wie man sein Leben ausrichten möchte, in Anerkennung dieser Pflicht [das Richtige zu tun] zu treffen, heißt, eine Einstellung der Achtung vor der Menschlichkeit zu pflegen.« Boehm und Kehlmann zeigen am Beispiel seiner anthropologische Ausflüge auf, dass Kant selbst dieses Ideal verfehlt hat. Der Unterschied zwischen den Höhen der Philosophie und den Niederungen der Realpolitik ist eben immens.
Buchvorstellung von »Der bestirnte Himmel über mir« im Ullstein Verlag im Januar 2024
Was aber heißt das für die aktuelle Situation und die so genannte deutsche Staatsräson, die der Politik, wie ein zu eng geschnürtes Korsett, die Luft für Kritik am Vorgehen Israels im Gaza-Streifen nimmt. Auch hier hat Boehm eine klare Position, wenn er am Ende von der deutsch-jüdischen Freundschaft und ihrer Verantwortung spricht. »Wo sie besteht, ist sie ein wahres Wunder, aber dieses Wunder muss jetzt vor Entwertung geschützt werden«, sagte Boehm in Richtung des Bundeskanzlers. »Es kann keine deutsch-jüdische Freundschaft geben, wenn sie in diesen dunklen Zeiten keinen Platz für die schwierigen Wahrheiten hat, die im Namen der jüdisch-palästinensischen Freundschaft gesagt werden müssen.«
Echter Friede verlangt den Mut, ein Ideal leben zu können, machte Boehm unlängst in der ZEIT deutlich. »In der Realität nach der Zweitstaatenpolitik lässt sich Frieden nur mit der Möglichkeit denken, dass die Staatsbürgerschaft in der Region eines Tages eine gemeinsame sein wird. Und wenn wir dennoch weiterhin von zwei Staaten sprechen wollen, sollten wir dafür sorgen, dass zumindest eine gemeinsame Verfassung für beide Staaten auf dem gesamten Gebiet geschrieben wird, die die Menschenwürde über die nationale Souveränität stellt – um die nationale Selbstbestimmung von Juden wie von Palästinensern durch das Bekenntnis zur Menschenwürde zu verteidigen, anstatt sie unter dem Bekenntnis zur nationalen Souveränität zu begraben.«
In seinem Essay »Israel – eine Utopie« hat Boehm vor Jahren mit der Republik Haifa eine radikale Vision entworfen, in der Juden und Palästinenser Seite an Seite entlang universalistischer Werte und Institutionen leben. Der Realitätstest für dieses Ideal beginne genau jetzt »mit der Forderung, die palästinensischen Zivilisten so zu schützen, als wären sie unsere eigenen Bürger – genauso wie es die schamlose Duldung des Vorgehens der Hamas gegen israelische Zivilisten nicht tolerieren kann«, schreibt Boehm. Sein Essay »Eine Republik für alle« endet mit den Worten: »Wer werden wir sein? Die Antwort muss die wenigen Israelis und Palästinenser versammeln, die bereit sind, heute zusammenzustehen – nicht trotz, sondern wegen der Schrecken – und zu sagen: Wir, die Bewohner dieses Gebiets, werden die Ideale vorleben, die eine Koexistenz schützen. Sie sind eine winzige Minderheit, aber es gibt sie.«
Es bleibt abzuwarten, ob Boehm an der Realpolitik weniger scheitert als der Königsberger Sonnenkönig Kant. Den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung hat er mit seinen philosophisch-moralischen Interventionen mehr als verdient.
[…] in Gaza. Dabei fand sie einen ebenso grundsätzlichen wie nachdenklichen Ton, der gut zu Omri Boehms Universalismus […]