Gesellschaft, Sachbuch

Entfesselt in Fesseln

© Thomas Hummitzsch

Ihre Geschichte verkaufte sich millionenfach und wurde für Netflix von Maria Schrader verfilmt. Jetzt hat die bekennende Unorthodoxe Deborah Feldman über das zwanghafte Verhältnis, das Deutschland und die Deutschen zum Judentum haben, ein Buch geschrieben und beweist darin Chuzpe.

Deborah Feldman ist zweifellos eine der bekanntesten Jüdinnen weltweit. Die 1986 in New York geborene Autorin wuchs bei ihren Großeltern in der streng religiösen Satmarer-Gemeinde in Williamsburg auf, besuchte eine religiöse Schule und wurde mit 17 Jahren in eine arrangierte Ehe gezwungen. In ihrem Weltbestseller »Unorthodox« beschreibt sie ihr Aufwachsen in der ultraorthodoxen Gemeinschaft, die Qualen ihrer Ehe und ihren wachsenden Hunger nach Freiheit und Leben inmitten einer frauen- und kulturfeindlichen Umgebung. Mehr und mehr distanziert sie sich von ihrer völlig aus der Zeit gefallenen Gemeinschaft. Sie beginnt heimlich ein Studium, knüpft Kontakte außerhalb von Williamsburg und flieht 23-jährig schließlich mit ihrem dreijährigen Sohn aus dieser isolierten Parallelwelt.

Diese Geschichte hat sich millionenfach verkauft, in den USA war das Buch sogar zwischenzeitlich vergriffen. Maria Schrader verfilmte die Feldmans Roman 2018 als vierteilige Miniserie für Netflix. Der Weg der jungen Frau war damit noch nicht zu Ende. Der Flucht aus dem New Yorker Stadtteil Williamsburg führte Feldman bis nach Berlin, wo sie seit 2014 mit ihrem Sohn lebt. Diesen steinigen Weg hin zu einer freien und selbstbestimmten Existenz hielt sie in ihrem Memoir »Überbitten« fest. »Es war, als wäre man aus dem Gefängnis der Identitätszuschreibung befreit, als hätte die Unreinheit mich reingewaschen«, hält sie da rückblickend fest.

In ihrem neuen Buch »Der Judenfetisch« beschreibt sie sich nun als »starke, aufmüpfige Frau, aus Amerika, jüdisch, nicht besonders gefällig«. Man stolpert angesichts ihrer weltanschaulichen Emanzipationsgeschichte etwas über das Adjektiv jüdisch, Feldman erklärt aber, wie sie das meint. »Ich bin Jüdin nur entsprechend der Bezeichnung: meine Identität existiert eigentlich nur im Akt der Zuschreibung.« Diese Zuschreibung macht sie zu einer gewichtigen Stimme in der deutschsprachigen jüdischen Welt, ob sie will oder nicht. Und sie will eher nicht, wenn man ihr neues Buch genau liest. »Ich bin gerne jüdisch in diesem Land«, schreibt sie da, nur um dann zu ergänzen, dass sie »nur ungern öffentlich jüdisch« sei, weil sie befürchte, »dass die rätselhafte Komplexität dieses Identitätsaspekts dadurch stark reduziert und vereinfacht wird.«

Auf Basis einiger Erlebnisse und Erfahrungen schreibt sie jetzt über ein Phänomen, das sie und andere »Judenfetisch« nennen. Der Begriff sei natürlich gemein, räumt Feldman ein, in ihren Berliner Bekanntenkreisen aber ein gängiger Begriff. Er beschreibe das gestörte Verhältnis der Deutschen zum Judentum, das keine Neutralität zulasse. »Damit zu spielen und davon zu profitieren, haben viele Juden wie Nicht-Juden gelernt, und das Ergebnis ist ein permanent aufgeführtes Varieté, das mit dem echten jüdischen Leben in diesem Land nichts zu tun hat und dennoch als spöttisches Zerrbild dessen dient.«

Deborah Feldman: Der Judenfetisch. Luchterhand Verlag 2023. 272 Seiten. 24 Euro. Hier bestellen.

Es ist unmöglich, bei solchen Zeilen nicht an die Affäre Fabian Wolf zu denken. Wolf hatte sich jahrelang als Jude ausgegeben und mit Bezug zu seiner vermeintlichen Identität auch deutliche Israelkritik verlautbaren lassen. Vor wenigen Wochen räumte der »Beste aller Juden« (Mirna Funk in der FAZ) und »Vorzeige-Jude der Linken« (Michael Wolffsohn in der NZZ) ein, dass er keine jüdischen Wurzeln habe. Diese Affäre wurde in den vergangenen Wochen medial breit diskutiert, Feldmans Buch bietet hier eine spannende Erweiterung der Debattenhorizonte.

Genauso unmöglich ist es, diese Auseinandersetzung von der aktuellen Situation im Nahen Osten und dem zunehmenden Antisemitismus auf deutschen Straßen zu trennen. Feldman hat auch hier eine klare Position, die sie Anfang November bei Markus Lanz noch einmal deutlich machte. Natürlich ist sie schockiert und betroffen von der Gewalt, die den Nahen Osten regiert, empört ist sie vom fehlenden Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Hier würden nur bestimmte Juden Schutz erfahren, andere nicht. Vor allem die linke und alternative jüdische Szene stehe blank da, Cafés, Restaurants und andere Treffpunkte jüdischen Lebens bräuchten ebenso Schutz wie Synagogen und jüdische Schulen.

Im Freitag hinterlegte Feldman neulich diese Kritik in einem elaborierten Beitrag, in dem sie den Zusammenhang zwischen der Situation im Nahen Osten und ihrer These des »Judenfetisch« noch einmal untermauerte. »Mir scheint, dass die Repräsentation von Jüdinnen und Juden in der deutschen Öffentlichkeit von einer transaktionalen Beziehung bestimmt wird, und dass sie zugleich die Meinungen einer unsichtbaren Mehrheit der hier lebenden Jüdinnen und Juden verdeckt, die nicht Mitglieder der Gemeinden sind, welche vom deutschen Staat finanziell unterstützt werden, und die nicht ständig die einzigartige Bedeutung der bedingungslosen Loyalität gegenüber dem Staat Israel betonen. Aufgrund der Vormachtstellung der offiziellen Institutionen und Gemeinden werden die Stimmen derer, die nur für sich sprechen, oft zum Schweigen gebracht oder diskreditiert und durch die lauteren Stimmen von Deutschen ersetzt, deren aus dem Holocaust herrührende Schuldgefühle sie dazu veranlassen, das Jüdischsein zwanghaft zu fetischisieren.« Weiter schreibt Feldman in der Berliner Wochenzeitung: »Die Menschen, die am 7. Oktober auf grausame Weise ermordet und geschändet wurden, gehörten zum linken, säkularen Teil der israelischen Gesellschaft; viele von ihnen hatten sich als Aktivisten für ein friedliches Zusammenleben eingesetzt. Ihr militärischer Schutz wurde zugunsten des Schutzes der radikalen Siedler im Westjordanland aufgegeben, von denen viele militante Fundamentalisten sind. Für viele liberale Israelis wurde dadurch das Sicherheitsversprechen des Staates für alle Juden als selektiv und bedingt entlarvt. Ganz ähnlich scheint in Deutschland der Schutz für Jüdinnen und Juden nur für diejenigen zu gelten, die der rechtsnationalistischen Regierung Israels treu sind.«

In Feldmans Kritik schwingt die Debatte über die Frage mit, wer sich mit welchem Recht als jüdisch bezeichnen darf. Diese wurde in den vergangenen Jahren zum Teil heftig diskutiert. So musste sich der Berliner Autor Max Czollek von Autor:innen wie Mirna Funk oder Maxim Biller vorwerfen lassen, dass er kein echter Jude sei, da sein jüdischer Großvater nach reiner Lehre nicht ausreiche, um sich Jude zu nennen. »Der größte Schock für mich war die Art und Weise, in der sich hierzulande öffentliche Juden gegenseitig in Zeitungsartikeln angehen, sich jeweils vorwerfen, der andere würde gar kein echter Jude sein«, kommentiert Feldman diese Debatte in ihrem Buch. Dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel sagte sie, dass Papiernachweise oder biologische Vorfahren»objektiv gesehen beliebig und unbedeutsam« seien. »Was viel eher zählt sind Sozialisierung, Erfahrung und, ja, Bekenntnis.« Kein Wunder, dass sie mit den identitären Catfights hierzulande nichts anfangen kann und sie als Ausdruck einer Obsession wertet, die mit dem Judentum und mit Israel zusammenhänge.

Meron Mendel: Über Israel reden

Über kaum ein anderes Land wird in Deutschland so viel geredet und gestritten: Zu Israel hat jeder eine Meinung. Warum ist das so? Wieso hat der Nahostkonflikt eine solche Bedeutung? Und warum ist die Debatte so emotional – und oft so vergiftet? Meron Mendel schildert in diesem Buch, wie das Verhältnis zu Israel und zum Nahostkonflikt in Deutschland verhandelt wird, in der Politik und in den Medien, unter Linken, unter Migranten und unter Juden. Deutschlands Verhältnis zu Israel steht vor großen Herausforderungen: Meron Mendel zeigt, wie wir ihnen mit Mut und Offenheit begegnen können.

Um diese Obsession, diesen »Judenfetisch«, zu greifen, pendeln ihre Eindrücke und Erfahrungen zwischen Berlin und Israel hin und her. Sie berichtet von Debatten über die jüdische Identität auf Berliner Balkonen, spricht über die undankbare Rolle von öffentlichen jüdischen Personen, denkt über die deutsch-israelische Erinnerungspolitik nach (siehe auch Max Czolleks Nachdenken über das deutsche »Versöhnungstheater«) und betrachtet die jüdischen Realitäten in Deutschland und Israel sowie die hiesige Unfähigkeit, sich kritisch gegenüber der Politik Israels zu positionieren – wobei sich hier Vergleiche zu Meron Mendels wichtigem Einwurf unter dem Titel »Über Israel reden« ziehen lassen.

Die Frage, wer »echter« Jude sei und wer nicht, spiele dabei überall eine entscheidende Rolle. In Deutschland wird dies in den identitären Debatten an der matrilinearen Linie festgemacht. Die meisten Repräsentant:innen aber seien Konvertiten, der jüdische Hintergrund sei oft nur partiell vorhanden oder fragmentiert. Vom lebenden Judentum hätten viele Juden in Deutschland wenig Ahnung. Stattdessen seien sie in kulturhistorischen Fragen bewandert, dozierten über Antisemitismus und stünden ohne Zweifel zu Israel ohne Bezug zur Wirklichkeit. »Dieses Israel ist kein Land als Fläche oder Gesellschaft, es ist Israel als Fata Morgana: es darf nicht näher betrachtet werden.« Unbequeme Wahrheiten würden in Deutschland aufgrund der Verantwortung am Holocaust ebenso ausgespart wie deren politische Folgen. »Ich frage mich, wie sehr sich jemand an die Vergangenheit klammern muss, um damit die Gegenwart so wirksam ausblenden zu können.«

Über das Judentum in Deutschland reden heißt auch, über Israel reden, und so geht Feldman auch auf die jüdisch-israelische Gegenwart ein. Hintergrund sind ihre Beobachtungen im Heiligen Land, wo die religiösen Hardliner längst die Zügel fest in der Hand hätten. Die Gewalt, zu der rechte Siedler und Ultraorthodoxe unverhohlen greifen, sei nur eine Strategie, um vom Plan abzulenken, »die demographischen Verhältnisse in der israelischen Bevölkerung so zu verschieben, dass die Säkularen schon bald zur kaum geduldeten Minderheit werden, während sie gleichzeitig einer Theokratie unterliegen sollen, die nur ihre religiösen Rechte in Betracht zieht.« Andere Rechte wie Menschen- und Minderheitenrechte spielten dann kaum noch eine Rolle, die reine Lehre wird dann zum Maß aller Dinge.

Max Czollek: Versöhnungstheater

Max Czolleks Bücher »Desintegriert euch!« und »Gegenwartsbewältigung« streuten lustvoll Zweifel an den deutschen Narrativen von Integration bis Leitkultur. »Versöhnungstheater« schließt diesen Kreis, wenn es nach der aktuellen Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit fragt. Eine kritische Analyse der deutschen Erinnerungskultur: Klug und polemisch seziert Bestsellerautor Max Czollek den Wandel im deutschen Selbstverständnis. Deutschland ist wieder wer, auch weil es sich so mustergültig an den Holocaust erinnert. Herzlich willkommen zum Versöhnungstheater!

Feldman weiß, was das bedeutet und fürchtet, dass die »Bühnenjuden«, die Israel gerne aus der Ferne verteidigen, im Heiligen Land bald keine Heimat mehr finden, weil ihnen die Fundamentalisten das Jüdischsein wegen ihrer nicht-matrilinearen Abstammung oder mangelnder Religiosität aberkennen. »Israel schützt seine Juden, jeden Tag, behauptet man. Aber eben nur seine Juden. Alle anderen, die sich von Israel körperlich fernhalten, sind keine wahren Juden, die sind nur Nutzjuden, die dafür gut sind, Israel im Ausland zu verteidigen, aus einem fehlgeleiteten Loyalitätsgefühl heraus, das ganz offensichtlich einseitig ist.«

Ohnehin sei es schwierig, das Judentum noch begrifflich und praktisch zu greifen. So, wie es mal war, gebe es das Judentum nicht mehr. Wenn wir heute übers Judentum sprechen, beschäftigen wir uns eigentlich nur mit hybriden Formen und Imitaten, schreibt Feldman. Im Spiegel-Interview gibt es dazu eine erhellende Passage, in der Feldman auf der Basis ihrer Erfahrungen in jüdischen Gemeinden in aller Welt deutlich macht, dass es keine einzigartige jüdische Identität gebe. Das Bild des einen jüdischen Lebens, dass es in Deutschland zu revitalisieren gebe, sei falsch.

Deborah Feldman | © Alexa Vachon

»Es gibt keine Gemeinschaft. Es gibt nur sehr viel Streit. Und das ist meistens ein Streit ums Geld – und um den dafür unentbehrlichen Alleinvertretungsanspruch. Da gibt es die alteingesessene deutsche Gemeinde, die sich mit Teilen der Politik und des deutschen Bürgertums verbündet hat. Es gibt die ehemaligen Kontingentflüchtlinge und ihre Vertreter, die allesamt selten eine selbstbewusste, authentische Beziehung zum Judentum haben, aber gern so tun. Dazu die Israelis, mit denen niemand so recht zu tun haben will, weil man ihnen nichts vorspielen kann. Und die von vielen deutschen Juden, die ein glorifizierendes Israelbild haben, nicht gemocht werden, weil ihr Israelbild realistischer ist. Dann sind da noch amerikanische Juden, die zunächst davon beeindruckt sind, wie die Deutschen ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben – und die dann nach einer Weile merken, wie stark der deutsche Judenfetisch ist.«

»Was wird es dann bedeuten, kulturell jüdisch zu sein, wenn das Judentum im Licht des radikalen Fundamentalismus stehen und keine andere Assoziationen mehr erlauben wird? Wie wird man sich im Judentum finden können, wenn man dafür auf seine liberalen Werte wird vollständig verzichten müssen?« Antworten auf diese Fragen hat Deborah Feldman nicht. Aber sie hat die Chuzpe, diese längst überfälligen Fragen zu stellen und damit die selbstgerechte innerdeutsche Debatte über die jüdische Identität und das Verhältnis zu Israel zu stören.

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