Film

Das Kino der alten weißen Männer ist tot

Seit der Oscar-Zeremonie 2021 sind alle großen Filmpreise an junge weibliche Regisseurinnen gegangen. Dies ist kein Zufall, sondern Folge von bewusst divers besetzten Jurys und der Müdigkeit der Filmbranche am männlichen Blick. Ein Kommentar.

Kaum waren die diesjährigen Oscars vergeben, meldete sich der enttäuschte alte weiße Mann, dass der vermeintlich wichtigste Filmpreis des Jahres an den falschen Film ging. Der Chefcineast vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel Andreas Borcholte klagte in seinem Beitrag, dass sich Hollywood »wie schon so oft in der Historie« nicht für das herausfordernde Kino, sondern »für die emotionale Zwangsjacke« entschieden hätte. Unter dem herausfordernden Kino verstand er die Netflix-Produktion »The Power of the Dog« der neuseeländischen Regieikone Jane Campion, die 1994 mit »Das Piano« den Oscar für das beste Drehbuch gewann. Im Freitag schrieb Filmkritikerin Barbara Schweizerhof, dass nicht zum ersten Mal »ein eher durchschnittlicher, netter Film« gewonnen hätte.

Emotionale Zwangsjacke ist ein starkes Wort für einen Film, der in überzeugender Manier Gehörlosen eine Bühne gibt, um zu zeigen, dass sie Menschen wie Du und ich sind. Ja, »Coda« funktioniert vor allem auf der erzählerischen Ebene, aber genau das soll der beste Film ja auch tun. Wer avantgardistisches Kino sucht, schielt in Hollywood ohnehin vorwiegend auf den Auslandsoscar, der in diesem Jahr an den Japaner Ryūsuke Hamaguchi und seine nachdenkliche Murakami-Verfilmung »Drive My Car« ging.

Betrachtet man mit etwas Abstand die jüngsten Preisvergaben bei den wichtigsten Filmfestivals, dann stellt man fest, dass sich ein Trend abzeichnet. Es sind junge Regisseurinnen, die auf den großen Bühnen der Filmwelt triumphieren. Und nein, es hat in Cannes, Venedig und Berlin nicht an großen Namen gemangelt. Und dennoch haben überall junge Regisseurinnen, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen, triumphiert.

In Cannes waren 2021 mit Paul Verhoeven, Sean Penn, Jacques Audiard und François Ozon einige große Namen im Wettbewerb vertreten. Die Jury unter Spike Lee, dem Begründer des Black New Cinema, entschied sich am Ende aber für Julia Ducournau und ihre alle Gendergrenzen überschreitende Vision »Titane«. Es ist das surreale Porträt einer Erotiktänzerin, die von einem Auto geschwängert wird und die Identität eines jungen Mannes annimmt. Am Triumph der jungen Französin mit ihrem erst zweiten Langfilm konnten ehemalige Berlinale-Gewinner wie Nadav Lapid oder Ashgar Farhadi ebensowenig ändern wie Publikumsliebling Wes Anderson. Auch der Japaner Ryūsuke Hamaguchi, der für seine Murakami-Verfilmung gerade mit dem Auslandsoscar geehrt wurde, musste sich hinten anstellen.

In Venedig gewann im letzten Jahr Audrey Diwan mit ihrem Abtreibungsdrama »Das Ereignis«, eine Verfilmung von Annie Ernaux’ gleichnamigen Buch. Der Film ist das Porträt einer jungen Frau, die im Frankreich der sechziger Jahre ungewollt schwanger wird und nach einem Ausweg sucht. Auch für Diwan war es erst ihre zweite Regiearbeit. Die Jury unter der Leitung des südkoreanischen Starregisseurs Bong Joon-ho verwies die Beiträge von Altmeistern wie Paolo Sorrentino, Pedro Almodóvar, Pablo Larraín oder Paul Schrader auf die Plätze. Auch der große Oscar-Favorit, Jane Campions Antiwestern »The Power of the Dog«, musste sich der überwältigenden Erzählung der jungen Französin geschlagen geben.

In Berlin entschied sich die Jury unter der Leitung des amerikanisch-indischen Filmemachers M. Night Shyamalan in diesem Jahr dafür, der jungen spanischen Regisseurin Carla Simón für ihren zweiten Langfilm »Alcarràs« den Goldenen Bären zu geben. Darin porträtiert die Spanierin eine Familie von Pfirsichbauern, deren Plantage einer Windkraftanlage weichen soll. Der offene Blick der Kinder gibt dem Film einen besonderen Zauber. Auch hier mussten sich arrivierte Regisseure wie Paolo Taviani, François Ozon, Andreas Dresen, Ulrich Seidl, Hong Sang-soo, Denis Côté und Rithy Panh damit abfinden, nicht den Preis für den besten Film zu bekommen.

Dass jetzt mit dem Gehörlosen-Drama »Coda« der amerikanischen Regisseurin Siân Heder der Publikumsliebling von Sundance 2021 mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde, erscheint da nur konsequent. Auch hier triumphierte eine junge Regisseurin mit ihrem Zweitling, während der zum Favoriten hochstilisierte Prärie- und Lonesome-Cowboy-Streifen von Jane Campion abgestürzt ist. Der Film erzählt die Geschichte der jungen Ruby, deren gehörlose Familie auf ihre Unterstützung angewiesen ist.

Welche Rolle bei all diesen Entscheidungen die Besetzung der Jurys spielen, ist natürlich Spekulation. Aber man kommt nicht umhin, festzustellen, dass auch diese diverser besetzt sind, nicht nur an ihrer Spitze, sondern auch darunter. In Cannes bestand die Jury unter Spike Lee mehrheitlich aus Frauen, in Venedig ließ sich Bong Joon-ho ebenfalls mehr Frauen als Männer an die Seite stellen, in Berlin waren M. Night Shyamalan drei Frauen und drei Männer zur Seite gestellt. Hier stach besonders die Präsenz von Filmschaffenden mit postkolonialen Bezügen heraus. Auch bei den diesjährigen Academy Awards mag die Zusammensetzung der Jury eine Rolle gespielt haben. Nachdem zuletzt nämlich die vorwiegend weiß und männlich besetzte Academy in der Kritik stand, versprach die Organisation Besserung. Nach eigenen Angaben hatte sie den Mitgliederanteil der People of Color in diesem Jahr verdoppelt und den der Frauen auf ein Drittel angehoben.

Siân Heder, 44 Jahre alt, Audrey Diwan, 42, Carla Simón, 35, und Julia Ducournau, 38 haben das zurückliegende Kinojahr gerockt. Problemlos kann man hier auch noch die 39-jährige Chloé Zhao hinzuzählen, die mit »Nomadland« im vergangenen Jahr den Oscar für den besten Film erhalten hat und am Anfang dieses Filmjahres der Frauen steht. Diese jungen Regisseurinnen haben den (meist) männlichen Dinos ihrer Zunft den Rang abgelaufen. Sie alle haben in ihren Filmen Menschen in den Blick genommen, die marginalisiert, übersehen, ignoriert und diskriminiert werden. Ihre Triumphe zeigen, dass das Kino der alten weißen Männer tot ist. Ein Kino, das mit pseudointellektuellem Geraune daherkommt, die Zuschauer gern mal stundenlang in den Kinosessel zwingt und jene für zu blöd erklärt, die mit dem bedeutungsschwangeren Nichts des Transzendenten wenig anfangen können.

Die Zukunft des Kinos gehört dem offenen und emphatischen Blick auf jene, die oft übersehen werden. Sie gehört jenen, die etwas zu erzählen haben und nicht einfach nur erzählen wollen. Sie werden nach den Kinosälen auch die Jurys nebst Vorsitz übernehmen. Man darf sich darauf freuen.