Die italienischen Brüder Taviani haben bei den 62. Internationalen Filmfestspielen in Berlin den Goldenen Bären gewonnen. Ihr außergewöhnlicher Beitrag »Cesar must die« ist in diesem Jahr nicht der einzige Beitrag, der mit einem Appell an die Menschenrechte und Rekurs auf Aufklärung reüssierte.
Dass die italienischen Brüder Paolo und Vittorio Taviani einen Bären abräumen würden, war nicht allzu überraschend – wenngleich das deutsche Feuilleton seiner Enttäuschung ob der Vergabe des Goldenen Bären für ihren Film Cesar must die (dt. Cäsar muss sterben) nur irritiert kommentierte. Nicht nur hätte es politischere Filme sondern auch jüngere, vielversprechendere Filmemacher gegeben, die den Preis verdient hätten. Nun, der Goldene Bär ist weder ein Politpreis noch ein Preis junger Künstler, insofern sind diese Klagen kaum nachvollziehbar. Die Tavianis lassen in ihrem Schwarz-Weiß-Film die Proben für ein Theaterstück im Hochsicherheitstrakt der römischen Strafanstalt Rebbibia noch einmal Revue passieren. Gemeinsam mit den Gefangenen hatten sie Shakespeares Julius Cäsar einstudiert, ein Drama, in dem die Verschwörung gegen den römischen Feldherrn und die politisch-moralischen Implikationen im Vordergrund stehen. Die Tavianis kehren in ihrem Film die menschliche Seite der Gefangenen hervor, zeigen sie als für Kultur empfängliche und Empathie empfindende Individuen, die alle an ihrer eigenen Geschichte zu tragen haben – jeder auf seine Weise. Über den klassischen Text werden sie mit ihren eigenen Verbrechen konfrontiert. Und welch ein cineastischer Moment, wenn standhafte Mafiosi bewegt die großen Fragen der Menschheit verhandeln. Das Stück des englischen Dramatikers verwandelt sich in ihre Lebenserzählung, der klassische Stoff wird plötzlich im Hier und Jetzt greifbar. Die Proben der Häftlinge werden zur eigentlichen Aufführung. Im genialen Zusammenschnitt der Bilder erlebt der Zuschauer eine einmalige Aufführung, an deren Anfang und Ende Sequenzen der tatsächlichen Aufführung stehen.
Csak a szel – Just the wind von dem ungarischen Regisseur Benedikt (Bence) Fliegauf hat den Großen Preis der Jury gewonnen. Darin erzählt er vor dem Hintergrund einer Mordserie an Roma in seinem Heimatland vom prekären Dasein dieser in nahezu allen europäischen Staaten diskriminierten Bevölkerungsgruppe. Fliegauf reicht dafür ein Tag im Leben einer in einer Waldsiedlung lebenden Roma-Familie, um dem Zuschauer die permanente Bedrohung, der Roma tagtäglich ausgesetzt sind, fast physisch nahezubringen. Hinter jedem Baum lauert Gewalt, die nächste Demütigung ist schon spürbar, während die vorhergehende noch nachwirkt. Fliegauf romantisiert nicht das Bild der Roma als aufregendes Vagabundendasein, sondern zeigt es ungeschönt als brüchige Existenz ohne jede Sicherheit. Somit ist Czak a szel der politische Film zur Stunde und hat Fliegauf neben dem Silbernen Bären auch den Friedensfilmpreis der Berlinale eingebracht. In der Begründung der Friedensfilmpreisjury heißt es: »Es gelingt ihm seine Figuren in all ihrer Gebrochenheit und Individualität zu zeigen. Csak a szel schafft Bilder, die in ihrer ästhetischen Genauigkeit und humanistischen Tiefe nachhaltig beeindrucken: wie der Sohn den Leichnam des toten Schweins beerdigt, das der am Vortrag ermordeten Familie gehörte, weil es das einzige ist, was er tun kann, wie die Tochter die Vergewaltigung einer Mitschülerin beobachtet und nicht einschreitet, sondern sich abwendet mit einem Blick, der sich erinnert, der weiß, dass es sie selbst sein könnte, und wie dieselbe Tochter das Kind einer verwahrlosten Familie von ihrer betrunkenen Mutter und dem dahindösenden Vater mit zum Baden nimmt, ein kurzer Moment des Glücks, der nur wie ein Aufschub des Schrecklichen wirkt, das folgt.«
Christian Petzold gewann für seinen Beitrag Barbara den Regie-Bären. Er erzählt darin die Geschichte einer Ärztin, deren Ausreiseantrag aus der DDR abgelehnt ist und die ihre Zukunft dennoch nur jenseits der deutsch-deutschen Grenze sieht. Während ihr Freund in Westdeutschland die heimliche Flucht vorbereitet, versucht Barbara, in einer Provinzklinik in der Unauffälligkeit abzutauchen. Doch zieht Barbara die Aufmerksamkeit ihres Chefs auf sich. Ist es Liebe? Oder ein Auftrag der Stasi? In großartigen Kinobildern erzählt Petzold hier eine Geschichte aus der DDR, die sich nicht auf die politischen Verhältnisse konzentriert, sondern die die Menschen und ihr Leben in den Blick nimmt.
Komona ist noch keine dreizehn Jahre alt, als ihr Dorf von Rebellen überfallen und sie entführt wird. Als Kindersoldatin muss sie einem »Kommandant Rebelle« dienen. Als sie als einzige einen Überfall von Regierungstruppen überlebt, werden ihr magische Fähigkeiten nachgesagt. Sie wird zur »War Witch«, zur Kriegshexe des obersten Anführers mit dem Namen »Großer königlicher Tiger«. Der Film des kanadischen Regisseurs Kim Nguyen erzählt in beklemmenden Bildern von den Schrecken des Bürgerkriegs, von der skrupellosen Rekrutierung von Kindersoldaten und davon, welch große Rolle Geisterglaube und Hexenmagie in Afrika immer noch spielen. Für die Verkörperung der heranwachsenden Komona gewann Rachel Mwanza zu Recht den Silbernen Bären. Sie umgibt im Film eine Aura des stillen, aber permanenten Widerstands verbunden mit der Hilflosigkeit eines Kindes angesichts des über dem Kopf baumelnden Damoklesschwertes. Rebelle. War Witch ist ein aufrüttelnder und aufklärender Film über einen Kontinent, der sich nach Frieden und Humanität sehnt.
Die Aufklärung steht auch im Zentrum des dänischen Beitrags En Kongelig Affǣre (dt. Die Königin und der Leibarzt) von Nikolaj Arcel. Darin erzählt er die Geschichte des deutschen Arztes Johann Friedrich Struensee am dänischen Königshof unter Christian VII. 2001 hatte bereits der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist seinen Roman Der Besuch des Leibarztes diesem Thema gewidmet – um einiges besser als der Film, wie das Feuilleton nun meinte. Arcel lässt in seinem Wettbewerbsbeitrag die Königin Caroline Mathilde als Erzählerin aufwarten, die ihren Kindern kurz vor dem eigenen Ableben über die tatsächlichen Umstände ihrer Verbannung in Kenntnis setzen will. Eine Affäre mit Struensee wurde ihr und dem Arzt zum Verhängnis – nicht weil ihr geisteskranker Mann Christian VII. dies nicht ertragen hätte, sondern weil der aufgeklärte, freidenkerische Struensee und die gegen den christlich-konservativen Hofstaat rebellierende Königin Caroline einem Komplott im Königshaus zum Opfer gefallen sind. Dabei stehen zunächst alle Zeichen auf Aufklärung. Als Struensee an den Hof Christians VII. kommt, wird dieser von seinem Hofstaat an der Nase herumgeführt. Der Arzt hilft dem König, sich aus dem eisernen Griff von Adel und Klerus zu befreien. Struensee gewinnt an Einfluss am Hof, baut sich einen kleinen Beraterkreis mit radikalen Freidenkern und Reformern auf und übernimmt nach und nach die Staatsgeschäfte. Er setzt Presse- und Meinungsfreiheit durch, schafft die Privilegien des Adels ab, beendet Folter und Leibeigenschaft, reformiert das Schulwesen und stellt das Staatswesen in den Dienst der Menschen. Zugleich beginnt er aber eine leidenschaftliche Affäre mit der Königin, die ihm zum Verhängnis wird. Arcels Film ist ein sehenswerter Film über die Anfänge der Aufklärung und die Hindernisse, die es zu überwältigen galt, um zu einem menschlicheren Miteinander zu gelangen. Zwei silberne Bären hat En Kongelig Affǣre überraschend gewonnen. Nikolaj Arcel und Rasmus Heiterberg wurden für ihr Drehbuch ausgezeichnet und Mikkel Boe Følsgaard für seine grandiose Verkörperung des geisteskranken dänischen Königs, mit der er sich durchaus mit Leonardo di Caprio als geistig behinderter Arnie Grape in Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa messen kann.
Die Schweizerin Ursula Meier gewinnt wie prophezeit mit L’enfant en haut einen Silbernen Bären. Die Jury verleiht ihr einen Sonderpreis, denn ihr Film erzählt eine außergewöhnliche Geschichte mit metaphorischem Tiefgang. Der zwölfjährige Simon (Kacey Mottet Klein) fährt jeden Tag mit der Seilbahn in die Schweizer Berge. Dort beklaut er Touristen. Sonnenbrillen, Helme, Handschuhe, Ski – Simon ist Experte und weiß, was zu stehlen sich lohnt. Die Winterutensilien vertickt er meistbietend unten im Tal. Dort wohnt Simon mit seiner großen »Schwester« (Léa Seydoux), um die er sich kümmern muss. Er kauft für sie ein, schleppt sie betrunken nach Hause und versorgt sie mit dem nötigsten. Nicht die Lust am Diebstahl, sondern die Armut macht Simon zum frech-dreisten Kleinganoven. Das Fürsorgeprinzip wird hier auf den Kopf gestellt. Der erst dreizehnjährige Kacey Mottet Klein, dem Meiers Kamera permanent auf den Fersen ist, ist in der Rolle dieses kindlichen Diebes eine Entdeckung dieses Festivals. Ursula Meier blickt in L’enfant d’en haut im sozialrealistischen Stil der Dardenne-Brüder hinter die Kulissen der romantischen Skigebiete und zeigt eine Welt, die man nicht sehen soll. Und die man auch nicht sieht, wenn man nicht genau hinschaut. Eine Welt, die sich in sämtlichen Bezügen in Oben und Unten teilt. Während oben die Sonne scheint, liegt das Tal im Schatten der industriellen Abgase. Während die Schönen und Reichen oben in den Bergen ihrem Vergnügen nachgehen, rackern unten im Tal all jene, die sich das nicht leisten können. Diese Welten verbinden nur die geografischen Koordinaten. Ursula Meier überträgt diese horizontale Geografie in die Vertikale, bringt sie in die Sequenz ihrer Bilder und in die Geschichte von Simon. So ermöglicht sie einen neuen Blick auf die alpine Schönheit.
Ein mögliches Fazit der diesjährigen Berlinale muss lauten, dass die Laienschauspieler zurück sind. Sowohl der Siegerfilm Cesar must die als auch Czak a szel und Rebelle – War Witch sind mit Laienschauspielern gedreht.
Bleibt noch anzumerken, dass es durchaus überraschend ist, dass religiös angereicherte Beiträge wie das Klosterdrama Meteora, die auf tatsächlichen Ereignissen basierende Geschichte der Entführung einiger Touristen und christlicher Missionare durch muslimische Abu-Sayyaf-Rebellen in Indonesien unter dem Titel Captive oder der deutsche Beitrag Gnade (Der Titel ist Programm) leer ausgegangen sind. Denn folgt man den Verschwörungstheorien der Berlinale, denen zufolge die Filme als potenzielle Gewinner ausscheiden, die
- … im Wettbewerb am Nachmittag laufen (Ein voller Bauch vergibt keine guten Noten)!
- … als dezidierte Männer- oder Frauenfilme angesehen werden (Soll ja allen gefallen)!
- … von deutschen Regisseuren sind (Deutsche Beiträge gewinnen bei einem deutschen Festival nicht)!
… dann bleiben am Ende nur noch wenige Filme übrig. Und von denen gewinnt dann dem ungeschriebenen Berlinale-Gesetz zufolge der Film, der Liebe und Religion am besten vereint. Demzufolge hätte wohl Meteora, die Geschichte eines Mönchs und einer Nonne, die einander näherkommen, den Goldenen Bären abräumen müssen. Nun muss sich die Journaille ein neues Deutungsgesetz der Berlinale-Preisvergabe schreiben.
[…] Wettbewerb der Berlinale teilnehmen wie auch der französische Filmemacher André Téchiné. Der Gewinner des Großen Preises der Jury von 2012 Bence Fliegauf (Just the Wind) wird übrigens in der Forum-Sektion seinen neuen Film Lily Lane […]
[…] und Dorothea Tieck konnten daran nichts ändern –, sei mal dahin gestellt. Einzig die zahlreichen filmischen Adaptionen (unvergesslich ist wohl Romeo and Juliet (1996) mit Claire Danes und Leonardo DiCaprio oder der […]
[…] Für die beste darstellerische Leistung in der Nebenrolle wurde Lilla Kizlinger ausgezeichnet, die in Bence Fliegaufs Kurzerzählungssammlung »Forest – I See You Everywhere« eine Tochter spielt, die ihrem Vater den Vorwurf macht, am Tod der Mutter schuld zu sein. Damit wird erstmals bei einer Berlinale kein männlicher Darsteller ausgezeichnet, was am Rande bemerkt gar nichts mit Cancel Culture zu tun hat. Fliegauf ist ein gern gesehener Gast in Berlin, 2012 gewann er mit seinem Roma-Drama »Nur der Wind« den Großen Preis der Jury. […]
[…] der Kinder gibt dem Film einen besonderen Zauber. Auch hier mussten sich arrivierte Regisseure wie Paolo Taviani, François Ozon, Andreas Dresen, Ulrich Seidl, Hong Sang-soo, Denis Côté und Rithy Panh damit […]