Der spanische Regisseur Pedro Almodóvar fragt in seinem neuen Film »Die Haut, in der ich wohne« nach der Identität des Menschen.
Wie eine zweite Haut sitzt der bildschönen Vera (Elena Anaya) der Baumwollanzug, den ihr der Plastinator Robert Ledgard (Antonio Banderas) gibt. Sie soll ihn tragen, um das zu schützen, was darunter liegt – ihre Haut. Diese ist im wahrsten Sinne des Wortes eine zweite, im heimischen Labor entwickelt von Dr. Ledgard. Freiwillich scheint Vera nicht in seinem Haus zu sein, ihr einziger Kontakt zur Außenwelt besteht in einer Gegensprechanlage, über die sie mit Ledgards Haushälterin Marilia (Marisa Paredes) kommuniziert. Wie ist sie dort hingekommen? Was treibt Ledgard zu seinem medizinischen Experiment an? Und wie so oft bei Almodóvar: In welcher Beziehung steht das Personal seines neuen Filmes Die Haut, in der ich wohne zueinander? Darum geht es in seinem neuerlichen Meisterwerk, das heute, als Thriller angekündigt, in den deutschen Filmhäusern anläuft.
Doch weniger als ein Thriller ist das auf dem gleichnamigen Roman des Franzosen Thierry Jonquet ein Horrorfilm erster Klasse, einer, der kein Blut und keine wilden Splatterszenen braucht, sondern der in der grandiosen Inszenierung eines kaltblütigen Rachefeldzuges unter die Haut geht. Im Zentrum steht die Frage, was das Individuum ausmacht, es definiert, ihm Charakter und Seele gibt? Ist es tatsächlich die Haut? Oder sind es vielleicht die Augen, die Almodóvar hier im Falle von Vera, die ihrer ersten Haut beraubt und in eine zweite gesteckt worden ist, immer wieder in Nahaufnahme zeigt? Kann man seine Identität überhaupt bewahren, wenn man ihr physisch beraubt wird?
Pedro Almodóvar ist zweifelsohne einer der großen Regisseure unserer Zeit. Auch wenn nur wenige Cineasten sein Frühwerk kennen, ist er spätestens seit seiner Komödie Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs (1988), die mehrere Europäische Filmpreise erhielt und als Bester Fremdsprachiger Film für den Oskar nominiert wurde, ein Großer seiner Zunft. Mit Filmen wie Alles über meine Mutter (1999), Hable con ella – Sprich mit ihr (2002), La Mala Education – Schlechte Erziehung (2004), Volver – Zurückkehren (2006) oder Zerrissene Umarmungen (2009) hat er sich weltweit ein Stammpublikum erobert. Humanisten und Atheisten wird insbesondere La Mala Education in Erinnerung sein, in dem Almodóvar den Missbrauch von Schutzbefohlenen in der katholischen Kirche thematisierte.
Pedro Almodóvar beweist mit seinem neuen Film einmal mehr, dass er ein Meister der Dekonstruktion ist, an den vielleicht nur der Mexikaner Alejandro González Iñárritu (Amores perros, 21 Gramm, Babel, Biutiful) heranreicht. Wie so oft durchbricht er auch in seinem neuen Film die Regeln der Chronologie, zerstückelt seine geschickte und setzt sie neu zusammen, um den Zuschauer möglichst lange in diesem ebenso faszinierenden, wie gruselig mit anzusehenden Rätselspiel zu halten. Subtil baut er so die Spannungskurve des Films auf, um deren Herabfallen möglichst lange hinauszuzögern.
Um hinter die Kulissen des Filmes zu blicken, bedarf es zumindest im Ansatz der chronologischen Rekonstruktion der Ereignisse. Ausgangspunkt von Almodóvars wohl abgründigstem Film ist ein Autounfall, in dem Ledgards Frau Gal nur schwer verletzt überlebt. Brandnarben haben ihr einstmals schönes Gesicht entstellt. In nächtlichen Experimenten versucht Ledgard im heimischen Labor, eine zweite Haut zu entwickeln, die seiner Frau nicht wieder zu ihrem Gesicht (und ihrer Identität?) verhelfen, sondern sie künftig auch immun gegen die Anfechtungen der Welt machen würde. Doch er ist nicht schnell genug. Nach Monaten in einem abgedunkelten Zimmer im Haus der Familie, aus dem alle Spiegel entfernt sind, erblickt seine Frau das Spiegelbild ihres versehrten Antlitzes in einer Fensterscheibe. Dies nicht ertragend stürzt sich Ledgards Frau in den Tod. Die gemeinsame Tochter Norma findet die Leiche im Garten des Anwesens und erleidet einen Schock, der sie nicht mehr loslassen wird. Auch sie wird sich Jahre später aus dem Fenster stürzen.
Von diesem doppelten Trauma besessen, treibt Robert Ledgard seine Experimente voran. Heimlich und entgegen der medizinethischen Regeln hat er menschliche und tierische Gene gekreuzt. Mittels dieser Transgenese, so das Zauberwort, ist es ihm gelungen, eine widerstandsfähige Haut zu schaffen. Seine Vorträge zum Thema sorgen zwar für sein hohes Ansehen in der biotechnischen Zunft, dem Sprung von der Theorie in die Praxis stehen aber die Regeln seines Instituts im Weg. Ein praktisches Erproben der Funktionalität seiner genetisch manipulierten Haut, die er nach seiner Frau benennt, wird ihm verboten. Über diese aus seiner Sicht unverständliche und naive Haltung seiner Kollegen setzt sich Ledgard hinweg. Er sucht sich ein Forschungsobjekt, an dem er seine makellose Epidermis erproben kann.
An dieser Stelle werden nicht nur naheliegende, medizinethische Fragen im Stil des Wie weit darf Mensch gehen? Auf den Plan gerufen, sondern hier setzt in der Chronologie der Aspekt des Grauens an. Im Stile eines Jean-Babtiste Grenouille geht Ledgard seiner Besessenheit ohne Rücksicht auf Verluste nach, entführt einen jungen Mann und macht aus dem attraktiven Vicente (Jan Cornet) ein falsches Abbild seiner verstorbenen Frau. Dass er diese ausgerechnet Vera, die »Wahrhaftige« nennt, macht aus der Lüge ein Fanal. Antonio Banderas, von Almodóvar entdeckt und nach 21-jähriger Abstinenz zurück im Filmkosmos seines Entdeckers, spielt diesen kalten Dr. Frankenstein, der seinen Schmerz mit Luxus betäubt, grandios. Niemals entgleitet ihm der Gesichtszug, formale Strenge prägt sein Antlitz, aus dem uns menschliche Kälte und Berechnung immerzu anblicken.
Ledgards Experiment ist anfangs seine persönliche Rache an dem jungen Mann, der vermeintlich seine Tochter vergewaltigt hat. Ein Missverständnis, eine Fehldeutung – denn nahe gekommen sind sich Vicente und Norma durchaus, von Drogen berauscht. Doch eine Vergewaltigung gab es nie. Doch je länger sich die von Ledgard betriebene Transformation seines Versuchsobjekts vom Mann zur Frau vollzieht, desto stärker fühlt sich der Arzt zu seiner geschaffenen Kreatur hingezogen. Einzig die Haushälterin Marilia scheint die Gefahr zu wittern, die in der frappierenden Ähnlichkeit von Vera zu Gal liegt.
Die vollzogene Geschlechtsumwandlung, man ahnt es, ist eine Variante der Transsexualität, die Almodóvar in seinen Filmen immer wieder zum Thema macht. Nur ist sie diesmal nicht der Beweis menschlicher Selbstbestimmung, sondern eben Beleg des Entzugs selbiger. Wie Jan Cornet und Elena Anaya diesen Entzug und den inneren Konflikt des seiner Identität beraubten Opfers spielem, ist ganz großes Kino. In Cornets Augen spiegelt sich immer wieder die Fassungslosigkeit darüber, was mit ihm vollzogen wird. Nicht Angst, sondern Horror blickt uns an.
Elena Anaya, dem deutschen Publikum bekannt aus dem Drama Lucia und der Sex (2001) und der cineastischen Inszenierung des Romans Van Helsing (2004), verkörpert nach diesem Horror die innere Revolution, das die aufgestülpte falsche Identität verweigernde Wesen. Mit allen Kräften versucht Vera, den Vincent, der in ihr steckt, zu bewahren. Mithilfe von Yoga flüchtet sie sich aus der sie umgebenden, falschen Welt in ein inneres Exil. Sie gestaltet Skulpturen mit den Merkmalen beider Geschlechter nach dem Vorbild der Künstlerin Louise Bourgeois aus den Stofffetzen der femininen Kleider, die ihr Ledgard zukommen lässt und zerstört so in einem Akt der Revolte dessen Ideal. Auf die Wände ihres Zimmers schreibt und zeichnet sie ihre Gedanken und Erinnerungen, notiert Zitate, bildet ihre inneren Zustände und Gefühlslagen ab. Nichts will sie vergessen. Indem sie den Moment festhält, bewahrt sie sich die Vergangenheit. Es ist nicht nur ein Seelenprotokoll oder ein Gefängnistagebuch, es ist das Leben vor und nach Ledgard. Vincent und Vera, zwei Namen, aber doch nur ein Mensch.
Anaya hatte bereits eine Nebenrolle in Almodóvars Drama Sprich mit ihr, mit ihrer Hauptrolle in Die Haut, in der ich wohne ist sie zweifellos in den Kreis der Almodóvar’schen Musen, neben Granden wie Carmen Maura, Victoria Abril und Penélope Cruz, aufgestiegen. Dass die Figur der Vera auch zunehmend Penélope Cruz ähnlich sieht – die für Almodóvar scheinbar ebenso wenig Zeit hatte wie für Lars von Trier, der sie für Melancholia engagieren wollte – und auch von Dr. Ledgard ihren Namen erhält (Vera Cruz), sorgt bei Anhängern des Spaniers ganz sicher für einiges Schmunzeln.
Für Verwirrung sorgt eine Spielform des Brudermords und der blutbefleckten Mutter, die im Film auftaucht und dessen innere Ordnung durcheinanderbringen muss, ansonsten aber wenig in die Handlung und das Innenleben der Charaktere, abgesehen von Marilia, eingebunden ist.
Almodóvars Filme wandeln oft zwischen Slapstick und Tiefgang, Komödie und Film Noir, spielen mit einer Ästhetik zwischen erschlagender Schönheit und absurder Hässlichkeit. Mit Die Haut, in der ich wohne hat er nun einen Film geschaffen, aus dem der Witz und das Komödienhafte verbannt sind. Almodóvars Bildästhetik ist auch hier von erschlagender Schönheit, doch sie ist nur ein Trugbild – so wie der Name »Vera« an der Oberfläche über ihre wahre Identität hinwegtäuscht, in der Tiefe diese aber erst hervorhebt. Erst durch die Schönheit wird das Hässliche an dieser Geschichte deutlich. Eine Geschichte, die noch lange nachwirkt.
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