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Auserlesene ukrainische Literatur

Serhij Zhadan

Der 1974 in Charkiw lebende Schriftsteller Serhij Zhadan ist wohl der bekannteste ukrainische Gegenwartsautor und aktuell einer der gefragtesten. Mit seinem Roman »Die Erfindung des Jazz im Donbass«, der im Jahr der Krim-Annexion erschien, gelang ihm hierzulande sein Durchbruch. Der Roman ist eine anarchistische Feier der ukrainischen Kultur, handelt von einem Werbeunternehmer, der nach seinem verschwundenen Bruder sucht und dessen Tankstelle vor der Übernahme eines Oligarchen retten will. Dann tritt die Liebe in sein Leben und der Text beginnt zu singen. Gemeinsam mit seinen Übersetzer:innen Sabine Stöhr und Juri Durkot erhielt er für den Roman den Brücke-Berlin-Preis.

Serhij Zhadan | Foto: Karina Ri

Sein von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr übertragener Roman »Mesopotamien«, der jetzt neu aufgelegt wird, ist ein Porträt seiner Heimatstadt Charkiw, die neben Mariupol die von russischen Luftangriffen am stärksten betroffene ukrainische Stadt ist. Hier klingt schon der Stolz und die Widerstandskraft der Ukrainer:innen an. »Auf der Straße werde wieder geschossen, sagt sie noch, der Krieg gehe weiter, und niemand habe die Absicht, sich zu ergeben«, heißt es da. Der Krieg im Donbass ist auch Thema in dem von Claudia Dathe übersetzten Band »Warum ich nicht im Netz bin«, in dem neben Gedichten auch sein Luhansker Tagebuch abgedruckt ist.

2018 wurden Stöhr und Durkot mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für ihre Übersetzung von Zhadans Roman »Internat« ausgezeichnet. Darin will ein junger Mann seinen Neffen aus seinem Internat im Kriegsgebiet abholen. Die beiden begegnen Flüchtlingstrecks und geraten in Kampfhandlungen, die Landschaft wird mehr und mehr zur apokalyptischen Szenerie, die klingt, als blickte man heute auf die kriegsumwitterte Ukraine. »Die Stadt ist nicht zu sehen, aber von dort, wo sie liegt, steigt schwarzer Rauch auf. Schon seit gestern steigt er auf, als wäre irgendwo die Erde aufgebrochen und etwas ganz Übles dringe heraus, und keiner weiß, wie man dieses Üble aufhalten könnte, weil niemand weiß, wie es so weit kommen konnte, dass die Erde aufgebrochen ist und diese ganze Schwärze ausstößt, die jetzt über den Januarhimmel kriecht und alle Öffnungen und Spalten füllt.«

Wer in der Zeit weiter zurückreisen und aus der unmittelbaren Kriegsgegenwart raus will, dem seien seine von Claudia Dathe übersetzten Essays und Erzählungen in »Die Selbstmordrate bei Clowns« empfohlen, die zudem noch mit Fotos von Jacek Dziaczkowski reich bebildert sind. Sie handeln von Bergarbeitern im Donbass, befassen sich mit der Mittelschicht in Kiew, porträtieren die Kiffer von Charkiw und ganz normale Leuten auf den Straßen Lembergs. Sie erzählen davon, wie schnell die Verhältnisse die Hoffnungen des Aufbruchs manchmal umschlagen lassen in eine Mischung aus Melancholie und lakonischer Selbstbehauptung.

Die Polnische Akademie der Wissenschaften hat Serhij Zhadan Medienberichten zufolge am 1. März 2022 für den Literaturnobelpreis nominiert.


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8 Kommentare

  1. […] propagiert, dass die Ukraine ein künstlicher Staat ohne eigene Kultur und Geschichte sei. Bereits in einem Beitrag zur zeitgenössischen ukrainischen Literatur hatte ich gezeigt, dass dies U… Die Filmreihe »Perspectives of Ukrainian Cinema« beweist nun für das Kino eindrucksvoll das […]

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