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Auserlesene ukrainische Literatur

Andrej Kurkow

1961 in Russland geboren lebt Kurkow seit seiner Kindheit in Kiew und zählt sich zur russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine. Er sprach sich früh gegen die russische Besetzung der Ostukraine und der Krim aus, »weil ich will, dass das Land, in dem ich lebe, ein Rechtsstaat ist«. Kurkow ist ein Anhänger der Ereignisse des Euro-Maidan, hat das Geschehen hautnah miterlebt. In seinem »Ukrainischen Tagebuch« schildert er die Tage des Umbruchs in seiner Heimat aus persönlicher Perspektive.

Andrej Kurkow bei einer Buchvorstellung in Paris | Foto: Georges Seguin

Weltweit bekannt geworden ist er mit seinem von Christa Vogel übersetzen Roman »Picknick auf dem Eis«, der sich um einen mittellosen Kiewer Schriftsteller dreht, der mit einem Pinguin zusammenlebt. Zum Überleben verfaßt er für eine Tageszeitung Nachrufe auf berühmte Persönlichkeiten, allerdings bevor diese gestorben sind. Das sorgt im Kiew der Neureichen und Kriminellen für Aufruhr. Diese satirische Kriminalgeschichte findet in in dem Roman »Pinguine frieren nicht« eine Fortsetzung, den Sabine Grebing ins Deutsche übersetzt hat. Beide Bücher sind Anfang der 2000er erschienen und setzen sich mit dem postsowjetischen Umbau der wirtschaftlichen Strukturen unter mafiösen Vorzeichen auseinander.

Seither sind viele Romane erschienen, in denen er immer wieder in die Zeit der Sowjetunion eintaucht, aber auch die Enttäuschungen der Ukrainer:innen in den Blick nimmt. In »Der Gärtner von Otschakow«, von Sabine Grebing übersetzt, lernen wir einen ehemaligen Militär kennen, der Mitte der 50er Jahre am Schwarzen Meer entlang reist, in »Jimi Hendrix live in Lemberg«, von Johanna Marx und Sabine Grebing ins Deutsche übertragen, um den privaten Anarchismus hinter dem Eisernen Vorhang. In den von Claudia Dathe übersetzen Romanen »Die Kugel auf dem Weg zum Helden« und »Die Welt des Herrn Bickford« vollzieht er magisch-realistische, augenzwinkernde Reisen durch die Sowjetunion. In seinem von Claudia Dathe übersetzen Roman »Kartografie der Freiheit« beschließen drei junge Paare, nach Westeuropa zu gehen und ihren Traum einer besseren Zukunft zu verfolgen. Doch die großen Hoffnungen werden enttäuscht und statt der großen Freiheit erleben sie Armut, Ausgrenzung und Zusammenbruch. Wer eine Ahnung davon bekommen will, wie viel Schmerz und Zweifel an der europäischen Solidarität nach dem Krieg bleiben wird, bekommt hier eine Ahnung.

Einen klaren Bezug zur Ukraine-Krise hat sein letzter Roman »Graue Bienen«, übersetzt von Johanna Marx und Sabine Grebing. Im Mittelpunkt steht der ukrainische Bienenzüchter Sergej, der dort lebt, wo ukrainische Kämpfer und prorussische Separatisten Tag für Tag aufeinander schießen. Im Donbass-Becken überlebt er nur, weil er sich aus allem raushält und sich auf seine Bienen konzentriert. Allerdings ist er auf seinen Erzfeind Paschko angewiesen, der zu den Separatisten gehört. Und je näher das Kriegsgeheul kommt, desto mehr zieht es ihn in die Ferne. »Er aber würde, wenn der Krieg weiterging, das Dorf Paschka überlassen und seine Bienen, alle sechs Stöcke, dorthin bringen, wo kein Krieg war. Wo es auf den Feldern keine Explosionskrater, sondern Blumen oder Buchweizen gab, wo man unbeschwert und furchtlos durch den Wald, das Feld, die Dorfstraße gehen konnte. Wo viele Menschen waren und einem das Leben allein wegen ihrer Menge und ihrer Sorglosigkeit wärmer vorkam, auch wenn sie einen im Vorübergehen nicht anlächelten.« Je länger die Reise geht, umso offensichtlicher wird der Kontrast zwischen der natürlichen Ordnung des Bienenstaates und der in sich zusammenbrechenden ukrainischen Gesellschaft, dem beruhigenden Summen der Natur und dem bedrohlichen Grollen des Krieges. Ein nachdenklicher und hochpolitischer Roman.


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8 Kommentare

  1. […] propagiert, dass die Ukraine ein künstlicher Staat ohne eigene Kultur und Geschichte sei. Bereits in einem Beitrag zur zeitgenössischen ukrainischen Literatur hatte ich gezeigt, dass dies U… Die Filmreihe »Perspectives of Ukrainian Cinema« beweist nun für das Kino eindrucksvoll das […]

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