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Auserlesene ukrainische Literatur

Yevgenia Belorusets, Kateryna Babkina, Natalka Sniadanko, Maria Matios

Die Fotografin, Künstlerin und Autorin Yevgenia Belorusets ist 1980 geboren und lebt in Kiew und Berlin. Sie beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit den Schnittstellen von Kunst, Medien und Gesellschaft. In ihrem für den Internationalen Literaturpreis nominierten und von Claudia Dathe übersetzten Band »Glückliche Fälle« sind Kurzgeschichten versammelt, die Menschen zwischen Kiew und dem Donbass porträtieren. Die Texte beruhen auf Begegnungen und Gesprächen, die sie auf ihren Recherchereisen geführt hat. Belorusets nutzt diese Begegnungen als Ausgangspunkt einer künstlerischen Gestaltung, die sie »hyperrealistisch, nicht dokumentarisch, und durch Fotos kontrastiert«, wie es in der Jurybegründung zur Nominierung damals hieß. Oder um es mit Belorusets eigenen Worten zu sagen: »Sie haben eine Sammlung von Texten vor sich, die eine fotografische Tiefe haben, etwas, das sich der endgültigen Kon­trolle durch die Autorin entzieht: die Materie von Gewesenem, von Begegnungen, Gesprächen, Geschichten.«

In eindringlicher Sprache und dem fotografischen Blick fürs Detail fängt die ukrainische Künstlerin die Stimmung in ihrem Land ein, »in dem Krieg herrscht und die unverwüstliche Alltagsroutine zur Groteske verkommt«, so die Ankündigung. Ihre Figuren heißen Swetlana, Lena und Xenia, arbeiten im Nagelstudio, plaudern im Café oder bereiten die Revolution vor. Das Leben von Belorusets ukrainischen Protagonistinnen geht seinen Gang, in den Städten wie auf dem Land. Nur selten, schemenhaft, schieben sie sich in die äußeren Winkel des vom Alltag ausgefüllten Blickfelds – die Bürgerwehren, die Soldaten, das Blut. Die Realität des seit Jahren in der Ostukraine schwelenden Kriegs sickert langsam, aber stetig in das Leben der Menschen, an dem Belorusets’ in teils traumartigen und oft absurden Szenen teilhaben lässt. Die Fotos, die der Band enthält, stammen aus Yevgenia Belorusets’ Fotoserien »Der Krieg im Park« und »Und ich behaupte: Der gestrige Tag hat noch nicht begonnen«. Der Titel »Glückliche Fälle« ist natürlich eine bittere Ironie angesichts dieses faszinierend-deprimierenden Panoramas einer Gesellschaft, die den Ausnahmezustand als Normalität akzeptiert hat.

Die Journalistin und Autorin Kateryna Babkina, 1985 im ukrainischen Iwano-Frankiwsk geboren, lebt in Kiew. Sie arbeitet für zahlreiche nationale und internationale Zeitungen und Zeitschriften. Neben ihrer Prosa ist sie auch für ihre Lyrik bekannt und als Dramaturgin tätig. Ihr deutsches Debüt »Heute fahre ich nach Morgen«, übersetzt von Claudia Dathe ist eine sinnliche Reise ins Unbekannte. Im Mittelpunkt steht die selbstbewusste und abenteuerlustige Künstlerin Sonja, die von ihrem Freund verlassen und und von einer ungeplanten Schwangerschaft überrumpelt wird. Ein grober Einschnitt, aber auch eine neue Perspektive. Also macht sie sich auf den Weg und auf die Suche nach sich selbst. Bei ihrem Road-Trip begegnen ihr eigenwillige Gestalten und skurrile Geschichten. Und ein ungewöhnlicher Mann, der meint, Wunder verkaufen zu können. Ein heiterer und stimmungsvoller Roman, der die Ukraine aus der Perspektive einer jungen, hoffnungsvollen Frau beschreibt.

Die 1973 in Lemberg geborene Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin Natalka Sniadanko hat ein Herz für exzentrische und lebensbejahende Figuren. Im Mittelpunkt ihres Debütromans »Sammlung der Leidenschaften«, übersetzt von Anja Lutter, steht die junge Olessja, die beschließt, eine Studie anzulegen, in der ihre männlichen Liebhaber zum Ausweis der ukrainischen Gesellschaft werden. Diesem rasanten Love-Trip folgte mit »Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen« die von Lydia Nagel übertragene Geschichte zweier Frauen, die auszogen, das das Leben zu genießen. Die beiden Freundinnen Chrystyna und Solomija ziehen von Lemberg nach Berlin, eine Abenteuerreise gespickt mit aufwühlenden Affären und schrägen Jobs, an denen die beiden Frauen nur wachsen. Ihr dritter, von Marina Weissenböck übersetzter Roman »Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde« ist eine k.u.k.-Geschichte, in der Lembergs Geschichte des 19. Jahrhunderts in einem Familienroman verarbeitet wird. Mit jedem Roman hat sich die ukrainische Autorin ein wenig neu erfunden. Den Namen Natalka Sniadanko sollte man sich unbedingt merken.

Die Schriftstellerin und Politikerin Maria Matios, 1959 in Rostoky geboren, zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautorinnen der Ukraine. Ihr Debütroman »Darina, die Süße« wurde mit dem Schewtschenko-Preis, dem wichtigsten ukrainischen Literaturpreis ausgezeichnet. Auch ihr Folgeroman »Mitternachtsblüte«, beide übersetzt von Claudia Dathe, stand wochenlang auf den ukrainischen Bestsellerlisten. Beide Romane handeln von ungewöhnlichen Frauen, die in einer dörflichen Gemeinschaft um ihre Existenz kämpfen. Darina ist nahezu sprachlos, Iwanka wird von epileptischen Anfällen heimgesucht – beides steht für die Verletzlichkeit der Frauen in der Ukraine. Matios’ Geschichten tauchen ab in die ukrainische Geschichte und Mythologie, zeichnen in den Konflikten und Herausforderungen, die sich ihren Heldinnen stellen, die Identitätssuche ihres Landes nach und bilden so ungewöhnliche Panoramen der ukrainischen Seele.


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8 Kommentare

  1. […] propagiert, dass die Ukraine ein künstlicher Staat ohne eigene Kultur und Geschichte sei. Bereits in einem Beitrag zur zeitgenössischen ukrainischen Literatur hatte ich gezeigt, dass dies U… Die Filmreihe »Perspectives of Ukrainian Cinema« beweist nun für das Kino eindrucksvoll das […]

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