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Auserlesene ukrainische Literatur

Juri Andruchowytsch

Andruchowytsch ist wie Sabuschko 1960 geboren, lebt in der Westukraine und gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen seines Landes. Von sich selbst sagt der Vizepräsident des Ukrainischen Schriftstellerverbands, er sei halb Sisyphos, halb Sacher-Masoch. Sein hierzulande bekanntestes Werk ist der von Sabine Stöhr übersetzte Roman »Die Lieblinge der Justiz«, in dem er aktenkundige Verbrechen heranzieht, um von diesen ausgehend eine ukrainische Geschichte von Schuld und Sühne zu erzählen. Dafür taucht er tief ein in die ukrainische Geschichte, bis ins 17. Jahrhundert reichen die Bezüge zurück. Da treiben sich adelige Schurken in Banditenkreisen herum, ein erfolgreicher Geschäftsmann erliegt den esoterischen Verlockungen eines Zauberers und ein KGB-Agent treibt kaltblütig sein Geschäft, um sich dann im Liebestaumel in den Westen abzusetzen. Die Massaker der Wehrmacht an den ukrainischen Juden finden ebenso ihren Platz wie historische Kriminalanekdoten weniger radikalen Ausmaßes. Realität und Fiktion tanzen hier einen Tango, der einen schwindeln lässt und zugleich den Opfern nationaler Träume ein Denkmal setzt.

Juri Andruchowytsch (1992). Aus der Sammlung des Münchner Stadtmuseums, Sammlung Fotografie, Inventarnr. FM-2019/1.3.3.4 | Foto: Barbara Niggl Radloff

»Die Lieblinge der Justiz« ist der mit Abstand jüngste Roman des Trägers der Goethe-Medaille, seine zuletzt erschienen Romane – allesamt von Sabine Stöhr übertragen – sind bereits in den neunziger und Nullerjahren erschienen. »Geheimnis«, eine Art Memoir in Interviewform mit einem fiktiven Gegenüber namens Egon Alt, ist bereits 2007 im Original erschienen. Es erstreckt sich von seiner Kindheit in den 1960ern bis zur Orangenen Revolution, betrachtet den Zerfall der Sowjetunion und den brüchigen Neubeginn der Ukraine. Diesen betrachtet er noch konkreter in seinem grotesken Roman »Zwölf Ringe«, in dem er den brutalen Siegeszug des Kapitalismus auf korrupte Aufsteiger und quasireligiöse Nostalgiker treffen lässt.

Romane wie »Perversion« und »Moscovidia« sind politisch-historische Grotesken mit postsowjetische Bezügen und stehen im Schatten seines Debüts »Karpatenkarneval« aus dem Jahr 1992. Erstmals 2019 in deutscher Übersetzung erschienen ist diese Geschichte ein Fest der Sprache. Im Mittelpunkt steht ein folkloristisches Erweckungsritual, bei dem sich drei Dichter derart die Kante geben, dass vor ihrem inneren Auge eine neue Welt entsteht. Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk lobte den Roman bei Erscheinen in der Süddeutschen Zeitung sehr. Andruchowytsch zeige das neue Aufblühen der ukrainischen Literatursprache in der Zeit zwischen dem Ende der Sowjetunion und vor der Annexion der Krim durch Russland. Vor allem aber dringe in dem Text die »unbewusste körperliche Angst vor einer erneuten russischen Okkupation« durch, die zweiundzwanzig Jahre nach erscheinen brutale Realität wurde.

Dazu kommen Andruchowytschs kluge Essays über seine Heimat, sei es in der von Alois Woldan übersetzten Sammlung »Das letzte Territorium«, der Fortsetzung »Engel und Dämonen in der Peripherie« oder in dem von ihm herausgegeben Band »Euromaidan«. In seinen politischen Texten macht er immer wieder den historischen europäischen Bezug der Ukraine deutlich. »Obwohl das geographische Zentrum Europas in den Karpaten liegt, nur etwa hundert Kilometer von Stanislau entfernt, war diese Struktur im europäischen Bewußtsein immer eine Grenze, ein Randgebiet, Peripherie verschiedener Imperien (des Römischen, Osmanischen, Habsburgischen, Russischen, Sowjetischen), eine Peripherie der Kulturen und Zivilisationen«, liest man in »Das letzte Territorium«.


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8 Kommentare

  1. […] propagiert, dass die Ukraine ein künstlicher Staat ohne eigene Kultur und Geschichte sei. Bereits in einem Beitrag zur zeitgenössischen ukrainischen Literatur hatte ich gezeigt, dass dies U… Die Filmreihe »Perspectives of Ukrainian Cinema« beweist nun für das Kino eindrucksvoll das […]

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