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Auserlesene ukrainische Literatur

Anthologien

Zur gesellschaftspolitischen Situation in der Ukraine sind in den vergangenen Jahren mehrere Anthologien erschienen, die in Reportagen, Essays und Erzählungen die Gegenwart zu greifen versuchen. Der Vorteil von Anthologien besteht immer darin, dass man hierzulande weitgehend unbekannte Autor:innen entdecken kann.

Eine der literarisch spannendsten ist »Skype Mama«, eine Sammlung der Erzählungen von zwölf ukrainischen Schriftstellerinnen, die irgendwo zwischen der Ukraine und dem Westen Europas spielen. Das Buch könnte aktueller kaum sein, denn es handelt vom Schicksal moderner Wanderarbeiterinnen, also von Frauen, die sich auf den Weg in den Westen machen, meist aus purer Not und Verzweiflung. Aber wie kann Familie funktionieren, wenn ein Teil permanent abwesend ist? Wie können Entfernungen überbrückt und Gefühle erhalten werden? Angesichts der inzwischen über drei Millionen Ukrainer:innen, die meisten davon Frauen, Alte und Kinder, sind diese Fragen aktueller denn je, wenngleich die Umstände, wegen denen sie ihre Heimat verlassen andere sind. »Die Menschen, die wir damals zurückgelassen haben, sind nicht mehr dieselben«, heißt es in einer der Geschichten. Dieser Satz wird auch für jene gelten, die eines Tages zurückkehren.

Einem ganz anderen Thema widmet sich die Anthologie »Wodka für den Torwart«, in der elf Fußballgeschichten erzählt werden. Das lohnt sich deshalb, weil es kaum etwas Alltäglicheres als Sport gibt. Und für Fussball können sich Menschen selbst dann noch begeistern, wenn Krieg herrscht – erst recht in der fussballverrückten Ukraine. Dabei geht der Band zurück aufs Jahr 2012, als Polen und die Ukraine gemeinsam die Fussball-Europameisterschaft ausrichteten. Aber was bedeutet Fußball in einem gespaltenen Land. welche Brücken kann er schlagen und wo vertieft er Gräben? Davon und vielem mehr handeln die versammelten Erzählungen, in denen kickende Priesteranwärter auf KGB-Offiziere und versoffene Ex-Profis treffen.

Der von Katharina Raabe und Manfred Sapper herausgegebene Sammelband »Testfall Ukraine« beschäftigt sich intensiv mit dem 2014 ausgebrochenen Krieg im Osten des Landes. Kateryna Mishchenko schaut auf die, die sich rund um die Maidan-Proteste aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben, Serhij Zhadan schaut auf die so genannten befreiten Gebiete im Osten des Landes, Irina Prochorova ordnet die innerukrainischen Ereignisse in eine gesamteuropäische Entwicklung ein und Yevgenia Belorusets taucht ein in die Geschichte des Donbass. Dazu kommen Betrachtungen von Karl Schlögel, Herfried Münkler und anderen renommierten deutschen Wissenschaftlern und Osteuropa-Expert:innen.

Wer sich politisch vertiefen will, dem sei der von Juri Andruchowytsch herausgegebene Essayband »Euromaidan« empfohlen, in dem – ergänzt um einen Fotoessay von Yevgenia Belorusets – 15 vorwiegend osteuropäische Schriftsteller:innen und Kunstschaffende die Hintergründe der Ukraine-Krise auf den Grund gehen. Es sind keine Politanalysen, die man hier bekommt, sondern die nachdenklichen Texte von betroffenen Künstler:innen. Warum sich das lohnt? Weil Kunst und Revolution gemeinsam marschierten. Oder wie es Andruchowytsch schreibt: »Keine Revolution widerspricht der Kunst, wird sie doch durch deren Ideen und Emotionen befeuert. Und umgekehrt – keine Kunst widerspricht der Revolution, balanciert sie doch ständig an der Grenze zur Zukunft.«

Dazu passt die Anthologie »MAJDAN! Ukraine, Europa«, herausgegeben von Claudia Dathe und Andreas Rosteck. Über 30 Autor:innen, überwiegend aus der Ukraine selbst, kommen darin zu Wort, beschreiben die Ereignisse rund um die Majdan-Proteste und ordnen sie historisch sowie gesellschaftpolitisch ein. »Kiew versinkt im Blut. | Ich weiß nicht, was morgen sein wird. | Ich bin dort, wo alle sind.« zitiert das Buch die Kiewer Schriftstellerin Maria Matios. Wir wissen nichts von ihr, außer dieser drei Zeilen. Aber die sagen so viel über sie und den Stolz der Kiewer:innen. Das Buch versuche sich an einer »Geschichtsschreibung des Augenblicks«. Es könnte eine Art Blaupause sein für die unzähligen Wortmeldungen ukrainischer Autor:innen, die aktuell über die deutschen Medien verstreut sind.

Der schon etwas ältere Band »ODESSA Transfer«, herausgegeben von Katharina Raabe und Monika Sznajderman, zeigt, dass die Ereignisse in der Ukraine nicht losgelöst von der politischen Situation im Schwarzmeer-Raum betrachtet werden können. Mit Texten von Attila Bartis, Mircea Cartarescu, Karl-Markus Gauß (der gerade den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten hat), Emine Sevgi Özdamar, Katja Petrowskaja, Andrzej Stasiuk und anderen führt diese bebilderte Anthologie an Orte des Exils und der Zuflucht. Unter den Steinen von Constanza und Odessa, Jalta und Sotschi, Batumi und Istanbul dringt die antike Geschichte hervor, zugleich wird die Leere der Zeit des Kalten Krieges sichtbar, in dem das Schwarze Meer ein toter Raum war. Zudem legt sich die Gegenwart unaufhaltsam über die gemeinsame Geschichte. Es ist ein Raum des Übergangs, des Abstandnehmens und Übersetzens, »dessen Zauber und Zerstörtheit die poetische Einbildungskraft herausfordert«, wie es in der Ankündigung heißt.


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8 Kommentare

  1. […] propagiert, dass die Ukraine ein künstlicher Staat ohne eigene Kultur und Geschichte sei. Bereits in einem Beitrag zur zeitgenössischen ukrainischen Literatur hatte ich gezeigt, dass dies U… Die Filmreihe »Perspectives of Ukrainian Cinema« beweist nun für das Kino eindrucksvoll das […]

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