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Auserlesene ukrainische Literatur

Jurij Wynnytschuk, Oleksandr Irwanez, Taras Prochasko, Olekseij Tschupa, Stanislaw Assjejew

Der 1952 in Iwano-Frankiwsk geborene Jurij Wynnytschuk ist in seiner Heimat ein Kultautor. Von ihm kann man hierzulande den Roman »Im Schatten der Mondblüte« lesen, in dem er in die Ukraine der 30er Jahre eintaucht, in eine Zeit des Hungers und der Gewalt. Als Stalin seine eiserne Faust über der Ukraine schließt, kommt die Dunkelheit über die Heimat der vier jungen Männer, die der von Alexander Kratochvil übersetzte Roman begleitet. Das multikulturelle Lemberg der 1930er wird mit Ankunft der Sowjets und später der Nazis zu einem finsteren, gefährlichen Ort. Statt der lebendigen Melodien, die in der Vielvölkerstadt Lemberg sonst erklingen, wird dort, wo der Mohn tanzt, fortan der Todestango gespielt. Dieser melancholische Roman ist eine liebevolle Verneigung vor der lebendigen Kultur Lembergs, eine Hohelied auf die ukrainische Sprache und die Überlebenskraft der Literatur, die keine Gewalt aus der Welt verdrängen kann.

Oleksandr Irwanez ist 1961 in Lemberg geboren, studierte Literatur in Moskau und Kiew und gründete in den Achtzigern mit Juri Andruchowytsch und Wiktor Neborak das legendäre Lemberger Schriftstellertrio »Bu-Ba-Bu«. Sein von Alexander Kratochvil übersetzter Roman »Pralinen vom Roten Stern« spielt in einer nicht näher benannten Stadt im Nordwesten des Landes, durch die eine Mauer verläuft. Während Riwne zur Westukrainischen Republik gehört, liegt hinter der Mauer der zur Sozialistischen Ukrainischen Republik gehörende Stadtteil Rowno, in dem die Menschen zu den Lebensverhältnissen der Sowjetunion zurückgekehrt sind. Davon handelt das neue Stück des ukrainischen Bühnenautors Schlojma Ezirwan, der nun vom Westen in den Osten des Landes reisen muss. Die Reise führt gleichermaßen in sein groteskes Stück wie in die ukrainische Gegenwart, in der die Kunst zum Spielball der Politik wird. Eine politische Dystopie von erschreckender Aktualität.

1968 in Iwano-Frankiwsk geboren lebt und arbeitet Taras Prochasko bis heute in seiner Geburtsstadt. Er ist der ältere Bruder des eingangs erwähnten Jurko Prochasko und arbeitet als Journalist. Im Mai 2020 wurde ihm der Schewtschenko-Preis verliehen. Sein Antiroman »Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen«, übersetzt von Maria Weissenböck«, bricht ein Familienepos in dutzende literarische Minimalia herunter, die eine versunkene Welt und ihre Bewohner heraufbeschwören und zum Gegenstand der Meditiation machen. Es ist natürlich die Welt seiner Heimatstadt, die im Karpatenvorland liegt, einem Winkel des Habsburger Reichs. Nach zwei Weltkriegen steht dort kein Stein mehr auf dem anderen, keine Biografie ist unbelastet. Taras wohnt im Haus seines tschechischen Großvaters und setzt zusammen, was noch von der Vergangenheit übrig ist. »Manchmal, wenn ich nichts mache und nichts sage, scheint es mir, daß genau dies das allerrealste Ich ist. Eine Sammlung chaotischer, unnützer Dinge.«

Oleksij Tschupa wurde 1986 im ostukrainischen Makijiwka geboren, was heute in der so genannten Volksrepublik Donezk liegt. Sein kühner Debütroman »Märchen aus meinem Luftschutzkeller« handelt von exzentrische Hedonisten und Kleinganoven, einsamen Existenzen und widerspenstige Underdogs. Sie bilden die wilde Hausgemeinschaft im ostukrainischen Makijiwka, wo schwer bewaffnete Bodyguards die Korken knallen lassen, geschäftstüchtige Unternehmer am nächsten großen Deal basteln, eine eingebildete Adlige Herrenbesuch empfängt und ein Mitglied der brutalen Geheimpolizei die Liebe kennenlernt. Tschupa versammelt in seinem von Claudia Dathe übersetzten Roman eine anarchische Hausgemeinschaft, deren Schicksale fesseln und aufwühlen. Unerschrocken und hellwach folgt er seinen Antihelden und schafft ein Panoptikum der absurden ukrainischen Gegenwart.

1989 in Donezk geboren, ist der Kiewer Journalist Assjejew einer der jüngsten ukrainischen Autoren, die man derzeit hierzulande lesen kann. In seinen Texten hat er die Ereignisse im Donbass dokumentiert und fragt dabei, wie es zu einer solchen Eskalation kommen konnte, in deren Folge einstige Freunde plötzlich von einem Tolstoi’schen Neurussland in den pro-russischen Pseudorepubliken träumen und zum Broterwerb zur Waffe greifen. Er beschreibt und reflektiert das Leben der Menschen im Krieg, beobachtet ihr Verhalten und ihre sich verändernden Einstellungen. Seine nüchtern beobachtenden Texte haben ihn zur persona non grata in seiner Heimatregion gemacht. Im Juni 2017 verschwand er spurlos, später bekannten sich pro-russische Donezker Separatisten, ihn entführt zu haben. Erst nach zahlreichen internationalen Protesten kam er 2019 im Zuge eines Gefangenenaustauschs frei. In dieser Zeit hat er 962 Tage »In Isolation« verbracht. Mit Unterstützung des ukrainischen PEN-Zentrums sind seine Reportagen und Journale nun in der deutschen Übersetzung von Sofija Onufriv und Claudia Dathe erschienen.


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8 Kommentare

  1. […] propagiert, dass die Ukraine ein künstlicher Staat ohne eigene Kultur und Geschichte sei. Bereits in einem Beitrag zur zeitgenössischen ukrainischen Literatur hatte ich gezeigt, dass dies U… Die Filmreihe »Perspectives of Ukrainian Cinema« beweist nun für das Kino eindrucksvoll das […]

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