Literatur, Roman

Ein Rausch(en)

Mirjam Wittig verhandelt in ihrem Debütroman »An der Grasnarbe« spielerisch die großen Herausforderungen der Gegenwart am Fuß der französischen Alpen.

Am Tag nach den Anschlägen auf das Pariser Bataclan-Theater im Herbst 2015 hatte die Angst Europa im Griff. Und auch mich. In der Bahn fiel mein Blick auf einen jungen Mann. Mit seinem dunklen Teint und flusigen Bart hätte er aus Spanien kommen können, aber auch aus Ägypten, Syrien oder dem Irak. Als die Bahn weiterfuhr, stellte er sich vor den Ausgang, statt sich auf einen der freien Plätze zu setzen. Seinen Rucksack hielt er fest umklammert, nervös blickte er um sich. Unruhe machte sich in mir breit. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass er einer der Schläfer sein könnte, von denen im Radio die Rede war. Misstrauisch ließ ich ihn nicht mehr aus den Augen. Als die Bahn hielt, stieg er aus und mit ihm verschwand mein ebenso peinlicher wie peinvoller Anflug von Angst.

Ich bin engagierter Verfechter gesellschaftlicher Vielfalt. Dennoch konnte ich das Unbehagen, das mich damals ankroch, nicht rational beiseite schieben. »Kennst du das, wenn du im Reflex etwas denkst, das du selbst schrecklich findest?«, fragt Noa in Mirjam Wittigs Debütroman. Ja, dachte ich und hatte diese Szene vor Augen.

Wittigs Ich-Erzählerin haben die islamistischen Anschläge in Paris tief erschüttert. Sie fürchtet den Tod und jene, die ihn bringen. »Ein dummes Klischee«, dennoch ist die unbestimmte Angst stärker als jede Vernunft. Auch wenn sie sie lähmt und beschämt. Jemanden wegen seines Aussehens zu verdächtigen, »war nicht okay, nicht möglich, war Mich-an-jemandem-Vergehen.«

Mirjam Wittig: An der Grasnarbe. Suhrkamp Verlag 2022. 189 Seiten. 23,00 Euro. Hier bestellen.

Die junge Restauratorin beschließt, eine Auszeit vom nervenaufreibenden Chaos der Welt zu nehmen. Sie mietet sich bei Gregor und Elsa ein, die abseits des zivilisatorischen Lärms einen Selbstversorgerhof betreiben. Inmitten der überwältigenden Landschaft der französischen Alpen sucht sie in der ohrenbetäubende Stille der Natur ihr Seelenheil. Noa ist keine Flaneuse, die wandernd ihre Mitte findet. Sie wird, wie andere vor ihr, auf dem Hof mit anpacken. Beim Schafe Hüten, Ernte Einfahren und Marmelade Einkochen löst sich ihre Erstarrung: »Die Arbeit bleibt in Bewegung, und ich muss mich mitbewegen. Das ist schön.«

Und dann ist da noch Jade, die ebenso fordernde wie altkluge Tochter ihrer Gastgeber:innen, die vom ständigen Kommen und Gehen selbstverlorener Helfer:innen wenig begeistert ist. Weil Noa länger bleibt als alle vor ihr und sie ernsthaft Interesse zeigt, entwickelt sich zwischen den beiden ein vertrautes, fast geschwisterliches Verhältnis. Als Noas Freundin Merle auftaucht und ihre Rückkehr näher rückt, geraten die Dinge in Bewegung.

Landschaft und Beziehung(en) stehen in Wittigs vor Sommerhitze flirrenden Roman in einem Spannungsverhältnis. Gibt eine Seite Ruhe, lärmt die andere und umgekehrt. Dass man beidem nachspüren will, liegt an den faszinierend genauen Beobachtungen der Ich-Erzählerin. Ihren detaillierten Naturkunden wohnt auch immer ein Moment der Unruhe und Nervosität inne. Dabei sind es nicht die zurückkehrenden Wölfe, die hier angsteinflößend ihre Zähne zeigen, sondern die Folgen des menschgemachten Klimawandels. Noa beobachtet, wie die wenigen Regengüsse die ausgetrocknete Landschaft mit allem Leben davontragen. »Kleine Bäche überall, keine Kante, kein Blatt, kein Vorsprung, von dem es nicht stürzte und fiel, keine Fläche, auf die es nicht klatschte. Kein Tier war zu sehen.«

Die Angst vor dem Fremden trifft hier auf den Klimawandel, die widerspenstige Landschaft auf den empfindlichen Körper, die Utopie der unangetasteten Natur auf die Dystopie des alles verändernden Kapitalismus. Es sind große Themen, die die 26-jährige Autorin am Fuß der französischen Alpen verhandelt. Ihr bereits vor Erscheinen ausgezeichnetes Debüt ist eine Suchbewegung, auch sprachlich. Mal atemlos und sperrig, dann wieder leichtfüßig und poetisch tastet sich ihre Erzählerin über die äußeren Landschaften an ihre und unsere inneren heran. Oder ist es umgekehrt? Wie auch immer, hier verwandelt sich die Erosion der Böden in menschliche Erschütterung, die stürzenden Wassermassen werden zum Symbol der kapitalistischen Ausbeutung und der finale Herdenwechsel über die Alpen spiegelt die globalen Migrationsströme.

»An der Grasnarbe« ist ein einziger Rausch auf der Suche nach einer Existenz ohne Rauschen. Wittigs Roman lässt uns unmittelbar erfahren, was es bedeutet, auf und in dieser Welt zu sein. Und wie man wieder das Vertrauen fassen kann, sich als Teil des Ganzen in ihr aufzulösen.