Literatur, Roman

Nur ein Stück Fleisch

Werke von Tsitsi Dangarembga | Foto: Thomas Hummitzsch

Die diesjährige Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga beschreibt im dritten Roman ihrer Trilogie den weiblichen Körper als Schlachtfeld gesellschaftlicher Verteilungskämpfe. Dass die Bücher nicht in der richtigen Reihenfolge erscheinen, ist bedauerlich, denn aus der hoffnungsvollen Hauptfigur des Debüts »Aufbrechen« ist inzwischen eine verbitterte Frau geworden, die in Simbabwes Hauptstadt in existenziellen Nöten lebt. Wie genau es dazu gekommen ist, wird in »Überleben« nur angedeutet. Die Strahlkraft dieser Literatur bleibt davon unberührt. Dangarembga erschließt eine Welt, von der wir viel zu wenig wissen.

Plötzlich taucht eine junge Frau inmitten der Marktstände auf, die alle Blicke auf sich zieht. »Jeden Teil ihres Körpers, der nach vorn oder hinten geschoben werden kann, schiebt sie nach vorn oder hinten – Lippen, Hintern, Brüste, Po –, mit allergrößter Wirkung.« Diese Frau will den Bus noch erreichen, in dem Tambu schon am Fenster sitzt. Aber beim Aufspringen verliert sie den Halt, stürzt auf die Straße. Und ihr hinterher eine hämische Meute, die mit sexistischen Sprüchen und gierigen Händen brutal über die Frau herfällt. Mittendrin die »strahlende Antiheldin« dieser Erzählung, die schadenfroh mit der Menge lacht, weil das Opfer, mit dem sie unter einem Dach wohnt, den jüngeren und schöneren Körper hat.

Diese erschütternde Szene gehört zu den ersten Eindrücken, den man in Tsitsi Dangarembgas Roman »Überleben« vom Harare der neunziger Jahre bekommt. Es ist der dritte und abschließende Teil einer Trilogie, in der die 1959 in Mutoko, Simbabwe geborene Schriftstellerin die Situation von Frauen und Mädchen in einer Gesellschaft voller radikaler Brüche und Umwälzungen beschreibt. Ihre Hauptfigur Tambudzai Sigauke wächst Anfang der 70er unter kolonialen Bedingungen in einem Dorf auf, erlebt zu Beginn der 80er als Heranwachsende das nationale Erwachen, ist in den 90ern als erwachsene Frau mit den Folgen der postkolonialen Selbstfindung konfrontiert und kämpft gegen Armut, Rassismus und Sexismus.

Für dieses Werk erhält Dangarembga am 24. Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Weil sie in ihrem Schreiben soziale und moralische Konfliktlinien aufzeige, »die weit über den regionalen Bezug hinausgehen und Resonanzräume für globale Gerechtigkeitsfragen eröffnen«, heißt es in der Begründung der Jury.

Im Mittelpunkt des ersten Bandes der Trilogie »Aufbrechen«, bereits 1991 mitreißend von Ilija Trojanow übersetzt und 2019 bei Orlanda neu aufgelegt, stehen Tambu und ihre Cousine Nyasha. Gemeinsam besuchen sie eine Missionsschule, wo ihnen mit kolonial-religiösen Instrumenten die eigenen Traditionen ausgetrieben werden. Die Mädchen nutzen ihre Chance auf Bildung, patriarchale und imperiale Muster treiben sie aber in den Wahnsinn. Doris Lessing bejubelte Dangarembgas Debüt aus dem Jahr 1988, im Folgejahr ausgezeichnet mit dem Commonwealth Writers’ Prize, als kommenden Klassiker der afrikanischen Literatur. Sie sollte Recht behalten, inzwischen steht Aufbrechen auf der BBC-Liste der »100 Bücher, die die Welt geprägt haben«.

Tsitsi Dangarembga: Aufbrechen. Aus dem Englischen von Ilija Trojanow. Orlanda Verlag 2019. 264 Seiten. 24,00 Euro. Hier bestellen.

Dass Dangarembga hierzulande ein so unbeschriebenes Blatt ist, kann sich ihre Verlegerin Annette Michael nur mit einem fehlenden Sensorium erklären. Es fehle ein Gespür dafür, wie wichtig es wäre, sich mit diesen Büchern auseinanderzusetzen, erklärte sie im Interview nach Bekanntgabe der Auszeichnung ihrer Autorin. »Denn sie liefern uns Innenansichten aus Gesellschaften die uns weitgehend unbekannt sind und sie bringen uns deren Probleme und Lebensumstände näher, was uns in die Lage versetzt, um die Welt als Ganzes zu verstehen.«

Dangarembgas Trilogie war bis zur Bekanntgabe ihrer Auszeichnung auch so wenig bekannt, weil sich das Schreiben der Autorin über Jahrzehnte erstreckt hat. In England aufgewachsen begann Dangarembga in den 70ern ein Medizinstudium in Cambridge, bevor sie 1980 ins gerade befreite Simbabwe zurückkehrte. Dort studierte sie Psychologie, engagierte sich am Theater und begann zu schreiben. 1984 beendete sie den ersten Roman der Trilogie. »Nervous Conditions«, so der Originaltitel, erscheint erst vier Jahre später bei The Womens Press in London, weil die ohnehin kaum entwickelte Buchlandschaft in Simbabwe fest in der Hand von Männern war.

Da hatte die Künstlerin bereits eine Zusage für ein Stipendium an der DFFB in Berlin, weshalb sie 1990 ihr Land verließ und nach Deutschland ging. Die kommenden zehn Jahre widmete sie sich ganz dem Film und gründete gemeinsam mit dem deutschen Filmeditor Olaf Koschke eine Familie. Seit 2000 lebt die Familie mehrheitlich in Simbabwe, erst dann macht sich Dangarembga wieder ans Schreiben. In dem 2006 erschienenen Fortsetzungsband »The Book of Not« taucht man noch einmal in Tambus Jugend ein und erfährt, was es heißt, als Schwarzes Mädchen in einem rassistisch geprägten Land aufzuwachsen. Während dieser Roman weitgehend unbeachtet und in Deutschland gar unveröffentlicht blieb, erhielt der Abschluss der Trilogie wieder viel Anerkennung, kam 2020 auf die Shortlist des renommierten Booker Prize. Dieser Erfolg erklärt, warum mit »Überleben« nun zunächst der meisterhafte Schlusspunkt der Reihe in der kraftvollen Übersetzung von Anette Grube erschienen ist, bevor sie im Herbst 2022 mit »Verleugnen« vervollständigt wird.

Ideal ist das – wie schon bei Jorge Zepeda Pattersons Krimireihe um »die Blauen« gezeigt – nicht, anders war es aber nicht zu lösen, wie Verlegerin Annette Michael im Interview erklärte. Es sei unter anderem »nicht rechtzeitig gelungen, den zweiten Teil auch noch zu sichern. So haben wir uns entschlossen, einfach den dritten Teil vorzuziehen und den zweiten zu einem späteren Zeitpunkt zu veröffentlichen. Der dritte Teil ist aber im Original so lektoriert, dass er für sich steht. Der zweite Teil fehlt also nicht, um den dritten Teil zu verstehen.«

Das wiederum stimmt nur bedingt. Natürlich kann man »Überleben« einzeln lesen, aber aus der hoffnungsvollen Hauptfigur des Debüts ist inzwischen eine verbitterte Frau geworden, die in Simbabwes Hauptstadt mit existenziellen Nöten ringt. Wie genau es dazu gekommen ist, wird in »Überleben« nur angedeutet, wenn es heißt, dass am Young Ladies’ College of the Sacred Heart, einer Eliteschule, die sie in Band zwei besucht, »deine Metamorphose stattgefunden haben« muss. Was sie dort geprägt hat – und das wäre für das Verständnis dieser herausfordernden Figur hilfreich –, wird erst mit der Übersetzung des zweiten Trilogiebandes gelüftet. Bis dahin erfährt man nur, »dass die Nähe zu Weißen im Konvent dein Herz ruiniert und dazu geführt hat, dass dein Bauch, aus dem du dich reproduziert hast, bevor du irgendetwas anderes geboren hast, zwischen deinen Hüften geschrumpft ist.«

Dieses Schrumpfen hat aber nicht nur in der Bildungseinrichtung, sondern auch in einer Werbeagentur stattgefunden, in der Tambu zwischen lauter Weißen gearbeitet hat. Den Job hat sie aber gekündigt, weil sich die weißen Kolleg:innen mit ihren Ideen geschmückt haben. Nun findet sie sich in »Überleben« in einem schäbigen Zimmer am Stadtrand wieder. Dort starrt sie die Wand an und rutscht immer tiefer in eine Depression. »Du machst dir Sorgen, dass du anfangen wirst, daran zu denken, allem ein Ende zu setzen, da du nichts hast, für das du lebst: kein Zuhause, keine Arbeit, keine stützenden Familienbande«, heißt es am Ende des ersten Romanteils, der mit »Abwärts« überschrieben ist. Tambus verlorenes Taumeln durch eine Stadt am Limit enthält einige der authentischsten Szenen von städtischem Leben, die ich in afropolitischer Literatur gelesen habe. Der abgründige Trubel ist so lebendig beschrieben, das man sich mittendrin wähnt.

Im Buch folgt ein Zustand »In der Schwebe«. Als Aushilfslehrerin fängt Tambu in einer Schule an. Die Schülerinnen nimmt sie als respektlos und eingenommen war, eines Tages kommt es zu einem Zwischenfall, bei dem Tambu eine Schülerin schwer verletzt. Tambu wird in die Psychiatrie eingeliefert, aus der sie erst ihre Cousine Nyasha herausholt. Die ist die Lichtfigur in diesem Roman, sie verkörpert die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, die schon in »Aufbrechen« steckte. In Workshops versucht sie, Frauen darin zu bestärken, ihren eigenen Weg zu gehen.

Tsitsi Dangarembga: Überleben. Aus dem Englischen von Anette Grube. Orlanda Verlag 2021. 376 Seiten. 24,00 Euro. Hier bestellen.

Bei Tambu ist es der Zufall, der sie in die Arme ihrer ehemaligen Kollegin Tracey spült. Die engagiert sie für ein Start-Up, das Weißen »authentische« Ökotouren verkauft. Fortan geht es »Aufwärts«, Tambu erhält eine eigene Wohnung, ein eigenes Büro, ein eigenes Projekt. Aber nichts ist sicher, die Konkurrenz sitzt im Vorzimmer. Also setzt sie alles auf eine Karte und organisiert Touren ins Dorf ihrer Mutter. Doch bei den Wünschen der Kund:innen endet ihre Selbstbestimmung. Der Preis ihres Aufstiegs wird sich als hoch erweisen und sie mit elementaren Fragen ihrer Identität konfrontieren.

»Überleben« wird anders als seine Vorläufer nicht in der ersten Person, sondern in der Du-Form erzählt. So liest sich diese Selbstsuche wie eine permanente Konfrontation mit dem eigenen Versagen. »Jede Minute aller vierundzwanzig Stunden verhöhnt dich mit dem, wozu du geschrumpft bist.« Kaum auszuhalten, wenn diese Selbstkasteiung in Zynismus und Gewaltbereitschaft gegenüber anderen umschlägt. Tambu ist nicht nur Opfer der Verhältnisse, sie ist auch Täterin. Sie begegnet anderen Frauen fast ausnahmslos mit Skrupellosigkeit und Zynismus, entweder weil sie in ihren Augen selbst schuld an ihrem Elend sind oder eine potentielle Bedrohung für den eigenen Aufstieg darstellen.

Der Dreisatz der deutschen Titel »Aufbrechen | Verleugnen | Überleben« zeigt, dass sich die Trilogie existenziellen Fragen nähert. Entlang dieser Bewegung sind auch die Schauplätze (Dorf – Schule – Stadt), Themen (Armut – Rassismus – Frauen) und Kampffelder (Klasse – Hautfarbe – Gender) angeordnet, die die in Simbabwe lebende Autorin untersucht. Der Blick auf die Originaltitel offenbart noch mehr. Der Dreischritt »Nervous Conditions | The Book of Not | This Mournable Body« führt von den psychischen Deformationen (des Rassismus), auf die Sartre in seinem Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialem Klassiker »Die Verdammten dieser Erde« hinwies, zur Bedrohung des Körpers, über die Teju Cole in seinem Essay »Unmournable Bodies« anlässlich der Charlie-Hebdo-Solidaritätsbekundungen schrieb. Dieses Phänomen der körperlichen Auswirkungen psychischer Deformationen beschreibt die studierte Psychologin und Frauenrechtlerin Dangarembga am Beispiel ihrer weiblichen Figuren, wobei sie den zeitlichen Bogen von Fanon zu Cole über ihre Trilogie hinweg souverän spannt.

Die Angst, »nicht ausreichend Fortschritte hin zu Sicherheit und einem anständigen Leben« gemacht zu haben, rückt Tambu in Form von Ameisen und Hyänen auf den Leib. Sie treibt aber auch viele Frauen in diesem Roman um. Ihr Kampf um ein würdevolles Dasein ist einer gegen die physische Unversehrtheit. Denn Männer »wollen nur ein Stück Fleisch, mehr nicht.« Deren brutalen Übergriffe in der Öffentlichkeit oder den eigenen vier Wänden sind nur die offensichtlichsten Bedrohungen, denen die beklagenswerten Frauenkörper ausgesetzt sind. Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Ausbeutung wirken subtiler, aber nicht weniger verheerend. Indem Dangarembga in allen Nuancen abbildet, wie gesellschaftliche Verteilungskämpfe auf dem Rücken von Frauen ausgetragen werden, wirft sie ein Schlaglicht auf deren existenzielle Situation – in Simbabwe und andernorts. Ein Thema, das sie auch in ihren Filmen immer wieder, auch in extremer Weise, aufgreift.

Gerade weil das so eineindeutig ist, hätte sich der Verlag die gut gemeinte Textsatz-Spielerei auf dem Titel auch sparen können, weil es hier eben nicht darum geht, über das Leben als solches zu schreiben, sondern vom Überleben unter den gegebenen Umständen.

Es gäbe zwei Gründe, an dieser Welt zu leiden, sagt Tambus Mutter in Aufbrechen: »einerseits das Elend, eine Schwarze zu sein, andererseits die Bürde, eine Frau zu sein.« Die großen, afropolitischen Romane der diesjährigen Friedenspreisträgerin erzählen eindrücklich davon.

Eine kürzere Fassung dieses Textes ist in der Buchmessebeilage Literatur von der freitag erschienen.

8 Kommentare

  1. […] Büchern intensiv mit afrikanischen Themen auseinandersetzen. Hinzu kommt in Deutschland noch die Auszeichnung von Tsitsi Dangarembga mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Die Einladung, sich mit der Literatur und den Geschichten des afrikanischen Kontinents […]

  2. […] Autor:innen dem Schicksal der Frauzen verschrieben. Man denkt bei ihren weiblichen Figuren an Tsitsi Dangerembga und ihre Protagonistin Tambudzai Sigauke, an das Waisenmädchen Thula in Imbolo Mbues Roman »Wie schön wir waren«, an Nana Oforiatta […]

Kommentare sind geschlossen.