Jorge Zepeda Patterson ist einer der profiliertesten Politjournalisten Mexikos. Weil ein Teil seiner Erkenntnisse »nicht druckbar« ist, hat er angefangen, sie in Krimis zu verarbeiten. Seine Trilogie um die »Blauen« beleuchtet die folgenschwere Verführbarkeit der Mächtigen und ihre Vernetzung mit der organisierten Kriminalität.
»El Chapo« Guzmán war nicht nur der mächtigste Mafiaboss Lateinamerikas, sondern auch der meistgesuchte Mann weltweit. Nach mehreren Festnahmen und Gefängnisfluchten wurde er 2017 an die USA ausgeliefert, wo er zweieinhalb Jahre später zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Der organisierten Kriminalität in Lateinamerika und besonders zwischen Mexiko und den USA hat das jedoch keinen Abbruch getan. Die Erklärung ist ganz einfach. »Die eigentlichen, aber unrechtmäßigen Machthaber«, legt Jorge Zepeda Patterson dem windigen Sicherheitsexperten Victor Salgado in den Mund, »sind die Kreise, die die Billionen des Sinaloa-Kartells durch Hunderte von Konten auf der ganzen Welt schleusen, durch Investitionen waschen und in den Verkehr bringen.«
Um genau diese Kreise geht es in »Milena oder der schönste Oberschenkelknochen der Welt«, einem 500-seitigen packenden Krimi, der aus einem kroatischen Dorf über Spanien und die Kanaren bis nach Mexiko führt. Patterson hat für den Roman als erster mexikanischer Autor den Premio Planeta bekommen, den nach dem Literaturnobelpreis höchstdotierten Literaturpreis weltweit. Er erzählt darin die Geschichte von Milena, die eigentlich Alka heißt und in einem kleinen kroatischen Dorf lebt, von dem es heißt, dass die Kinder dort mit den Knochen der Kriegsopfer spielen. Um dieses Schicksal nicht teilen zu müssen, will sie raus aus dem Dorf. Als ihr ein Job in einer Berliner Bar angeboten wird, sieht sie die Chance gekommen und lässt sich auf ein Treffen mit ein paar windigen Typen ein, was schrecklich endet. Tagelang wird sie brutal missbraucht und »in einer Art Garderobenschrank« gehalten, um sie zu brechen. Der Mexikaner beschreibt diese Szene in seinem Roman eindringlich, aber ohne jeglichen Voyeurismus, was allein schon eine Kunst ist.
Aus dem kroatischen Hinterland wird Milena nach Spanien und später auf die Kanaren verschafft, wo sie aufgrund ihrer Schönheit zur begehrten Edelprostituierten der High Society aufsteigt. Politiker, Sicherheitsexperten, Banker, je sogar Priester gehören zu ihren Kunden. Sie bauen Vertrauen zu ihr auf und erzählen ihr – aus schlechtem Gewissen oder einfach, um zu prahlen – warum sie zu Prostituierten gehen. In einem Notizbuch hält sie diese Erzählungen fest, die im Laufe des Romans preisgegeben werden. Es sind Kommentare aus dem Off, die nicht nur brisante Details über das Treiben der russischen Mafia auf den Kanaren preisgeben, sondern auch einen Einblick in die Gedankenwelt von Männern, die Prostituierte aufsuchen.
An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick auf die Blauen zu werfen, die im Zentrum der als Trilogie angelegten Romanreihe über die Mechanismen von Korruption und Kriminalität stehen. Die Verbindung von Claudia zu den Blauen ist Tomás Arizmendi, der Kolumnist bei Mexikos größter Tageszeitung El Mundo ist und dem Claudia nach dem mysteriösen Tod des Vaters die Verlagsleitung anträgt. Dahinter steckt nicht nur das Vertrauen Claudias (und ihres Vaters) in seine Fähigkeiten, sondern auch eine sehr persönliche Verbindung.
Im Laufe der Romane auf die Probe gestellt wird diese Beziehung durch Tomás Freundin Amelia Navarro, die als Strippenzieherin der mexikanischen Sozialisten die Opposition anführt und der konservativen Regierung die Wähler abjagen will. Im Herzen ist sie eine Idealistin, Menschenrechte, Feminismus und Bürgerbeteiligung sind ihre Themen. Doch zunehmend gerät sie zwischen die Mühlräder zweier sich rivalisierenden Lager in ihrer Partei. Schon bald steht sie vor der Frage, sich für die Führung in der Partei oder ihre Ideale entscheiden zu müssen.
Der dritte im Bunde ist Jaime Lemus, ein Sicherheitsexperte mit Verbindungen in alle Richtungen. Als ehemaliger hochrangiger Sicherheitsberater der Regierung pflegt er Kontakte zu einflussreichen Politikern, Geheimdienstlern und Militärs in Mexiko und den USA. Seine Priorität gilt aber seinen Landsleuten, was dazu führt, dass er schon mal die Verhaftung eines Drogenfürsten platzen lässt. Denn »Jaime fand es wichtiger, die Ruhe in weiten Teilen des Landes nicht zu gefährden, als die Karriere einiger mittelmäßiger Beamter zu unterstützen.«
Mario Crespo ist der Vierte, ein Soziologieprofessor und in den Romanen eine Art Stimme der Vernunft, dessen Interventionen dazu führen, dass dieses Quartett eine Erdung im Leben der normalen Bevölkerung bekommt. Seine Neugier, den Dingen auf den Grund zu gehen, ist vor allem in »Die Korrupten« entscheidend. Zudem spielt sein Sohn Vidal eine wichtige Rolle, er erweist sich mit seinen Verbindungen in die internationale Hackerszene als überaus hilfreich.
Dieses mexikanische »Quartett der Gerechtigkeit«, wie es an einer Stelle genannt wird, versucht nun, die verschwundene Milena ausfindig zu machen und vor den Mördern von Rosendo Franco in Schutz zu bringen. Dabei geraten sie nicht nur ins Visier der osteuropäischen Menschenhändlerringe, sondern sind auch mit den Elementen aus »der dunkelsten Zone Mexikos« konfrontiert, die mit dem organisierten Verbrechen Hand in Hand arbeiten.
»Milena oder der schönste Oberschenkelknochen der Welt« ist klug recherchiert und konstruiert. Indem die Perspektive nicht nur zwischen den Blauen und Milena, sondern auch zwischen Gegenwart und Erinnerung hin und her springt, nähert sich dieser Krimi von verschiedenen Seiten den bitteren Wahrheiten, die hinter Milenas (exemplarischer) Geschichte aus der Welt der organisierten Kriminalität stehen. Einer Welt, in der Menschenhandel, politische Korruption und internationale Finanzmarkttransaktionen zu einer milliardenschweren Normalität führen. Dabei fesselt dieser Roman die Leser:innen nicht nur durch den geschickten Aufbau, sondern auch durch die realitätsnahe Zeichnung der zahlreichen Charaktere.
Hier allerdings ist einzuwenden, dass dem Schweizer Verlag Elster & Salis, dem wir die Entdeckung von Pattersons packender Kriminalliteratur zu verdanken haben, mit dem zweiten Roman der Trilogie ein mittelschwerer Fauxpas unterlaufen ist. »Die Korrupten« preist er auf dem Buchumschlag mit den Worten »nach Milena oder der schönste Oberschenkelknochen der Welt der neue Roman der preisgekrönten Trilogie Zepedas…« an. Dabei ist das nicht der neue Roman, sondern es ist der erste Teil der Trilogie, den er nun nachreicht. Der neue Roman wäre nicht einmal der dritte Teil seiner Reihe um die Blauen, die er 2016 mit »Los Usurpadores« abgeschlossen hat, sondern der Tour-de-France-Krimi »Muerte Contrarreloj«.
Nun könnte man das als verunglückten Schachzug des Marketings abtun, wäre da nicht der Umstand, dass der Verlag mit der kontra-chronologischen Erscheinungsweise, die er so zu überspielen versucht, der Trilogie einen Bärendienst erwiesen hat. Nicht, weil man die Krimis nicht einzeln lesen könnte, sondern weil in dem gerade erschienenen Roman »Die Korrupten« die Grundlagen für die Dynamiken zwischen den Blauen gelegt werden. In diesem 2013 im Original erschienenen Roman wird erklärt, was Tomás, Amelie, Jaime und Mario zu den Menschen gemacht hat, die sie sind. Erst mit diesem Wissen erklären sich manche Einzelheiten in diesem sonderbaren Viererverhältnis, die im zweiten Band der Trilogie wiederum eine Rolle spielen. Die Lektüre der Romane in der tatsächlichen, vom Autor angelegten Reihenfolge ist daher nur zu empfehlen.
»Die Korrupten« handelt vom brutalen Mord an der beliebten Schauspielerin Pamela Dosantos, die »ihre Liebhaber in den Reihen der Politik« rekrutierte und zuletzt eine leidenschaftliche Affäre mit dem gefürchteten Innenminister Salazar geführt hat. Tomás thematisiert in seiner Funktion als freier El Mundo-Kolumnist diesen Mord und lässt die Verbindung zu Salazar anklingen. Sofort ist er im Visier von dessen Schergen. Nun kann nur die Aufklärung der wahren Hintergründe helfen, entweder um Salazar zu überführen oder um den Verdacht von ihm wegzuführen. Die Blauen werden aktiv, lassen ihre Verbindungen in alle Bereiche der mexikanischen Gesellschaft spielen, während zugleich die offiziellen und inoffiziellen Agenten der Regierung ihre Muskeln spielen lassen. Als dann auch noch das berühmt-berüchtigte Sinaloa-Kartell ins Spiel kommt, spitzt sich die Situation zu.
Man merkt dem Roman sprachlich und strukturell an, dass er am Anfang der Trilogie steht. Patterson testet hier den ständigen Perspektivwechsel über seine Figuren, bleibt diesem Muster aber stärker verhaftet als im »Milena«-Roman, wo er durch die Tagebucheinträge den Erzählrhythmus aufgebrochen und dynamisiert hat.
Der Mexikaner ist von Hause aus Journalist und der Realität verpflichtet, das wird auch in seinen Büchern deutlich. Sie beschreiben den Status Quo der politischen Verhältnisse. Da sagt ein Innenminister im Hinterzimmergespräch dann Sätze wie »Um in einer Demokratie zu regieren, brauchen Sie Demokraten, und glauben Sie mir, davon gibt es in diesem Land nicht viele« oder droht dem Journalisten ganz unverhohlen mit Aussagen wie »In Mexiko erschüttert der Mord an einem Journalisten niemanden mehr, nicht mal die Medien selbst«. Er nimmt aber auch die Situation seiner Branche und die Entwicklung der sozialen Medien in den Blick. Wenn er Jaime Amelia erklären lässt, dass sie keine Ahnung habe, »auf welche Mittel ich zurückgreife, um ein Thema zu platzieren, und sei es nur, um die öffentliche Stimmung zu beeinflussen«, dann ist das nur der Auftakt, um seinen Leser:innen die Mechanismen der modernen Meinungsmanipulation nahezubringen. Darüber hinaus geben seine Romane einen tiefen Einblick in die Funktionalitäten der organisierten Kriminalität; angefangen auf dem kleinsten Niveau, wenn es darum geht, europäische Lokalpolitiker mit zugänglichen jungen Damen bei Laune zu halten, sich erstreckend über die politische Bedeutung der Drogenkartelle in Lateinamerika und den USA bis hin zur Verwicklung der Geld- und Datenströme in den internationalen Finanzmarkt.
Nadine Mutz hat die Romane mitreißend übersetzt, nur in wenigen Fällen rutscht ihre Übertragung in einen formalen Ton – etwa wenn von einer »Linie Kokain« statt von einer »Line Koks« die Rede ist. Aber das trübt nicht nachhaltig diese lebendige und authentische Übertragung.
Bleibt noch anzumerken, dass Patterson selbst zwischen seiner Rolle als Journalist und Schriftsteller schwankt. Mal begibt er sich zu sehr in die komplexen Details des internationalen Verbrechens, dann wieder erliegt er den Verlockungen von Sprache und Literatur. Das ist meist nicht dramatisch, nur an einer Stelle ist es tatsächlich störend. Als Milena sich von ihrem tristen Dasein als Fickobjekt halb Europas in die Literatur flüchtet, heißt es im Roman: »Die Hunderten von Männern, die Milena zwischen die Beine kamen, hinterließen weniger Spuren als die Tausenden von Seiten, die an ihren Augen vorbeizogen.« Man mag der Literatur magische Kräfte zuschreiben, aber über das Trauma des hundertfachen Missbrauchs hilft sie gewiss nicht hinweg.
Letztendlich schafft Jorge Zepeda Patterson mit diesen Romanen etwas, was ihm als Journalist in der Form nicht gelungen ist, weil er bestimmte Informationen nach eigener Aussage nicht drucken konnte. Er lenkt die Aufmerksamkeit seiner Leser:innen auf die Schattenseite der global vernetzten Welt und die dort herrschenden Regeln und Gesetze. Jorge Zepeda Patterson ist der Don Winslow Mexikos, seine Crime-Literatur nimmt die Vorgänge in der mexikanisch-amerikanische Grenzregion von der anderen Seite in den Blick. Kein Wunder, dass Netflix schon an der Verfilmung der Trilogie arbeitet. Salma Hayek wäre die perfekte Besetzung für die verführerische Oppositionsführerin Amelia. Alles andere wird sich finden.
[…] Der 68-jährige Patterson ist der Don Winslow Mexikos, seine Kriminal-Literatur nimmt die Vorgänge in der mexikanisch-amerikanische Grenzregion von der anderen Seite in den Blick. Weil ein Großteil seiner Erkenntnisse »nicht druckbar« ist, hat er angefangen, sie in Krimis zu verarbeiten. Seine von Nadine Mutz übersetzte Trilogie um die »Blauen« beleuchtet die folgenschwere Verführbarkeit der Mächtigen und ihre Vernetzung mit der organisierten Kriminalität, indem er in eine Welt eintaucht, in der Menschenhandel, politische Korruption und internationale Finanzmarkttransaktionen zu einer milliardenschweren Normalität führen. »Die Korrupten« ist der Auftakt der Trilogie, in der die Grundlagen für die Dynamiken zwischen den Blauen geschaffen werden und sollte daher auch vor »Milena oder der schönste Oberschenkelknochen der Welt« gelesen werden. Hier gehts zur ausführlichen Besprechung. […]
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