Von George Eliots Provinzepos »Middlemarch« liegen anlässlich ihres 200. Geburtstages gleich zwei Übersetzungen vor, eine war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Nicht nur deshalb lohnt sich die Lektüre in diesen Tagen besonders.
Klassiker sind die geistige Grundlage der Literaturkritik. Je weniger Klassiker Kritiker:in gelesen hat, desto wackeliger scheint das Fundament ihrer oder seiner Texte. Doch wann soll man auch noch Klassiker lesen, wenn jede Woche bis zu fünf Neuerscheinungen auf den Schreibtisch flattern? Na klar, im Urlaub. Als 2015 der von Mary Ann Evans unter ihrem männlichen Pseudonym George Eliot verfasste Provinzroman »Middlemarch« von Literaturexperten zum bedeutendsten britischen Romanen aller Zeiten gewählt wurde, war genau das mein Plan. Gegen Frankreichs warmen Sommer kam diese tiefgreifende Studie des viktorianischen England dennoch nicht an.
Doch ihre [Dorotheas, A.d.A.] Ausstrahlung auf die, die in ihrer Nähe lebten, war unermesslich reichhaltig: Denn wenn die Welt immer besser wird, so ist das zum Teil auf Taten ohne historischen Rang zurückzuführen; und dass es um den Leser und mich nicht so schlecht steht, wie es sein könnte, das verdanken wir zur Hälfte den zahlreichen Menschen, die voll gläubigen Vertrauens ein Leben im Verborgenen geführt haben und in Gräbern ruhen, die kein Mensch besucht.
George Eliot: Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz. Überarbeitete Neuausgabe in der Übersetzung von Rainer Zerbst. DTV-Verlag 2019. 1.152 Seiten. 28,- Euro. Hier bestellen
Die Lektüre nun nachzuholen, macht gleich aus drei Gründen Sinn. Zum Einen die bereits genannte Bedeutung des Buches für die britische Literatur. Der Roman beschreibt das Leben in England während der Industrialisierung anhand der Ereignisse in dem fiktiven Städtchen Middlemarch. Dabei trifft die Perspektive der unerfahrenen weiblichen Hauptfigur Dorothea Brooke auf die Sichtweisen der gelehrten Männerwelt. Lebenspraktische Sorgen werden ebenso diskutiert wie Fragen von Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Womit sonst, wenn nicht mit diesem lebensklugen und gewichtigen britischen Roman sollte man also seinen Klassikerrückstand aufholen?
Zum Zweiten sind da gleich zwei Neuübersetzungen, die zum 200. Geburtstag der Autorin im vergangenen Jahr erschienen sind. Erstens die Übersetzung von Rainer Zerbst im dtv-Verlag, die erstmals 1985 erschien und anlässlich des Jubiläums überarbeitet wurde, und zweitens die Neuübersetzung von Melanie Walz, die zurecht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Walz‘ hat in ihrer Übertragung wie ich finde nicht nur einen zeitgemäßeren Ton getroffen als Zerbst, sondern auch syntaktisch angenehmere Lösungen gefunden.
Exemplarisch ist auf dieser Seite neben den jeweiligen Buchtiteln die jeweilige Übersetzung des letzten Satzes (inklusive Vorgängersatz) aus dem Roman abgebildet, den der Schriftsteller George Scialabba als den bewegendsten Satz der britischen Literaturgeschichte – »Middlemarch« jagt Superlative – bezeichnet hat. Davon ausgehend kann sich jede:r für den favorisierten Ton entscheiden.
Doch die Wirkung ihres [Dorotheas, A.d.A.] Daseins auf ihre unmittelbare Umgebung war unberechenbar vielfältig, denn das Wohl der Welt hängt zum Teil von unheroischen Taten ab, und dass alles um uns nicht so schlecht steht, wie es könnte, verdankt sich zum Teil der Zahl jener, die gewissenhaft im Verborgenen lebten und in vergessenen Gräbern ruhen.
George Eliot: Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Rowohlt 2019. 1.264 Seiten. 45,- Euro. Hier bestellen
Und zum Dritten gibt der Roman schon im Präludium ein Versprechen, das wie kaum ein anderes in diese außergewöhnlichen Zeiten passt. Denn diese Studie über das Leben in der Provinz namens »Middlemarch« zeige, wie sich der Mensch »unter den abwechselnden Experimenten der Zeit beträgt«, wie es in Walz Übersetzung heißt.
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