Interviews & Porträts, Literatur, Roman

Der Herr der Stürme

Hideo Yokoyama ist ein Meister des Kriminalromans, für Verbrechen interessiert er sich allerdings kaum. Sein Thriller »64« eroberte den deutschen Markt wie im Flug, sein nachgereichtes Debüt »2« ging etwas unter. Nun erscheint mit »50« erstmals der Roman im nicht-japanischen Ausland, mit dem er 2003 zum ersten Mal den Preis für den besten Krimi des Jahres in seiner Heimat bekommen hat.

Seine Krimis beginnen leise, mit kreisenden Teeblättern und taumelnden Schneeflocken. Ungewöhnlich ist sie, diese Literatur, von der ersten Zeile an. Dennoch oder erst recht ist Hideo Yokoyama einer der erfolgreichsten Krimiautoren Japans. Mit seiner Frau lebt er in der Präfektur Gunma etwa 120 Kilometer von Tokio entfernt. Auf dem Pressefoto ist er selbstbewusst in Szene gesetzt. Ein Autor, der in sich ruht, beim Schreiben raucht und sich von Chaos nicht beeindrucken lässt. Und offenbar auch nicht von geläufigen Vorgaben eines Genres: »Ich interessiere mich nicht so sehr für Verbrechen an sich, sondern für die psychischen Zustände von Menschen, die mit einem Verbrechen im Kontakt standen«, sagt der Autor, der sich in insgesamt 15 Büchern dem Polizeiroman verschrieben hat. Zugleich erklärt das, warum im Laufe seiner komplexen, aber klug konstruierten Romane das Verbrechen immer mehr in den Hintergrund rückt und die Figuren nebst Motiven in den Vordergrund treten. Das Verbrechen ist nur Mittel zum Zweck, mit dem er seine Figuren auf eine Reise schickt, die in dunkle Täler der Hoffnungslosigkeit führt. Dort legt er die Zerbrechlichkeit des Menschen wie ein Pathologe frei und seziert sie mit allen Mitteln der Schreibkunst.

Besonders gut konnte man das bei seinem deutschsprachigen Debüt nachvollziehen, einem fast 800-seitigen Parforceritt durch einen 14 Jahre alten Entführungsfall, den Pressedirektor Yashinobu Mikami auf eigene Faust noch einmal aufwickelt. Der Plot in dem Thriller »64« entwickelt seine Spannung nicht aus den Ereignissen heraus, sondern aus den psychologischen Verwicklungen, in die die Figuren im Laufe der Handlung hineingezogen werden. Denn Mikami hat nicht nur mit den Strukturen und Karrieristen der örtlichen Polizeibehörde zu kämpfen, sondern auch mit seinen eigenen Ängsten, seit seine Teenagertochter nach einem Streit spurlos verschwunden ist.

Hideo Yokoyama: 64. Aus dem Englischen von Sabine Roth und Nikolaus Stingl. Atrium Verlag 2019. 760 Seiten. 14 Euro (TB) / 28,- Euro (HC)

Zehn Jahre hat Yokoyama an dem Roman geschrieben. Dabei hat er es immer wieder zur Seite gelegt und wieder vorgeholt, während er andere Titel abgeschlossen hat. Als es dann 2012 endlich im Original erschienen, wurde es direkt zu Japans Krimi des Jahres gewählt. Jon Riley, der dem renommierten Londoner Quercus-Verlag vorsteht, der auch die Bücher von Philip Kerr und Stieg Larsson herausgibt, hörte – so berichtet die New York Times – auf einem Empfang von dem Erfolg des Japaners in seiner Heimat und forderte eine Probeübersetzung an. Er war sofort begeistert und sicherte sich die britischen Rechte für »64«. In Windeseile stürmte der Roman sämtliche Bestsellerlisten der englischsprachigen Crime-Welt. Kritiker weltweit griffen dabei die verlegerische Nähe zu Stieg Larsson auf und bezeichneten Yokoyama als Japans Version des schwedischen Autors der »Millenium-Trilogie«. Das ist stilistisch jedoch kaum zu halten, denn während Larssons Thriller bewusst auf den effektvollen Einsatz von Gewalt setzen, verzichtet Yokoyama nahezu vollkommen auf physische Grausamkeiten. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Larsson-Vergleich insbesondere in der Bewerbung eisern hält. Wie auch immer, von Großbritannien aus schwappte die Erfolgswelle erst über den großen Teich und von den USA zurück nach Deutschland. Weltweit wurden bislang mehr als 1,5 Millionen Exemplare des Thrillers verkauft, der im vergangenen Jahr den auch Deutschen Krimipreis gewann.

Die deutsche Übersetzung von Yokoyamas packenden Pageturner erfolgte aus dem Englischen, nicht aus dem japanischen Original. Das gilt auch für die beiden Kriminalerzählungen, die unter dem ebenfalls numerischen Titel »2« erschienen sind. Sie wurden – auch aufgrund der Überschneidung von Namen und Funktionen der Figuren – von vielen als Vorstudien für »64« gelesen. Das kann tatsächlich der Fall sein, wenngleich »Kage no Kisetsu«, so der japanische Originaltitel, das literarische Debüt des 63-Jährigen und damit 15 Jahre vor seinem internationalen Durchbruch erschienen ist.

Hideo Yokoyama: 2. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Atrium Verlag 2019. 149 Seiten. 16 Euro.

Mit »2« gewann er in Japan direkt den nach Matsumoto Seichō benannten Krimipreis. Seichō gilt auch als japanischer George Simenon, weil er ein ähnlich uferloses und spannendes Werk geschaffen hat. In »2« erzählt Yokoyama jeweils aus der Perspektive eines Bürokraten und einer jungen Polizistin vom Polizeialltag. Dabei ist insbesondere die weibliche Perspektive erhellend, da Frauen in der japanischen Polizei eine Rarität sind. So sind es vor allem Erfahrungen von Diskriminierung und Misogynie, von denen Tomoko Nakao, die Hauptfigur in der Erzählung »Schwarze Linien« aus dem Debütband erzählen kann, aber auch die junge Mikumo, die Kollegin von Pressedirektor Mikami in »64«.

In seinem neuen Buch spielt dieses Thema keine Rolle. »50« erzählt die Geschichte des Polizeiausbilders Soichiro Kaji, der seine kranke Frau umbringt und sich anschließend der Polizei stellt. Allerdings lässt er zwei Tage zwischen Tat und Selbstanzeige vergehen. Was hat der ansonsten vorbildliche Beamte in diesen Tagen gemacht? Wollte er seine Frau loswerden, um noch einmal neu anzufangen, oder ist er seines entbehrungsreichen Lebens müde, wie eine vielsagende Kalligrafie vermuten lässt? Diese Fragen stehen am Anfang dieses Romans, der aus den Perspektiven des ermittelnden Polizisten, des anklagenden Staatsanwalts, des berichtenden Journalisten, des loyalen Verteidigers, des urteilenden Richters und des verantwortlichen Gefängniswärters die Motive und das Verhalten Kajis ergründet.

Hideo Yokoyama: 50. Aus dem Japanischen von Nora Bartels. Atrium Verlag 2020. 352 Seiten. 22,- Euro.

In Japan ging das Buch durch die Decke, auch weil es auf ungewöhnliche Weise die klassischen Themen überalternder Gesellschaften behandelt. »Ich glaube, die Geschichte von einem Mann, der von seiner an Alzheimer erkrankten Frau dazu aufgefordert wird, sie umzubringen, war für die meisten ein Szenario, das sie unmittelbar selbst betreffen könnte«, erinnert sich Yokoyama an seinen damaligen Erfolg. Was dem Buch zudem zu seinem Publikumserfolg verholfen habe, »waren die realen Gefühle der Unsicherheit und Liebe, die die meisten Menschen bei solchen Gedanken ihren Lebenspartnern gegenüber empfinden«, ist sich der Japaner sicher. Neben hohen Verkaufszahlen brachte das Buch dem Japaner seinen ersten Preis für den besten Krimi des Jahres ein, mit »Han’ochi« gewann er diesen exakt zehn Jahre vor der Auszeichnung von »64 Rokuyon«. Nun erscheint dieser ausgezeichnete Krimi erstmals außerhalb Japans und damit auch erstmals in einer deutschen Übersetzung aus dem japanischen Original. Nora Bartels hat den Roman nicht nur in ein flüssiges Deutsch gebracht, sondern ihr ist es auch gelungen, Brüche zu den vorangegangen Übersetzungen aus dem Englischen von Sabine Roth (bei »64« gemeinsam mit Nicolaus Stingl) zu vermeiden.

Typisch für Yokoyamas Literatur ist das Schaffen von Anknüpfungspunkten an das eigene (Er)Leben. Das funktioniert auch über die Kulturgrenzen hinweg, weil er nicht den großen gesellschaftlichen Fragen auf den Grund geht, sondern den täglichen Überlebenskampf seiner Figuren in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen beobachtet. »Die Konflikte zwischen Individuum und Organisation, die ich meist zum Thema wähle, werden oft Sturm im Wasserglas genannt – meinen also ein großes Ereignis in einer für Außen nicht bedeutsamen Einheit –, aber das ist der Bühnenstoff großer Ereignisse. Auch in »50« ist es so, dass ich nach einer neuen Art von Kriminalroman gesucht habe, bei der das Verbrechen in der Geschichte weit in den Hintergrund gerückt ist. Das mag im Maßstab klein sein, aber für den Einzelnen gibt es keinen heftigeren Sturm als den im Wasserglas. Diese Art von Vorkommnissen ist allgegenwärtig«, erklärt er seine nahezu mikroskopische Neugier am Menschen.

Hideo Yokoyama in seinem Arbeitszimmer | © Kentaro Takahashi

In Yokoyamas Werken toben an unzähligen Stellen Stürme, weil es unzählige Wassergläser gibt. Damit man den Überblick nicht verliert, ist jedem Buch ein Personenregister vorangestellt. Zusammengehalten wird das Gewimmel aus Personen und Motiven von einer strengen Methode, bei der Sätze, Aussagen und Motive Ideenpaare bilden. »Sollte es eine Zeile geben, die sich nicht zu einem Paar verbinden lässt, hat sie in meinem Roman nichts zu suchen und wird verworfen«, erklärt Yokoyama. »Wenn man das strikt durchzieht, spannt sich zwischen den Emotionen der Figuren und den Ereignissen so etwas wie ein Spinnennetz und die Geschichte erhält ganz von selbst eine Schichtung.«

Ob sein Opus Magnum »64«, das Debüt »2« oder der neue Polizeiroman »50« – stets blickt er tief in das japanische Polizei- und Justizsystem. Als »eine Welt, in der Hierarchie alles war«, beschreibt er die organisatorischen Strukturen der Behörden in »64«. Für den Mittsechziger funktioniert sie eher wie ein Dorf. »Nicht so sehr die Ehre und das Ansehen nach Außen bestimmen das Handeln, sondern vielmehr die Verhältnisse innerhalb der Sippe.« Über das Zusammenleben dieser Sippe und ihre Funktionsweisen erfährt man unzählige Details aus der japanischen Alltagskultur. Und zugleich erinnern Yokoyamas Erzählungen an die Logik des gallischen Dorfs à la Asterix so wie sie auch an die großen Dramen Shakespeares anschließen. Freundschaften und Loyalitäten innerhalb der Organisation – es ist kein Zufall, dass Yokoyama selbst diesen Begriff verwendet, der oft auch auf die Mafia angewandt wird – bestimmen ebenso oft die Dynamik des Geschehens wie Rankünen und Machtspiele. Dafür interessiere sich die japanische Öffentlichkeit kaum, bedauert der ehemalige Enthüllungsjournalist. »Obwohl es immer wieder Berichte über Skandale und Unrechtmäßigkeiten in den Medien gibt, besteht momentan keinerlei Bestreben danach, diese Systeme fundamental zu ändern.« Schreibend holt Yokoyama diese Zustände ans Licht.

Unterstützung holt er sich dabei von seiner alten Zunft. Pressevertreter ringen in seinen Krimis permanent mit der Polizei um die Deutungshoheit der Ereignisse. Beide Organe verbinde eine schwer zu greifende Hassliebe, eine Ko-Abhängigkeit, in der sie aufeinander angewiesen sind. »Aus der Sicht von Journalisten ist die Polizei einerseits ständig Gegenstand der Kritik, andererseits eine unverzichtbare Informationsquelle. Und aus der Sicht der Polizei ist die Presse ein hinderlicher Zuschauer, andererseits sorgt sie auch für die Publicity, wenn die Polizei einen Fall lösen konnte. Daher stehen sie sich so nahe, dass sie fast schon miteinander verwachsen sind, überhäufen einander aber auch mit Spott und Verachtung. Ein Verhältnis, dass man kaum in anderen Zusammenhängen wiederfindet und das von außen nur schwer zu begreifen ist.« Yokoyama kann das so genau sagen, weil er einmal Teil des Pressetrosses war. Vor seiner Schriftstellerkarriere hat er zwei Jahre lang für eine Lokalzeitung über Kriminalfälle berichtet. »Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es eine Arbeit ist, die man nur als ausgesprochen guter oder ausgesprochen schlechter Mensch machen kann.«

Hideo Yokoyama | © Bungeishunju Ltd

Moralische Urteile über seine Charaktere sollen aber andere treffen. »Gut und Böse hängen von der Fernsteuerung ab«, heißt es in seinem Justizkrimi »50«. Diese Fernsteuerung legt er mit jedem Buch in die Hand seiner Leser. Und wenn es so weitergeht, wird deren Kreis nur noch größer werden. Auf seinen Erfolg angesprochen reagiert Yokoyama bescheiden: »Erfolgreich? So habe ich noch nie von mir gedacht. Ich habe sehr viel Zeit mit Krankheit und Depression verschwendet. Im Rest meines Lebens möchte ich mich ganz aufs Romanschreiben konzentrieren.«

Eine kürzere Version dieses Porträts ist in der Ausgabe 5/2020 des Rolling Stone erschienen.