Literatur, Roman

Meisterhafte Choreografie des Schicksals

© Thomas Hummitzsch

Denkbar knapp ging Frankreichs wichtigster Literaturpreis im vergangenen Jahr an Brigitte Giraud. In ihrem Roman »Schnell leben« verarbeitet sie einmal mehr den tragischen Unfalltod ihres Mannes vor über zwanzig Jahren. Der von Michael Kleeberg glänzend übertragene Text ist durchdrungen von Poesie und Lebensweisheit.

Es gibt Bücher, die man nicht mehr zur Seite legt, sobald man einmal angefangen hat. Oft hat das etwas mit Spannungsbögen und Suspense zu tun, kein Wunder also, dass Krimis oft in diese fesselnde Kraft nachgesagt wird. Brigitte Girauds neuer Roman ist im Grunde das Gegenteil von einem Krimi und dennoch unwiderstehlich. »Schnell leben« ist ein Schicksalsroman, ein Buch der Trauer, ein Bewältigungstext, eine Liebeserklärung und eine Hymne an das Leben.

Giraud erhielt für diesen kraftvollen Text im vergangenen Jahr den Prix Goncourt, Frankreichs wichtigsten Literaturpreis. Sie folgt damit Mohamed Mbougar Sarr und Hervé Le Tellier, die in den Vorjahren den Preis erhielten. Ihr Buch setzte sich unter anderem gegen Giuliano da Empolis Roman »Der Magier im Kreml« durch, der lange als Favorit galt. Das Votum fiel auch denkbar knapp aus, beide Romane erhielten in der Endabstimmung fünf Stimmen. Da das Votum des Jurypräsidenten Didier Decoin doppelt zählt, erhielt Girauds Roman den Preis.

Brigitte Giraud: Schnell leben. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg. Frankfurter Verlagsanstalt 2023. 220 Seiten. 24. Euro. Hier bestellen.

Die 1960 in Algerien geborene Französin greift in »Schnell leben« den 1999 erlittenen Verlust ihres Mannes auf, den sie schon in dem Roman »Das Leben entzwei« vor über zwanzig Jahren literarisch zu greifen versucht hat. Das Thema zieht sich durch ihr Werk, auch in ihrem Roman »Einen Körper haben« greift sie das Szenario eines Verkehrsunfalls mit tödlichem Ausgang auf.

Auslöser der nochmaligen Auseinandersetzung ist neben der mit dem Abstand gewachsenen Erfahrung, wie sich die Folgen des verheerenden Motorradunfalls in ihr Leben schreiben, der Verkauf eines Hauses. Kurz vor dem Tod von Claude hatte das Paar ein Haus gekauft. Es war der Höhepunkt des gesellschaftlichen Aufstiegs der beiden Nachkommen algerischer Einwanderer. Sie hatten sich aus den Banlieues von Lyon ins Zentrum hochgearbeitet. Jetzt sollte das Eigenheim kommen, doch drei Tage vor dem Einzug stirbt Claude auf der Straße. Ein gemeinsames Leben in dem Haus hat es nie gegeben. Und doch ist es für die Ich-Erzählerin von dem Verstorbenen beseelt.

Brigitte Giraud hat über ein Dutzend Bücher veröffentlicht, fünf davon sind bisher in deutscher Übersetzung erschienen. In »Das Leben entzwei« und »Einen Körper haben« (Übersetzung jeweils von Anne Braun) ist das Motiv eines Verkehrsunfalls bereits zentral.

Nun soll vor dem Haus eine große Straße gebaut werden und die Ich-Erzählerin beschließt, es zu verkaufen und auszuziehen. Vorher muss sie sich aber »noch über eine letzte Sache klarwerden«. Denn Claudes Tod hängt für sie elementar mit diesem Haus zusammen, ist das Ergebnis einer Verkettung unglücklicher Ereignisse. »Ich komme wieder auf die Litanei des „Wenn“ zurück, die mich all die Jahre gequält hat«, heißt es da, um das Leben aus dem Konjunktiv herauszuholen und noch einmal neu zu beginnen.

Im Moment eines Schicksalsschlags steht die Welt still, doch irgendwann dreht sie sich wieder weiter und der Alltag setzt ein. Betroffene, Angehörige und Hinterbliebene, das macht dieser eindringliche Text deutlich, suchen nach Erklärungen für das Unerklärliche und nach Wegen, wie man dem Schicksal noch einmal von der Schippe hätte springen können. So auch Giraud, die sich dem folgenschweren 22. Juni 1999 noch einmal aus der Distanz und all den Mikroereignissen auf dem Weg dorthin nähert, die in der Retrospektive ein Netz webten, »dessen Maschen immer enger wurden, so dass sie schließlich unausweichlich zu dem Unfall führten.« Weit sind die Maschen noch bei der Entscheidung, die erste gemeinsame Wohnung für den Traum nach einer größeren zu verkaufen, und unausweichlich eng sind sie in dem Moment, in dem die letzte Ampel von rot auf grün springt.

Der Text wird so zu einer Art Countdown, dem man sich kaum entziehen kann. Mit jeder Seite nähert man sich dem bitter end, von dem die britische Alternative-Rockband Placebo vier Jahre nach dem Unfall singt. Musik spielt in diesem Text eine wichtige Rolle, denn Claude, der Mann der Ich-Erzählerin, organisierte nicht nur die Plattensammlung in Lyons öffentlicher Mediathek, sondern war auch als Musikjournalist für die Tageszeitung Le Monde aktiv. Auch die Musik, die er am Tag des Unfalls gehört hat, gehört zu den Wenns, die die Ich-Erzählerin untersucht.

Der Text folgt insgesamt 22 Momenten, in denen das Schicksal eine andere Wendung hätte nehmen können. Das klingt an sich unspektakulär, Giraud macht daraus aber eine Gesellschafts- und Lebensgeschichte, die statistische, soziale, (wirtschafts)politische, kulturelle und private Aspekte miteinander verknüpft. Dabei gelingt es ihr immer wieder, die Essenz des Lebens in Worte zu bringen. Etwa wenn sie die Tatsache, dass Claude an dem Tag den gemeinsame Sohn von der Schule abholen sollte und eventuell in Eile war mit dem Umstand beschreibt, dass uns allen die Schlinge der Zeit um den Hals gelegt sei und wir ständig das Gefühl hätten, etwas wichtiges zu verpassen. Erst recht Eltern, die permanent dem Countdown hinterher hetzten, »von morgens bis abends, bis dann endlich das Licht im Kinderzimmer gelöscht ist, und man sich mit einem großen Uff aufs Sofa sinken lässt.«

Eindrucksvoll ist vor allem die Sprache, von der dieser Roman lebt. Hier muss man Michael Kleebergs Übersetzung hervorheben, der es gelingt, nicht nur die Fachjargons der Immobilienwirtschaft, der Musikkritik oder der Biker-Szene authentisch nachzubilden, sondern der dem dann noch poetische Töne abringt. Zugleich entwickelt der Text von innen heraus eine unheimliche, fesselnde Kraft, der man wie dem Atem instinktiv folgt. Dabei macht der Text selbst eine Entwicklung durch. Je näher die Erzählung dem fatalen Ereignis kommt, desto langatmiger wird sie. So spiegelt sie die Verzögerungstaktik der Ich-Erzählerin, ihre Angst, sich mit dem Unvermeidlichen zu konfrontieren.

Hätte, wenn und aber, dieser Text lebt von der Frage, ob es so etwas wie das Schicksal gibt. Dort allein hört der Roman aber nicht auf, sondern in der Befragung des Lebens nach der Katastrophe geht es auch darum, wie wir in einer derartigen Anomalie weiterleben. »Ich stelle Hypothesen auf, um dieses schwarze Loch damit zu überdecken, in das ich jedes Mal falle, wenn ich versuche, mir diesen letzten Tag auszumalen.«

Diese Hypothesen scheinen letztlich zentral, um ohne Vorwurf mit einem solchen Schicksalsschlag umgehen zu können. Wie einfach wäre es, die Welt zu verfluchen oder dem Verunglückten vorzuhalten, mit dem Risiko gespielt zu haben, als er sich auf die Honda 900 CBR gesetzt und ausgetestet hat, was in ihr steckt. Bei Giraud geschieht aber genau das Gegenteil. Die Erzählerin bringt Verständnis für den Kitzel auf, den das Spiel mit dem Gas mit sich bringt. »Er konnte es sich doch nicht nehmen lassen, den Motor einmal voll aufzudrehen, zu hören, wie er aufheulte, und diesen Quasi-Atomreaktor zwischen den Schenkeln zu spüren, der einen mit Lichtgeschwindigkeit nach vorn katapultiert.«

Indem Giraud noch einmal in die letzten Tage und Wochen vor dem Tod ihres Mannes einsteigt und sich ihren intimsten Gedanken stellt, erobert sie sich fulminant das Leben zurück.