Der algerische Autor Kamel Daoud hat für seinen aktuellen Roman »Houris« den renommierten Prix Goncourt erhalten. Darin erzählt eine junge algerische Frau ihre leidvolle Geschichte aus dem Bürgerkrieg der Neunziger Jahre. Die Übersetzung von Celan-Preisträger Holger Fock soll im Herbst 2025 bei Matthes & Seitz Berlin erscheinen.
»Das ist dein Traum, bezahlt mit euren Lebensjahren. An meinen verstorbenen Vater. An meine noch lebende Mutter, die noch lebt, aber sich an nichts mehr erinnert. Kein Wort existiert, um wirklich Danke zu sagen«, schrieb der algerische Autor und Journalist Kamel Daoud über einem Foto seiner Eltern auf X, nachdem die Académie Goncourt in der vergangenen Woche den diesjährigen Preisträger für den besten französischsprachigen Roman bekanntgeben hat.
Bereits im ersten Wahlgang konnte sich die Jury auf den dritten Roman des Algeriers als Preisträger einigen. Daouds »Houris« setzte sich in der finalen Auswahl gegen Sandrine Colettes »Madelaine avant l‘aube«, Gaël Fayes »Jacaranda« und Hélène Gaudys »Archipels« durch. In dem Roman spricht eine junge Frau, die im algerischen Bürgerkrieg der Neunziger Jahre den Überfall ihres Dorfes durch Islamisten überlebt hat.
Die finale Auswahl für den Prix Goncourt 2024
»Mit Houris krönt die Académie Goncourt ein Buch, in dem Lyrik und Tragik miteinander wetteifern und das den Leiden, die mit einer dunklen Periode Algeriens verbunden sind, eine Stimme verleiht, insbesondere den Leiden der Frauen. Dieser Roman zeigt, wie die Literatur mit ihrer großen Freiheit, die Realität zu untersuchen, und ihrer emotionalen Dichte neben der historischen Erzählung eines Volkes einen anderen Weg der Erinnerung beschreitet«, wird Académie-Mitglied Philippe Claudel zur Bekanntgabe des Preisträger-Romans auf der Website zitiert.
»Houris« folgt dem Missbrauchsroman »Trauriger Tiger« von Neige Sinno, der im Vorjahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde und seit einigen Wochen in der Übersetzung von Michaela Messner vorliegt. 2022 wurde die Französin Brigitte Giraud mit ihrem autobiografischen Erinnerungsroman »Schnell leben« von der Académie Goncourt ausgezeichnet, davor der senegalesische Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr für seinen Roman »Die geheimste Erinnerung der Menschen«.
Zuletzt mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet
Der Algerier Kamel Daoud galt wochenlang als Favorit auf den Preis, der seit 1903 jedes Jahr vergeben wird. Er lebte bis vor Kurzem in der algerischen Küstenstadt Oran, der zweitgrößten Stadt des Landes. Vor kurzem verließ er seine Heimat, um sich in Frankreich niederzulassen. Ein Grund war sicherlich sein Roman, der das schwarze Jahrzehnt des algerischen Bürgerkriegs zwischen 1992 und 2002 thematisiert, über den zu sprechen in Algerien gesetzlich verboten ist.
Seit Jahren beobachtet Daoud als Journalist das politische Geschehen in seiner Heimat und warnt vor zu viel Toleranz gegenüber dem politischen Islam. Seine Mahnungen gelten den offenen westlichen Gesellschaften, die sich vor der Zange aus reaktionären Kräften einerseits und den Verfechtern einer vorauseilenden Toleranz andererseits hüten sollten.
In seinem neuen Roman hat er die jüngeren gesellschaftspolitischen Entwicklungen in seiner Heimat verarbeitet. Als »Houris« werden im Islam die Jungfrauen bezeichnet, die im Jenseits die Märtyrer erwarten. Daoud überträgt diese religiöse Trope metaphorisch auf seine 26-jährige Hauptfigur, um einmal mehr das Verhältnis des Islam zu Frauen und ihrer Körperlichkeit zu thematisieren. Dem Körper der jungen Aube, deren düstere Erinnerungen einen Teil des Romans bilden, sind die Grauen des Bürgerkriegs eingeschrieben. Eine große Narbe zieht sich über ihren Hals. Sie erinnert an ein brutales Massaker, bei dem ihr die Kehle aufgeschlitzt wurde. Seitdem ist sie ihrer Stimme beraubt.
In Daouds Roman erzählt sie dem Kind in ihrem Leib, das Folge einer Vergewaltigung ist, ihre leidvolle Geschichte. Die Frage, ob sie, die fast aus dem Leben gerissen wurde, einem Kind, das sie nicht will, ein glückliches Leben schenken kann, kommt auf. Aube macht sich quasi per Anhalter auf den Weg in das Dorf, in dem ihr Trauma begann, um die Lebenden und die Toten, denen sie begegnet, zu befragen. Dem Mann, der sie in seinem Fahrzeug mitnimmt, gehört die zweite Tonspur in Daouds Roman. Als eine Art historisches Gewissen trägt er die Details und Zusammenhänge des Bürgerkriegs vor.
Damals bekämpften sich unterschiedliche islamistische Fraktionen und der autoritäre, aber noch säkulare Staat. Insbesondere die säkularen Eliten sowie die algerischen Frauen standen im Fokus der islamistischen Attacken. In Daouds Roman reisen mit dem belesenen Fahrer und der jungen Aube zwei Repräsentant:innen dieser Gruppen durch ein Land, das vom Bürgerkrieg gezeichnet ist, in dem darüber zu sprechen (und zu schreiben) aber verboten ist.
Umso bedeutsamer ist nun diese Auszeichnung, denn »Houris« wird aufgrund des gesetzlichen Verbots, über den Bürgerkrieg zu sprechen, in Algerien nicht vertrieben. Der renommierte französische Verlag Gallimard, bei dem der Roman erschienen ist, wurde sogar von der diesjährigen Buchmesse in Algier ausgeladen, damit der Roman nicht ins Land kommt. Daraufhin hatten auch alle anderen Verlage des Madrigall-Gruppe, zu der Gallimard zählt, ihre Präsenz in Algier abgesagt. Durch die Auszeichnung mit dem wichtigsten Literaturpreis der französischsprachigen Welt wird der Roman in Algerien nicht unbemerkt bleiben. Beim Literaturfestival »Les Correspondances« im französischen Manosque sagte Daoud, dass das Buch in Algerien zwar nicht vertrieben werden dürfe, dass es aber als Raubkopie kursiere und gelesen würde.
In Frankreich wurde die Auszeichnung des Romans überwiegend positiv kommentiert, wenige Stimmen kritisierten den klassischen Stil des Textes. Schon vor der Auszeichnung wurde Daouds Roman viel gepriesen, er galt wochenlang als Favorit auf den Preis. »Houris« sein ein »meisterhaftes«, »mutiges« und »herzzerreißendes Buch«, ein »literarisches Denkmal« und »historisches Fresko, das von einem strahlenden lyrischen Atem getragen wird«. Es sei »mehr als ein Werk der Wahrheit«, ein »fesselnder, lebendiger, dramatischer und witziger Roman«, der den Opfern des Bürgerkriegs eine Stimme gibt.
Daoud selbst legte Wert darauf, festzuhalten, dass es sich nicht um einen Bürgerkriegsroman, sondern um einen »Roman der Auferstehung« handele. »Houris« wurde bereits mit dem Prix Transfuge du meilleur roman francais und dem Prix Landerneau des lecteurs des Kulturkaufhauses Leclerc ausgezeichnet.
Kamel Daoud veröffentlichte vor zwölf Jahren seinen Erzählband »Minotaurus 504« (übersetzt von Sonja Finck), vor zehn Jahren seinen Debütroman »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung«. In dem von Claus Josten übersetzten Text nimmt er Bezug auf Albert Camus‘ Klassiker »Der Fremde«, in dem einem Franzosen namens Meursalt der Prozess gemacht wird, nachdem er einen Araber umgebracht hat. In Daouds postkolonial grundierter Fortschreibung dieser Geschichte erzählt der algerische Bruder dieses namenlos gebliebenen Opfers die Geschichte dieses Mannes. Er macht dabei nicht nur seinem Ärger Luft, sondern er stellt der eurozentristischen Lesart auch eine algerische Perspektive an die Seite.
Bisher von Kamel Daoud in deutscher Übersetzung erschienen
Der Académie Goncourt fiel Daoud damals zum ersten Mal auf, sein Debüt erhielt den Prix Goncourt du premier roman, also den Debütpreis des Prix Goncourt. Fünf Jahre später veröffentlichte Daoud den mit magisch-realistischen Elementen versehenen Emanzipationsroman »Zabor« (ebenfalls von Claus Josten übersetzt), 2020 das Sachbuch »Meine Nacht im Picasso-Museum« (übersetzt von Barbara Heber-Schärer). Im August erschien in Frankreich sein nun ausgezeichneter Roman.
Dem französischen Wochenmagazin Le Point, für das Daoud in den vergangenen Jahren zahlreiche Kommentare verfasst hat, gab der Algerier kurz vor dem Erscheinen seines Romans ein vielsagendes Interview. Algerien leide »unter einem Übergedächtnis, was den Befreiungskrieg angeht, und an einem Untergedächtnis, was den Bürgerkrieg mit seinen 200.000 Toten angeht«, sagte Daoud. Sein Roman sei den Frauen gewidmet, die »die wahren Opfer dieses Krieges, wie aller Kriege« seien. Mit dem Versöhnungsgesetz von 2005 habe man den Kinderschlächtern vergeben, »aber einer Frau, die in einem Busch vergewaltigt und geschwängert wurde, verzeiht man nicht.« Das nahezu homerische Epos der Entkolonialisierung hab die Männer befreit, aber für Frauen sei das Leben sogar schlechter geworden.
Der Verlag Matthes & Seitz Berlin hat inzwischen angekündigt, dass Kamel Daouds neuer Roman unter dem Titel »Huris« in seinem Herbstprogramm erscheinen soll. Daouds neuer Roman sein »ein wichtiges und gewichtiges« Buch, »ein mutiger Text mit einem zutiefst humanistischen Ansatz, sprachlich virtuos und literarisch, der den Preis mehr als verdient hat«, heißt es aus dem Verlag. Die Veröffentlichung der Übersetzung von Holger Fock, der gemeinsam mit Sabine Müller im vergangenen Jahr den Paul-Celan-Preis erhalten hat, ist für den 2. Oktober 2025 avisiert. Fock und Müller hatten bereits den 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman »Die geheimste Erinnerung der Menschen« von Mohamed Mbougar Sarr übersetzt.