Drei Menschen. Drei Liebes- und Lebensgeschichten. Drei Abgründe. Eshkol Nevo lässt die Figuren in seinem mitreißenden Roman mit sich selbst und der Welt hadern, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Eine Obstplantage ist nicht der Garten Eden, aber im Talmud gibt es eine Geschichte, in der vier Weisen in einen Garten treten. Das hebräische Wort für diesen Garten lautet Pardes, in dem der Obstgarten ebenso mitschwingt wie der Lustgarten und das Paradies. Der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo nutzt diese Metapher in seinem neuen Roman, um all das Mystische und Rätselhafte des Lebens zum Klingen zu bringen.
Der Israeli erzählt in seinem neuen Roman »Trügerische Anziehung« in drei lose verbundenen Geschichten von Menschen, die ein Ereignis rekonstruieren, das ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Dabei lösen sich die Gewissheiten der jeweiligen Ich-Erzähler:innen auf und die Grenze zwischen Wunsch, Angst und Wirklichkeit verschwimmt.
Die eingangs erwähnte Geschichte »Ein Mann trat ins Paradies« handelt von Chelli und Ofer, die jeden Samstag eine Runde durch die lokale Obstplantage drehen. Es ist eine Art eheliches Ritual, das nicht immer harmonisch verläuft und dennoch die Dinge in der Balance hält. Bis Ofer bei einem der Spaziergänge zwischen den Büschen verschwindet und nie mehr wiederkommt. Die Polizei ermittelt in alle Richtungen, doch die wenigen Spuren verlaufen im Sand. Chelli bleibt mit vielen offenen Fragen zurück. Was ist mit ihrem Mann geschehen? Ist er von Terroristen entführt, um Gefangene freizupressen, oder Opfer eines Ritualmords der thailändischen Gastarbeiter, die auf der Obstplantage leben? Oder hat er einen Schlussstrich unter sein altes Leben gemacht und irgendwo mit einer neuen Identität neu angefangen?
In der Rekonstruktion der Ereignisse, die zu jenem verhängnisvollen Ausflug geführt haben, traut sie sich und ihren Gewissheiten schon bald nicht mehr über den Weg. Gemeinsam mit ihrer Tochter Ori sucht sie in den exakt 100 Wörter langen Gleichnissen, die Ofer unter Pseudonym veröffentlicht hat, nach Hinweisen, die sein Verschwinden erklären könnten. In diesem Versuch ruht eine leise Hoffnung, aber die wird nicht genährt.
Die Ereignisse in der weiteren Handlung – Chelli wird auf eine Sex- und Trance-Party in der Obstplantage stoßen, bei der ihr geheimnisvolle Pillen gereicht werden – bleiben rätselhaft und nebulös, so dass man von einer greifbaren Normalität nicht sprechen kann. Als Oris jüngerer Bruder Mattan unter der Last eines Geheimnisses, das er mit seinem Vater kurz vor dessen Verschwinden geteilt hat, zusammenbricht, führt dies zumindest den Rest der Familie in einem intimen Moment zusammen. »Eine ungeschickte Umarmung, denn wie umarmt man sich als Trio?«, heißt es da lakonisch. Und weiter: »Es war einmal eine Familie, die ist nicht mehr, was sie war, aber nun ist sie etwas anderes«.
Eshkol Nevo in deutscher Übersetzung
Von Dingen, die einmal waren und nun etwas anderes sind, handeln die drei Geschichten, aus denen sich Nevos flirrender Roman »Trügerische Anziehung« zusammensetzt. In allen kommt es zu polizeilichen Ermittlungen, in denen die Hauptfiguren jeweils »ihre Version der Ereignisse« aufschreiben sollen.
Das Werk beginnt mit Omri, der nach seiner Scheidung in Bolivien Abstand sucht. Dabei verliebt er sich in die schöne Mor, die sich mit ihrem mürrischen Mann Ronen in den Flitterwochen befindet. So unmittelbar, wie sich Omri und Mor in Südamerika begegnet sind, trennen sich ihre Wege. Zurück in Israel erfährt Omri, dass Ronen Amirov bei der Reise ums Leben kam. Er soll einen Abhang herabgestürzt sein – im Titel der Erzählung »Die Straße des Todes« klingt das Drama an.
Omri sucht in Israel die trauernde Witwe auf und verfällt erneut ihrem Charme. Als die Polizei auftaucht und Mor verdächtigt, ihren Mann umgebracht zu haben, weiß er nicht mehr, wem oder was er glauben soll. »Vielleicht stellen wir keine Fragen, deren Antworten wir fürchten», räumt Omri an einer Stelle ein, nur um sich dann aus der Verantwortung herauszuwinden. »Ich bin nur ein Mann, der blind einer Frau gefolgt ist, die die richtigen Knöpfe gedrückt hat.«
An sich selbst zweifelt auch Dr. Caro, ein älterer und allseits geschätzter Chirurg, der im Mittelpunkt der zweiten Geschichte »Familiäre Vorbelastung« steht. Nach dem Krebstod seiner Frau hat er den Dienst wieder aufgenommen. Denn »was macht ein Arzt an Tagen, an denen er nicht dazu in der Lage ist, ein Arzt zu sein? Wenn das Leben einfach ein paar Nummern zu groß für ihn ist? Er geht zu Arbeit.«
In der Klinik stellt sich Caro schützend vor die junge Assistenzärztin Niva, die auf den Schürzenjäger unter den Oberärzten, einen gewissen Liat Ben-Abu hereingefallen ist. Zwischen Caro und Niva entwickelt sich ein vertrauensvolles Verhältnis, was vor allem Caros Lebenslust steigert. »Mir fiel auf, dass ich mich leichtfüßiger als sonst bewegte. Ein Fossil erwachte zu neuem Leben.« Doch bei dem Chirurgen schiebt sich Zuneigung über das Vertrauen, (väterliche) Liebe über die Freundschaft. Niva kann dies nicht einordnen und schon bald sieht sich Caro mit dem Vorwurf konfrontiert, sexuell übergriffig gewesen zu sein.
Diese zweite Erzählung ist ein schwindelerregender Taumel, ein Wellenbad der Gefühle, in dem man spürt, wie der verliebte Ich-Erzähler den inneren Kompass zu wahren versucht. Zum Ende hin erfährt die Erzählung eine so schmerzhafte Wendung, dass man sich als Leser:in im Sessel krümmt. »Mein Vater hat mir beigebracht, dass Liebe bedeutet, verletzt zu werden«, kommentiert Caro seine Erzählung und schiebt nach, »dass das aber keine Ausrede ist, nicht zu lieben.«
Die verwirrenden Geschichten in Eshkol Nevos von Ulrike Harnisch elegant übersetztem Roman tauchen tief in die psychologischen Abgründe der Figuren ein und vermessen die Parallelwelten, die sich dort eröffnen. In einer Erzählung wird David Lynchs Film »Lost Highway« erwähnt, in einer anderen »Mullholland Drive«, in der dritten der von Lynch ebenfalls verfilmte Wüstenplanet »Dune«. Man muss daher in Lynchs surrealem Zugang zur Welt einen Schlüssel zu diesem unbehaglichen Montageroman vermuten. Von seinen Teilen geht etwas gleichermaßen Faszinierendes wie Bedrohliches aus, der trügerischen Anziehung erliegen sowohl die Figuren wie die Leser:innen dieses von Ulrike Harnisch toll übersetzten Romans.
Im Lockdown geschrieben, zeigt dieser ebenso düstere wie packende Roman die fatalen Folgen der Einsamkeit auf. »Menschen sind fast immer einsam«, heißt es an einer Stelle, und bleiben es im Inneren auch, möchte man fast hinzufügen.
In den inneren Dramen deutet sich aber auch die Normalität der Gewalt an, die die israelische Gesellschaft seit Jahren prägt. Mit Gespür für die inneren Abgründe blickt der israelische Schriftsteller seinen Figuren in die traurige Seele und geht dem Geheimnis von Liebe, Verlust und Hoffnung auf den Grund. Packend und mit psychologischer Tiefe taucht Eshkol Nevo in die Köpfe seiner Figuren ein, die nach Erklärungen für die »Trügerische Anziehung« suchen, der sie erliegen.