Kultregisseur David Lynch geht in seinem Meisterwerk »Lost Highway« der menschlichen Psyche auf den Grund.
Was auch immer der Musiker Fred Madison (Bill Pullman) hinter sich hat, es ist traumatisch. Ausgelaugt, ja geradezu verängstigt sitzt er im Dunkeln, zieht an seiner Zigarette und starrt er vor sich hin. Als die Rollos der Fenster automatisch öffnen, zuckt er zusammen. Wenige Sekunden später klingelt es. Nur zögerlich geht er zur Gegensprechanlage. »Dick Laurent ist tot«, raunt eine unbekannte Stimme durch den Lautsprecher. Als er nachsehen will, wer ihm diese Nachricht überbringt, ist niemand zu sehen. Im Hintergrund hört man Polizeisirenen und den psychedelischen Score von Angelo Badalamenti (Twin Peaks, Mulholland Drive).
Kultregisseur David Lynch braucht keine drei Minuten, um einem das Unbehagen so tief in den Kopf zu pflanzen, dass es diesen für die folgenden 120 Minuten nicht mehr verlassen wird. Ein Video taucht auf, auf dem das Haus von außen zu sehen ist. Als Fred zu einem Auftritt fährt, bleibt seine geheimnisvolle Frau Renee (Patricia Arquette) im Haus. Als er sie später versucht anzurufen, geht sie nicht ans Telefon. Zurück von seinem Gig schläft er mit ihr, steif und pflichtschuldig. Irgendetwas stimmt hier nicht. Düster ist die Atmosphäre, das Verhältnis von Fred und Renee scheint distanziert. Etwas Bedrohliches liegt in der Luft.
Die Beklemmung wächst, als am nächsten Tag ein neues Video vor dem Haus liegt. Zu sehen ist, wie jemand mit einer Kamera durch das dunkle Haus bis ins Schlafzimmer läuft und das schlafende Paar filmt. Die Polizei wird eingeschaltet. Als sie Fred befragt, sagt er, dass seine Aussagen nicht helfen werden, weil er sich an Dinge »auf seine Art« erinnere – nicht so, wie sie zwangsläufig passiert sind.
Bei der Party eines Bekannten von Renée wird Fred von einem mysteriösen Mann (Robert Blake) angesprochen, der behauptet, dass er im Moment des Gesprächs in Freds Haus sei. Als Fred dort anruft, geht tatsächlich jener Mann, der einem Mephisto ähnelt, an den Hörer. Gefragt, wer dieser Mann sei, sagt der Gastgeber, dass er ein Freund von Dick Laurent sein müsse. Exakt jener Dick Laurent, der angeblich tot ist. Ist das der Schlüssel? Ist dieser geheimnisvolle Mephisto der Mann an der Klingel und der heimliche Kameramann? Fred und Renee verlassen umgehend die Party, noch in derselben Nacht kommt es zu einem Massaker. Der Musiker wird wegen Mordes an seiner Frau zum Tode verurteilt.
Im Gefängnis geschieht dann Sonderbares. Statt Fred sitzt plötzlich ein Kleinkrimineller namens Pete Dayton (Balthazar Getty) in dessen Zelle. »Das kommt mir vor wie ein Horrorfilm«, kommentiert der diensthabende Wachmann das Geschehen vielsagend. Lynch mixt in seinem ersten Spielfilm nach Twin Peaks Elemente des Film Noir mit denen des Psychothrillers. Entstanden ist ein Werk, das unter die Haut geht, auch weil die Chronologie der Erzählung nebulös und die Grundstimmung durch Lynchs bewusst-experimentellen Einsatz von Ton und visuellen Effekten bedrohlich bleibt.
Die Geschichte des KfZ-Mechanikers Pete Dayton muss sich vor dem Tod von Dick Laurent ereignet haben, denn der taucht hier als Mr. Eddy wieder auf. Durch ihn lernt der junge Schrauber die attraktive Alice Wakefield kennen, die der ermordeten Renee wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Patricia Arquette gibt in ihrer körperlichsten Rolle diese betörende Femme Fatale, deren Verführungskünsten auch der junge Pete erliegt. Sie wird ihn überreden, sie aus den Fängen von Mr. Eddy alias Dick Laurent und dessen Pornoimperium zu holen. Wer jetzt Bonny und Clyde erwartet, wird von Lynch eines Besseren belehrt. Es geht ungebremst in die Psyche seiner Protagonisten. Über die Geschehnisse von Pete und Alice legt sich mehr und mehr die Geschichte von Fred und Renee, die Alter Egos verschwimmen mehr und mehr zu jeweils einer Person. In beiden Fällen erwächst aus Leidenschaft Misstrauen und schließlich psychedelischer Horror.
Lynchs Kino entzieht sich einem rationalen Zugang. Kein geringerer als Homer Simpson hat das beim Twin Peaks-Schauen festgestellt: »Genial. Ich habe absolut keine Idee, was da vor sich geht«, lautet sein legendäres Urteil. »Die Realität ist riesig«, sagte Lynch in einem Interview zum Film. Lost Highway zeigt, dass die Erinnerung nur eine andere Form der Realität ist.
Dieser Text ist zugleich im Rolling Stone 1/2019 erschienen
[…] Die andere Realität […]