Die Britin Samantha Harvey ist für ihren Roman »Orbital« mit dem wichtigsten Literaturpreis der englischsprachigen Welt ausgezeichnet worden. Damit hat erstmals seit 2019 wieder eine Frau den renommierten Booker Prize gewonnen. Der Roman, der von sechs Raumfahrer:innen erzählt, erscheint in dieser Woche in der Übersetzung von Julia Wolf unter dem Titel »Umlaufbahnen« auch in Deutschland.
Zwei Frauen und vier Männer schweben in einer Raumstation durchs All. Den Planeten Erde umkreisen sie sechzehn Mal innerhalb von 24 Stunden. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Nationen, arbeiten, essen und schlafen auf engstem Raum – und doch ist alles losgelöst vom Alltag, Schwerkraft und Zeitempfinden sind außer Kraft gesetzt. Das ist die Grundkonstellation von Samantha Harveys Roman »Orbital«, der mit dem diesjährigen Booker Prize ausgezeichnet wurde. Sie folgt Paul Lanch, der im vergangenen Jahr für seinen Roman »Das Lied der Propheten« mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde.
Original und Übersetzung
Der Vorsitzende der Jury, der britische Autor Edmund de Waal (»Der Hase mit den Bernsteinaugen«), lobte Harveys Roman in einer enthusiastischen Rede als »ein Buch über eine verwundete Welt«, das bewegt und mitreißt. »You must read this, this will change your life!«, schwärmte de Waal. Mit ihrer gleichermaßen lyrischen und scharfsinnigen Sprache lasse Harvey die Welt vor den Augen der Leser:innen fremd und neu erscheinen. Der Roman habe eine ganz eigene Schönheit, in der sich Harveys große Achtsamkeit gegenüber der gleichermaßen kostbaren wie prekären Welt spiegele.
Wie treffend diese Worte sind, zeigt sich schon im ersten Absatz des Romans, der in den kommenden Tagen in der Übersetzung von Julia Wolf unter dem Titel »Umlaufbahnen« in Deutschland erscheint.
»So einsam sind sie in ihrem um die Erde kreisenden Raumschiff und gleichzeitig einander so nah, dass ihre Gedanken, ihre individuellen Mythologien, bisweilen zusammenfinden. Mitunter träumen sie dieselben Träume – von Fraktalen und blauen Sphären und vertrauten Gesichtern in der Dunkelheit, vom leuchtenden, energiegeladenen Schwarz des Weltraums, das ihre Sinne überwältigt. Das bloße All ist ein Panther, ungezähmt und ursprünglich; in ihren Träumen pirscht er durch die Quartiere.«
Das literarische Werk von Samatha Harvey
Die Gewinnerin, 1975 im britischen Kent geboren, wird in Großbritannien als Virginia Woolf ihrer Generation bezeichnet. Im Nominierungsinterview gab sie Woolfs Klassiker »Mrs Dalloway« als Buch an, zu dem sie immer wieder zurückkehre. Mit Harvey gewann erstmals seit fünf Jahren wieder eine Frau den Booker Prize. 2019 waren Margaret Atwood und Bernadine Evaristo gemeinsam ausgezeichnet worden.
Bei der Preisverleihung in London zeigte sich Harvey überrascht. »Das habe ich nicht erwartet«, sagte Harvey, nachdem sie den mit 50.000 Pfund dotierten Preis entgegengenommen hat. Sie widmete ihren Triumph denen, die »für und nicht gegen die Erde sprechen, für und nicht gegen die Würde anderer Menschen, des anderen Lebens und aller Menschen, die für den Frieden sprechen, ihn einfordern und dafür arbeiten«.
In ihrem 224 Seiten zählenden Roman stellt Harvey grundsätzliche Fragen des Daseins. Was ist das Leben ohne die Erde? Und was wäre die Erde für ein Ort, gäbe es den Menschen nicht? Während ihre Figuren mit über 27.000 Kilometern pro Stunde an Kontinenten, Gletschern, Wüsten, Berglandschaften und Ozeanen vorbeiziehen, denken sie über ihr Leben auf diesem Planeten nach. In kurzen Gesprächen mit der Familie, durch Fotos und Andenken erhalten wir einen Einblick in Momente ihres irdischen Lebens. Einen Tag lang begleitet der Roman die täglichen Routinen seiner Charaktere und beobachtet die besonderen Momente, in denen versuchen, der inneren und äußeren Einsamkeit zu entfliehen.
»Die Zerbrechlichkeit des Lebens füllt ihre Gespräche, dringt in ihre Ängste und Träume. So weit von der Erde entfernt haben sie sich noch nie so sehr als Teil – oder als beschützender Teil – von ihr gefühlt«, heißt es auf der Seite des Booker Prize.
Die Booker-Juror:innen zeigten sich schon vor der Auszeichnung begeistert. Harveys Vision eines grenzenlosen und vernetzten Planeten sei ein Plädoyer »für die Sinnlosigkeit territorialer Konflikte und die Notwendigkeit von Zusammenarbeit und Respekt für unsere gemeinsame Menschlichkeit«, heißt es in einer Kritik. In einer anderen wird hervorgehoben, dass der Roman »die Unterschiede zwischen Grenzen, Zeitzonen und unseren eigenen individuellen Geschichten« verwische, indem die Handlung den gesamten Planeten in einem einzigen Erzählrahmen zusammenführe. »Orbital« lese sich wie ein Liebesbrief, wie »ein Akt der Anbetung«.
Samantha Harvey war bereits 2009 für den Booker Prize nominiert, damals stand sie mit ihrem Debütroman »The Wilderness« auf der Longlist des Booker Prize. Seither hat sie vier weitere Romane und ein Sachbuch veröffentlicht, »Orbital« ist ihr fünfter Roman, in Großbritannien ist er bereits vor einem Jahr erschienen. Harvey gewann seitdem auch den mit 25.000 Pfund dotierten Hawthorndon Prize for Literature, ihr Roman wurde zudem für den Orwell Prize for Political Fiction 2024 sowie den Ursula K. Le Guin Prize 2024 nominiert. Mit knapp 30.000 verkauften Exemplaren vor der Auszeichnung war »Orbital« zudem das meistverkaufte Buch der diesjährigen Auswahl.
Die deutschen Übersetzungen der Booker Prize Shortlist 2024
Auf der Shortlist standen neben Harveys ausgezeichnetem Buch (das in der Übersetzung von Julia Wolf unter dem Titel »Umlaufbahnen« dieser Tage bei dtv erscheint) die Romane »Creation Lake« von Rachel Kushner (erscheint im April 2025 in der Übersetzung von Bettina Abarbanell unter dem Titel »See der Schöpfung« bei Rowohlt), »Held« von Anne Michaels (ist bereits in der Übersetzung von Patricia Klobusiczky unter dem Titel »Zeitpfade« bei Piper erschienen), »Stone Yard Devotional« von Charlotte Wood, »James« von Percival Everett (ist bereits in der Übersetzung von Nikolaus Stingl bei Hanser erschienen) sowie »The Safekeep« von Yael van der Wouden (erscheint Ende Januar 2025 in der Übersetzung von Stefanie Ochel im Gutkind Verlag) für den Preis nominiert. Unter den Buchmachern war Percival Everett mit seiner Überschreibung von Mark Twains »Tom Sawyer«-Roman favorisiert worden, die auch beim National Book Award auf der Shortlist steht und dessen deutsche Übertragung für den Internationalen Literaturpreis 2024 nominiert war.
Den International Booker Prize für den besten nicht-englischsprachigen Roman gewannen in diesem Jahr Jenny Erpenbeck und ihr Übersetzer Michael Hofmann. Ausgezeichnet wurde die Übertragung von Erpenbecks Roman »Kairos«.