Olga Grjasnowa erzählt von einer ganz normalen jüdischen Familie. Das wirkt ein Jahr nach dem 7. Oktober wie ein Echo aus fernen Zeiten.
Die 1984 in Aserbaidschans Hauptstadt Baku geborene Olga Grjasnowa ist eine der vielversprechendsten Autor:innen ihrer Generation. In ihrem autofiktionalen Debüt »Der Russe ist einer, der Birken liebt« erzählte sie die Geschichte einer jungen Jüdin, die als Kontingentflüchtling aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwandert. Es folgten ihre turbulente Osteuropa-Roadnovel »Die juristische Unschärfe einer Ehe« und die in Berlin angesiedelte Flüchtlingsgeschichte »Gott ist nicht schüchtern«, mit denen sie das Feuilleton begeisterte.
Nach einem wenig überzeugenden Ausflug ins zaristische Russland mit »Der verlorene Sohn« kehrt sie nun mit »Juli, August, September« wieder zurück zur Gegenwartsanalyse, die sie beherrscht wie wenige andere. Der Titel ist ein wenig verborgenes Menetekel, denn nach dem September kommt der Oktober und der ist seit dem vergangenen Jahr unbestreitbar mit dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel verbunden. »Ein Unglück wird bald geschehen«, raunt eine Kellnerin Grjasnowas Hauptfigur im abschließenden Kapitel dann auch vielsagend ins Ohr. »Das hier wird es nicht mehr geben. Dich und mich wird es nicht mehr geben.«
Im Mittelpunkt das Romans steht die Mittdreißigerin Lou, die mit ihrem zweiten Ehemann, dem Pianisten Sergej, und der gemeinsamen Tochter Rosa in Berlin lebt. Zu dritt könnten sie die perfekte jüdische Kleinfamilie sein, wären da nicht die Totgeburt von Rosas Schwester vor zwei Jahren sowie die Ängste und Zweifel, die Lou seitdem im Griff haben. Seit sie ihren Job in einer renommierten Galerie gekündigt hat, versucht sie, ein Buch zu schreiben; bislang vergeblich.
Auf Sergejs Schultern lastet die finanzielle Verantwortung für die Familie, aber auch an ihm nagen die Selbstzweifel. Die Konzertsäle, für die er gebucht wird, werden immer kleiner, und je mehr neue Genies auftauchen, desto weniger scheint er gefragt zu sein. Doch kommt Zeit, kommt Rat, so macht sich Sergeij erst einmal mit seiner Agentin auf die nächste Konzert- und Promotour auf den Weg nach Wien.
Derweil trudelt bei Lou die Einladung zum 90. Geburtstag ihrer Tante ein. Gemeinsam mit Mutter und Tochter reist Lou nach Gran Canaria, um eine Woche mit dem israelischen Teil des sowjetisch-jüdischen Familienclans zu verbringen. Viel mehr als Neid, Missgunst und Häme verbindet diese Großfamilie nicht, vor allem zwischen Lous Mutter und ihrer Schwester tun sich Abgründe auf. Je länger die Erzählerin über ihre Familie nachdenkt, in der die gegenseitigen Mutmaßungen über das Leben der anderen das Miteinander bestimmen, desto mehr verliert sie sich in den eigenen Zweifeln zum Zustand ihrer Ehe.
Ihr Weg führt schließlich nach Tel Aviv, wo Israelis – vor dem 7. Oktober 2023 – gegen ihre national-religiöse Regierung protestieren. Hier wird Lou das ganze Dilemma ihrer in Scherben liegenden Identität bewusst. »Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen.« Eine Erkenntnis, die nach dem 7. Oktober 2023 noch viel mehr zutrifft als zuvor.
Olga Grjasnowas unterhaltsamer und vor dem Überfall der Hamas abgeschlossener Sommerroman handelt von einer Frau, die an sich zweifelt – als Mutter, als Tochter, als Frau, als Jüdin. Die in Wien lebende Autorin trifft in der Schilderung der inneren Konflikte ihrer Hauptfigur den schmalen Grat zwischen Verbitterung und Leichtigkeit, Zynismus und Humor.
»Juli, August, September« erinnert an eine frühe Komödie von Woody Allen, ist vergnüglich, ernst und nah am Leben, ohne sich selbst zu ernst zu nehmen. Dass der 7. Oktober dieser Unbeschwertheit den Garaus gemacht und diese Erzählung zu einem Echo aus anderen Zeiten gemacht hat, kann man Grjasnowa nicht zum Vorwurf machen.