Allgemein, Literatur, Roman

Ein Hohelied der Literatur

© Thomas Hummitzsch

Der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu erzählt vom unglaublichen Aufstieg eines Niemands zum Kaiser von Äthiopien. Sein neuer Roman »Theodoros« ist Weltliteratur, die bleibt, weil sie virtuos die Kunst des Erzählens feiert. Ernest Wichner hat dieses überbordende Meisterwerk fulminant ins Deutsche übertragen.

»Ich gestehe Dir, liebstes Mütterchen, dass die Ikone des Makedoniers, seitdem ich auf der Welt bin, mir wie ein Gott war, vor dem ich mich richtig und in größter Ehrerbietung verneigt hab, und auch heut geht all mein Streben noch dahin, mich ihm so weit wie möglich anzugleichen, wenn schon er der Sohn eines Kaisers war, … wo ich hingegen der schlichte Sohn von einem Mützendrechsler bin. Du darfst aber gewiss versichert sein, dass ich bis zu meinem Tod noch in die Spuren von Alexander treten werde, weil sonst das Leben nicht wirklich werth ist, gelebt zu werden, wie schon die Alten einstmals gesagt: Entweder Kaiser oder gar nichts.«

So schreibt es der Titelheld in Mircea Cartarescus neuem Roman an seine Mutter, eine griechische Sklavin, die in der Bukowina einem Großbauern dient. Kein Geringerer als Alexander der Große dient ihm als Vorbild, um sein Leben in bessere Bahnen zu leiten. Das grenzt an Größenwahn und Fantasmagorie, aber woraus besteht Literatur sonst, wenn nicht aus Anspruch und Fantasie?

Mircea Cartarescu: Theodoros. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag 2024. 672 Seiten. 38 Euro. Hier bestellen https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/mircea-cartarescu-theodoros-9783552075092-t-5398
Mircea Cartarescu: Theodoros. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag 2024. 672 Seiten. 38 Euro. Hier bestellen.

Vor allem, wenn es sich bei dem Autor um jemanden wie Mircea Cartarescu handelt, der spätestens seit dem Abschluss seiner »Orbitor«-Trilogie als europäischer Meister des Magischen Realismus gilt. Und auch in seinem neuen Roman braucht er nicht viel, um eine ganze Welt zu errichten. Im Romankosmos von »Theodoros« reicht ihm die Kugel einer Muskete, um auf wenigen Seiten eine ganze Zivilisation auf- und untergehen zu lassen. Da schießt ein britischer Offizier auf den titelgebenden Helden, dem schon in der Mitte des Buchs das Ende droht. Aber der Schöpfer dieser Welt und dieses wendungsreichen Romans sieht anderes vor.

Die Kugel verlässt den Lauf »wie ein soeben in Finsternis und Chaos geborener Planet« und der Wimpernschlag, der vergeht, bis das metallene Geschoss in die Brust von Theodoros einschlägt, bricht in Jahrmillionen auf. In dieser parallelen Ewigkeit steigt aus den chemischen Elementen dieses kupfernen Planeten intelligentes Leben empor. In unzähligen Katastrophen und Zerstörungen entwickelt sich die gerade kopfgeborene Spezies, um auf ihrem Weg durch Raum und Zeit die Welt zu entdecken, die die lebendige Gewehrkugel umgibt. So erkennt diese Miniatur-Zivilisation, dass ihre Welt nur dafür gemacht ist, anderes Leben zu zerstören.

Mircea Cartarescus »Orbitor«-Trilogie

Moralisch erschüttert fängt sie an, ihre klügsten Köpfe darüber nachdenken zu lassen, wie sie die Flugbahn ihres Planeten verändern können. Sie bauen schließlich einen Motor, »der mit der endlos verfügbaren Energie der Leere« den Planeten von seiner geraden Linie abbringt. Dieser zivilisatorischen Meisterleistung – Fans des chinesischen SciFi-Autors Cixin Liu wird dieses Szenario bekannt vorkommen – ist es zu verdanken, dass die todbringende Kugel den Helden dieser Geschichte verfehlt und er seinen Weg unbeirrt fortsetzen kann, während sich die faszinierende Kugelwelt, von dessen Existenz Theodoros nicht einmal etwas ahnt, am Horizont seiner Geschichte verliert.

Es ist nicht weniger als ein kosmologischer Geniestreich, mit dem Mircea Cartarescu, unterstützt vom »vitalen Hauch« himmlischer Wesen, seinen Theodoros mit dem Schrecken davonkommen lässt. Der rumänische Autor, der seit Jahren als heißer Kandidat für den Literaturnobelpreis gilt, beweist sich einmal mehr als Demiurg einer Anderswelt, die gleichermaßen verblüfft und fasziniert.

In »Theodoros« erzählt er die Geschichte eines Mannes, der 1818 unter dem Namen Tudor in der rumänischen Walachei das Licht der Welt erblickt, als Theodoros die Levante unsicher macht und als »Tewodoros II., König der Könige und Kaiser der Kaiser, Gatte Äthiopiens und Verlobter Jerusalems, unbesiegter Löwe des Stammes Juda, lebenslänglicher Erzbischof der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche, Oberbefehlshaber der unbesiegten Streitmacht des Menelik, Ewiger Strategos der Vereinigten Prinzipate von Antikythera und Ostkythera, Archont und Strategos der Dodekanes-Eilande, von Zypern und Kreta, Obsidian-Sockel der Heiligen Dreifaltigkeit, geliebt vom Vater, gesegnet vom Sohne und eingehüllt in den Heiligen Geist« in die Geschichte eingehen wird.

Jeder der drei Teile besteht aus elf Kapiteln, so dass die Anzahl der Kapitel insgesamt den Gesängen in Dantes »Inferno« gleichkommt. Dabei überschneiden sich die mythischen Welten des antiken Griechenland mit der Wirklichkeit des britischen Kolonialismus, slawische Volksmärchen treffen auf die biblischen Sagen. Historisches geht über in Imaginatives und umgekehrt. Die erzählte Zeit scheint wie auf einem Möbiusband; verdreht, zweigeteilt und doch verschmilzt sie zu einem Ganzen.

Die Figur Theodoros basiert auf einer historischen Person, auf die der Autor vor fast vierzig Jahren in einem Briefwechsel gestoßen ist. Darin stellt der Verfasser die Vermutung an, dass sich ein entlaufener Diener seines Vaters in Äthiopien zum Kaiser hat krönen lassen. Diese Spekulation hat Cartarescu nie losgelassen. Jahrzehntelang hat er Notizbücher vollgeschrieben, um vom Leben dieses Dieners in einer »kontrafaktualen, fiktionalen, mythischen und archetypischen Geschichte« zu erzählen, wie er im Nachwort zu seinem Roman erläutert.

Mircea Cartarescu in deutscher Übersetzung

Eben diese Geschichte liegt nun vor. Sie erstreckt sich gleichermaßen über ein Menschenleben wie über die Zeit der Welt. Den Kern der Erzählung bilden die schier unglaublichen Abenteuer und Burlesken, zwischen Geburt, Krönung und blutigem Tod von Theodoros liegen.

Noch jung an Jahren verliebt sich der Sohn des Fellmützenmachers Gligorie Islicarul unsterblich in die Fürstentochter Stamatina, die für ihn unerreichbar bleibt. Seine Sehnsucht verschlägt ihn in eine geradezu orientalisch anmutende Version von Bukarest, wo er sich als Pfeifenstopfer über Wasser hält, wie durch ein Wunder die Pest überlebt und schließlich den Entschluss fasst, die Nachfolge seiner Kindheitshelden Alexander von Makedonien und »Napulion Buonapartie« anzutreten.

Noch vorher wird er sich der legendären Räuberbande von Iancu Jianu anschließen, mit dessen gefürchteten Haiducken durch die Walachei ziehen und zum begehrten Objekt der Kopfgeldjäger werden. Von den mächtigen Bojaren Rumäniens verfolgt, flieht er auf ein Segelschiff und schließt sich den gefürchteten Palikári an. »Nun bin auch ich ein Palikárenkind aus dem berühmten Geschlecht des Achilleus und des Odysseus«, schreibt er beschwichtigend seiner Mutter, als er längst einer der gefürchtetsten Freibeuter der levantischen Meere ist.

Sieben Jahre macht er mit seinen Mannen das Mittelmeer unsicher, dazu auserwählt »zwischen den Eilanden des Archipels auf der Suche nach dem heiligen Namen SAVAOTH, Herr der Heerscharen, herumzuirren«, wie es ihm der geheime Rabbi der Walachei Moshe Telalul prophezeit hat. »Verdammt in der Segnung und gesegnet in der Verdammnis« betreibt er Inselhopping, um in einer Art antiker Schnipseljagd nach den Tafeln mit den zehn Geboten zu suchen.

»Jene sieben Eilande werden je einen Namen haben, der mit einem der Buchstaben des heiligen Namens beginnt. Du wirst es sogleich merken, wenn du den ersten erfährst: Ein blaues Feuer wird dich dann vom Scheitel bis zur Sohle durchlohen. Am Ende des Namens aber wird dich, wie eine goldene Krone, im Lande des Kusch die Bundeslade erwarten«, erklärt ihm Telalul seinen himmlischen Auftrag.

Bei dieser Suche kommt es auch zur eingangs geschilderten Szene, die den Lauf einer Welt unterm Mikroskop betrachtet. Mit dem Leben davongekommen verschlägt es Theodoros nach Äthiopien, wo er in einer fantastischen Body-Horror-Episode die Identität eines gewissen Kassa Hailu annimmt, an dessen Stelle er sich zum äthiopischen Kaiser krönen lässt. Verfolgt von den Erben von König Salomon und Königin Saba – deren famose Geschichte in einem umwerfend organischen Kapitel erzählt wird – entwickelt er sich zu einem blutrünstigen Despoten, der bei Königin Victoria I. in Ungnaden fällt. Aus Hochmut und verletzter Eitelkeit fordert er gemeinsam mit einem selbsternannten Kaiser Amerikas den britischen Thron heraus, dessen Truppen schließlich die Festung stürmen, in der sich Tewodoros verschanzt hat. Um einer schmachvollen Gefangennahme zu entgehen, steckt er sich den Pistolenlauf in den Mund und macht Schluss mit dieser Welt.

Mircea Cartarescu: Solenoid. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag 2019. 912 Seiten. 36 Euro. Hier bestellen https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/mircea-cartarescu-theodoros-9783552075092-t-5398
Mircea Cartarescu: Solenoid. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag 2019. 912 Seiten. 36,- Euro. Hier bestellen.

Was wie eine Nacherzählung des 670 Seiten zählenden Romans klingt, bildet gerade einmal das Skelett dieses schwindelerregenden Epos, in dem sich wie in Borges’ venezianischem Labyrinth immer wieder Wege für ausufernde Binnengeschichten und mitreißende Seitenerzählungen auftun. Sie handeln von singenden Schiffen, schwimmenden Pinakotheken und schwebenden Städten, von überwältigenden Schlachten, leidenschaftlichen Begierden und dem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Sie bilden das Fleisch an den Knochen dieser überbordenden Lebensgeschichte, die blutrünstige Räuberpistole und burlesker Abenteuerroman, religiöse Heilserzählung und surreale Fantasmagorie ist.

Nachdem der 1956 in Bukarest geborene Rumäne mit seiner »Orbitor«-Trilogie eine mit autofiktionalen Bezügen versehene Alternativgeschichte Budapests erzählte, verlagerte er auch seinen surrealen Großroman »Solenoid« (für dessen englische Ausgabe er gemeinsam mit seinem englischen Übersetzer Sean Cotter in diesem Jahr den hochdotierten Dublin Literary Award und im vergangenen Jahr den Los Angeles Times Book Award erhielt) in die rumänische Hauptstadt, allerdings in einer anderen Dimension. Mit Anlehnungen an Hayao Miyazakis »Schloss im Himmel« schuf er dort ein über den Dingen schwebendes Paralleluniversum, in dem seine Figuren mit Phantasie und Philosophie Weltenschöpfung betreiben. Sein deutscher Übersetzer Ernest Wichner selbst schwärmt vom einmaligen Finale dieses großen Romans, das er als eine umgedrehte Version der Apokalypse liest.

Inspiration für derlei Fantastereien findet der Träger des Leipziger Buchpreises für Europäische Verständigung, des Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und des Thomas-Mann-Preises in den bildenden Künsten. Insbesondere Surrealisten wie Max Ernst oder Giorgio de Chirico prägen seinen Blick auf die Welt, wie er in seinen autofiktionalen Erzählungen, die vor zwei Jahren unter dem Titel »Melancolia« erschienen sind, offengelegt hat. Bei der Geschichte von Sisoe, dem Seefahrer, der den Himmel bemalt, lehnt er sich gleichermaßen an die byzantinische Wandmalerei wie an Borges‘ »Aleph« an.

In »Theodoros« spielt er mit den Biografien seiner zum Teil historischen Figuren und verneigt sich vor der jahrtausendealten Kunst des Erzählens in Wort und Bild. Die Einflüsse und Referenzen reichen von den religiösen Urtexten über Homer, Dante Alighieri, Gustave Flaubert, Jonathan Swift, Walt Whitman, James Joyce, Jorge Luis Borges und Cixin Liu. Ein Dämon, der von Theodoros großer Liebe Besitz ergreift, ist derart plastisch als blauhäutiger Zburator gezeichnet, dass man um einen Vergleich mit Dr. Manhattan aus Alan Moores Comic »Watchman« gar nicht drum herumkommt.

Mircea Cartarescu: Melancolia. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag 2022. 272 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/mircea-cartarescu-melancolia-9783552073050-t-5094
Mircea Cartarescu: Melancolia. Aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag 2022. 272 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen.

Dazu kommen ein halbes Dutzend Kaiser, das neben Theodoros die Erzählung vorantreibt – darunter der Bukarester Kaiser der Leichenträger, der Kaiser von Hindustan, der von Äthiopien oder der selbsternannte Kaiser der Vereinigten Staaten von Amerika und Protektor Mexikos und so weiter. »Ja, da sind so viele Kaiser aufgetaucht auf der Welt, während ich bloß Königin bin«, seufzt in diesem Kaiser-Schmarrn die britische Monarchin Victoria.

Die visuelle Kraft von Cartarescus Überwältigungsprosa lässt ohnehin staunen. Die bildenden Künste als Inspirationsquelle fließen bei ihm zielgenau in die barocke Poetologie seiner magisch-realistischen Welten. Bei der Darstellung von Schlachten und Gewaltexzessen hat sich der begeisterte Gamer Cartarescu nicht nur von der Ikonenmalerei und barocken Gemälden, sondern auch vom Gemetzel in den virtuellen Welten inspirieren lassen. Die hyperrealistischen Schilderungen der Grausamkeiten in diesem Werk, sei es bei den Szenen während der Pest in Bukarest, bei den Schlachten auf hoher See oder den blutrünstigen Feldzügen der Heere von König Salomon, nehmen selbst Hartgesottenen den Atem. Mit derlei effektvollen Szenen surft der Roman immer wieder am Rand der Genreliteratur, dem Text schadet das kein Bisschen. Im Gegenteil, es hebt diese Erzählung auf ein universelles Niveau, Gewalt und Brutalität gehören zur Welt dazu.

Auf der anderen Seite stehen Liebesszenen, die gleichermaßen explizit wie empfindsam sind. Dabei scheut sich Cartarescu nicht, die Beteiligten derart ins Schwitzen kommen zu lassen, dass man meint, die Körperflüssigkeiten zwischen die Zeilen tropfen sehen zu können. Und die Szene, in der die Entschädigung für einen verletzten Hauptmann dessen Eier zum teuersten Paar männlicher Schmuckstücke macht, gehört zu den komischsten, die man lange gelesen haben wird.

Darüber hinaus wird die Handlung immer wieder von Briefen unterbrochen, die Theodoros an seine Mutter schreibt. Darin kommentiert er seinen Werdegang und verharmlost sein brutales Vorgehen hinter ebenso warmherzigen wie beschwichtigenden Liebesbekundungen.

Die beiden großen Romane »Solenoid« und »Theodoros« sowie der Prosaband »Melancolia« von Mircea Cartarescu | © Thomas Hummitzsch
Die beiden großen Romane »Solenoid« und »Theodoros« sowie der Prosaband »Melancolia« von Mircea Cartarescu | © Thomas Hummitzsch

Für seine zwischen Zeiten und Schauplätzen springende Erzählung hat Cartarescu eine altertümliche Kunstsprache erfunden, die ebenso hymnisch wie herablassend daherkommt. Das ist kein Zufall, wie wir im Laufe des Romans erfahren. Denn es sind die sieben Erzengel selbst, die Theodoros‘ Geschichte erzählen. Mit Bild, Schrift und Feuer (das Jahr 1827 hat hier eine zentrale Bedeutung) schreiben sie in den Himmeln auf, wie sich die Geschichte dieses skrupellosen Aufsteigers auf Erden zugetragen hat, »damit sie beim jüngsten Gericht getreulich vorgelesen werden kann«. Vor uns liegt also ihr Lebensbuch, dass sich wie eine erbarmungslose Anklageschrift liest.

Poetisch detailversessen, ausufernd gelehrig und wild fabulierend erzählt Cartarescu in seinem neuen Roman von der Schönheit und Grausamkeit der Welt. Als Taktgeber gibt sein Übersetzer Ernest Wichner diesem betörenden Hohelied des Erzählens in seiner deutschen Fassung einen mitreißenden Flow. Mit jeder Seite wirft man mehr und mehr verzaubert Zeit und Raum über Bord, um den mäandernden Satzketten zu folgen, sie hinabzusteigen in die tiefsten Tiefen oder um himmlische Höhen zu erklimmen. Dass man sich dabei nicht in ihnen verliert, liegt an der rhythmischen Syntax des deutschen Textes.

Der deutsche Text ist zudem eine lexikalische Fundgrube. In dieser Scharteke wird kalfatert, genuckelt und karavelliert, während sich Haruspexe und Pojatze in den Kaschemmen mit Fickmadams und Nähmamsells vergnügen. Wer meint, das sei alles nur intelektuelles Gehabe, dem sei gesagt, dass dieser Satz so nicht vorkommt, seine Bestandteile aber schon. Sie aufzuspüren und zu erschließen, ist ein Vergnügen. Und wer das immer noch für hochtrabendes Gerede hält, dem geben die Erzengel noch folgende Warnung mit auf den Weg: »Reden ist niemals unschuldig, sondern Samen von Mord und Gesetzlosigkeit auf der Welt.«

Wichner wechselt in seiner perfekten Übertragung dieser gleichermaßen verspielten wie dichten Prosa souverän die Register und bildet dabei die Vielseitigkeit dieser schwindelerregenden Erzählung nach. Spätestens mit dem Sprechakt erhält jede Figur ihren Charakter und ihre Geschichte. Mit Gassenjargon und Gebet, Schlachtgeheul und Liebesflüstern verleiht er der Fantasie Flügel. Dabei wird einmal mehr deutlich, dass Übersetzen nichts Anderes bedeutet, als unbelebte Wortmaterie hörbar, spürbar und nachvollziehbar zu machen, sie zu beleben. Oder um es mit Wichner selbst zu sagen: Übersetzen ist als Praxis der Überschreibung nichts anderes als Weiterleben.

»Theodoros« ist ein im besten Sinne überbordendes Werk, gleichermaßen wahrhaftig wie fantastisch. »Die Gäule sterben nicht, wenn die Hunde sich das wünschen«, heißt es vieldeutig im Roman. In dem Sinne wird er den Literaturnobelpreis vielleicht erst dann erhalten, wenn die wenigsten noch damit rechnen. Seine Chancen wird die Existenz dieses Romans, zweifellos ein Opus Magnum, ganz sicher nicht schmälern.