Klassiker, Literatur, Lyrik

Salut au Monde – Hymnen auf eine erwachende Nation

»Es schien mir …, dass die Zeit gekommen ist, um über alle alten und neuen Themen und Dinge im Lichte der Ankunft Amerikas und der Demokratie nachzudenken.« Über die prosaischen Verse des amerikanischen Nationallyrikers Walt Whitman.

Der amerikanische Schriftsteller Walt Whitman (1819 – 1892) gilt als Begründer der modernen amerikanischen Dichtung. Ohne sein Lebenswerk Grasblätter wäre T.S. Eliots Langgedicht Das öde Land wohl kaum denkbar. Nicht umsonst wird Whitman als der amerikanische Homer und Dante Amerikas verehrt. Seine prosaischen, freien Verse haben die amerikanische Literatur geprägt, wie kein zweites dichterisches Werk. Aber auch auf den europäischen Expressionismus hat Whitmans Lyrik einen wesentlichen Einfluss gehabt.

Politisch war er ein leidenschaftlicher Verfechter der amerikanischen Demokratie. Zugleich verabscheute er zutiefst die Sklaverei und die Diskriminierung der Frau. Angesichts der amerikanischen Verfassung von 1787, die weder die Abschaffung der Sklaverei noch die Gleichberechtigung der Geschlechter vorsah, könnte man meinen, dass eine solche Haltung die realen Verhältnisse verkennt. Doch dem ist weit gefehlt. Der amerikanische Nationalpoet gehörte Zeit seines Lebens zu den demokratischen Visionären der Vereinigten Staaten von Amerika. »Aber die neue Welt braucht die Gedichte von Wirklichkeiten und Wissenschaft und vom demokratischen Durchschnitt und von grundlegender Gleichheit.« Die neue Welt, das moderne Amerika, das er in Anspielung auf seine paneuropäische Siedlerbevölkerung als »Tochter der Länder« bezeichnete, gäbe es ohne Visionäre wie Whitman nicht.

Umso größer waren Schmerz und innere Zerrissenheit über den amerikanischen Sezessionskrieg. Seine Hoffnung, die Südstaatler würden auf die Sklaverei verzichten, bevor sie gegen die Nordstaaten in einen Bürgerkrieg ziehen, erfüllte sich nicht. Die Wahl Abraham Lincolns zum amerikanischen Präsident 1860 führte zur Abspaltung der konföderierten Staaten und löste den Krieg aus. Lincoln rechtfertigte den blutigen Krieg des Nordens gegen den Süden zwei Jahre später als Kampf gegen die Sklaverei. Bei der legendären Schlacht in Gettysbury 1864 gelang den Nordstaaten der Durchbruch und 1865 mussten die Südstaaten kapitulieren. Lincolns Position setzte sich durch und somit bestätigte sich Whitmans Vorahnung, dass spätestens der Bürgerkrieg die Sklaverei beenden würde. In den Jahren 1865 bis 1870 wurde die Sklaverei konstitutionell abgeschafft und die ehemaligen Sklaven erhielten die amerikanischen Bürgerrechte. Lincoln selbst konnte die Früchte seines Kampfes nicht mehr ernten. Er wurde 1865 bei einem Theaterbesuch ermordet. Für Walt Whitman war dies nicht nur großer menschlicher Verlust, sondern auch ein tragischer Moment für Amerika. Dem ermordeten Präsidenten widmete er daher sein Gedicht »O Käpt’n! mein Käpt’n«, das er mit den Versen beschließt: »Vor Anker sicher liegt das Schiff, gelungen ist, zu Ende unsre Reise, / Nach schlimmer Fahrt läuft ein der Sieger mit erstrittnem Preise; / Ihr Ufer jubelt, klingt, ihr Glocken! / Doch ich in Schmerz und Not, / Ich bin an Deck, da liegt mein Käpt’n, / Gefallen, kalt und tot.« Mit diesen Zeilen traf Whitman die Befindlichkeit eines Großteils der Amerikaner. Dies war jedoch eine Ausnahme, denn »O Käpt’n! mein Käpt’n« blieb Whitmans einziges, zu Lebzeiten populäres Gedicht.

Whitman war die utopische Programmatik seiner Dichtung bewusst, wenngleich er sich das Scheitern seiner Verse zu Lebzeiten eingestehen musste. So schreibt er in einem Resümee seines dichterischen Schaffens zwei Jahre vor seinem Tod, dass »aus einer weltlichen und geschäftlichen Sicht die ‚Grasblätter’ Schlimmeres als ein Fehlschlag waren.« Und weiter heißt es: »Über ihren Wert wird die Zeit urteilen.«

Ursächlich für den geringen Bekanntheitsgrad seines Werks war sicherlich seine spirituell beeinflusste, prosaische Dichtung, die nicht auf Versmaße wie Jamben, Trochäen oder Daktylen aus war, sondern deren Ziel und Funktion in der Erzählung von Geschichten seiner Zeit bestand. Angelehnt an die italienische Oper und die anglikanische Bibel legte Whitman seiner Literatur den unverstellten menschlichen Redefluss zugrunde. Darüber hinaus konnte er sich mit seiner pragmatischen Gegenwartslyrik nicht durchsetzen. Whitman war der erste Dichter, der die Poesie auf Situationen und Dinge des Alltags anzuwenden wusste. Ihm gelang es, die Lyrik als Literatur der Salons und Universitäten auf die Straße und in die Fabriken zu tragen. Absurderweise haben aber gerade die außerordentliche Nähe seiner Verse zum Alltäglichen und ihre Hinwendung zu den politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit neben dem von Rhythmus und Metrik losgelösten prosaischen Kleid dazu geführt, dass Amerikas größter Dichter zu Lebzeiten weitgehend unverstanden blieb.

Whitman wurde 1819 als zweites von acht lebenden Kindern geboren. Er wuchs in Long Island und Brooklyn auf und besuchte ab dem Alter von fünf Jahren eine Grundschule, die er jedoch bereits mit elf Jahren verließ. Zunächst arbeitete er bei einem Anwalt als Schreiber, begann jedoch schon bald eine Ausbildung in einer Druckerei. Dort eignete er sich journalistische Grundkenntnisse an und begann, Dramen von Shakespeare, Homer und Dante zu lesen. Autodidaktisch machte er sich mit der Weltliteratur vertraut und arbeitete dann als Lehrer, bevor er ab 1839 als Journalist regelmäßig für verschiedene Zeitungen schrieb. In dieser Zeit formten sich seine linkspolitischen Ansichten. Ab 1848 war er als Herausgeber einer Zeitschrift der Anti-Sklaverei-Bewegung tätig.

In den 1850er Jahren begann Whitman mit der Arbeit an den »Grasblättern«, einer immensen Verssammlung. Kurz vor seinem Tod beschrieb er sein rastloses Schaffen daran als »eine lange Schiffsreise«, an deren Ende die »Grasblätter« als seine »endgültige Visitenkarte für die kommenden Generationen der Neuen Welt« stünden; visionär und zugleich den Bedingungen der Gegenwart entsprechend.

Schon der Titel »Grasblätter« (Engl. Orig. Leaves of Grass) machte die Unkonventionalität seiner Literatur deutlich. Whitman wich vom gewöhnlichen Sprachgebrauch ab, denn Grasblätter gibt es in dem Sinne ja nicht. Allgemein spricht man auch heute noch von Grashalmen (Engl. Blades of Grass). Whitman verwies bereits mit der Wahl des Titels auf das Neue, Revolutionäre und Individuelle zwischen den Buchdeckeln. Einmal angefangen, sollte Whitman bis an sein Lebensende an diesem Gedichte-Konvolut schreiben und editieren, mit dem Ziel, keine Facette Amerikas zu vergessen. Dies führt zu zahlreichen, katalogischen Aufzählungen, die sich über mehrere Seiten hinziehen und deren Lektüre durchaus auch Anstrengung verursacht.

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Walt Whitman: Grasblätter. Nach der Ausgabe von 1891-92 erstmals vollständig übertragen und herausgegeben von Jürgen Brôcan. Hanser-Verlag 2009. 860 Seiten. 39,90 Euro. Hier bestellen

Mit geradezu unstillbarer Leidenschaft schrieb Whitman immer wieder über das Amerika seiner Zeit, ohne dabei die historischen Wurzeln einerseits sowie die in der Zukunft liegenden Chancen andererseits aus dem Blick zu verlieren. So schrieb er über die verschiedenen Bevölkerungsgruppen Amerikas, über Orte und Berufe, über die natürlichen Schätze in Flora und Fauna sowie die vielversprechenden Rohstoffe im Boden Amerikas (»Aufbruch von Paumanok«). Whitman dichtete über die freundschaftlichen und sexuellen Verhältnisse zwischen Männern und Frauen, teilweise in einem nicht wenig chauvinistischem Tonfall, wie z.B. in »Eine Frau erwartet mich« (»Eine Frau erwartet mich, sie enthält alles, nichts fehlt, / Doch alles würde fehlen, wenn Geschlecht fehlte, wenn die Feuchte des richtigen Mannes fehlte.«). Er widmete sich aber auch der besonderen Freundschaft unter Männern, insbesondere in den »Kalmus«-Gedichten, was zahlreiche Interpreten seines Werks dazu veranlasste, Whitman Homosexualität nachzusagen. Die größten Kontroversen und seine schriftstellerische Isolation lösten jedoch die Verse aus, die unter der Überschrift »Kinder Adams« versammelt sind. Darin feiert Whitman die Perfektion des menschlichen Körpers in teils hocherotischen Worten: »Dies ist die weibliche Form, / Ein göttlicher Nimbus haucht ihr von Kopf bis Fuß aus, / Sie zieht mit ungestümer unleugbarer Anziehung an, / Ich werde eingesogen von ihrem Atem als wäre ich nichts als ein hilfloser Dunst, alles außer ihr und mir sinkt dahin, / …«. Verse wie dieser wurden von der publizierenden Zunft als Pornografie ausgelegt und führten in einigen Regionen Amerikas zum Verbot seiner »Grasblätter«.

Schrieb Whitman nicht über die Faszination der zwischenmenschlichen Beziehungen, dann erfasste er in seinen Versen vor allem die (entwicklungs-)politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Zustände der USA aus ihrer Historie heraus. »Es schien mir …, dass die Zeit gekommen ist, um über alle alten und neuen Themen und Dinge im Lichte der Ankunft Amerikas und der Demokratie nachzudenken.« Er nahm damit die Funktion des dichtenden Historikers und Soziologen der Vereinigten Staaten ein. Wie sich Alexis de Tocqueville den USA mit seiner Schrift »Über die Demokratie in Amerika« soziologisch annäherte, vollführte Whitman seine Analyse des amerikanischen Staats- und Bürgerwesens auf lyrische Art und Weise. Als Nationalliterat hatte er die zahlreichen Höhepunkte und Tiefschläge der amerikanischen Geschichte in seinen Grasblättern verarbeitet.

Eine solche aufklärerisch-politische Begleitung der bewegenden amerikanischen Geschichte im 19. Jahrhundert als Schriftsteller und Herausgeber führte zwangsläufig zu einer permanenten Veränderung der bestehenden Texte und Textzusammenstellungen. Bereits in seinem Todesjahr 1892 erschien bereits die neunte Ausgabe der Grasblätter. Doch bereits in der Erstausgabe wird die allumfassende politische Programmatik in dem Langgedicht »Gesang meiner Selbst« deutlich, indem sich Whitman als Vertreter der gesamten Menschheit inszeniert: »Ich feiere mich selbst und singe mich selbst, / Und was ich mir anmaße, sollst du dir anmaßen, / Denn jedes Atom, das mir gehört, gehört genauso gut dir«; in Buchstaben gegossene Demokratie!

Auf dem Höhepunkt seiner Dichtung befand sich Whitman, als sich seine Heimat in der tiefsten historischen Krise befand. Die tragischen Ereignisse der Sezessionskämpfe in den 1860er Jahren und seine damit verbundenen persönlichen Erlebnisse führten zu einer von allen Beschränkungen befreiten Dichtung von seltener Intensität und Strahlkraft. Die unter »Trommelschläge« sowie »Erinnerung an Präsident Lincoln« versammelten Verse gehören unzweifelhaft zu den ausdrucksstärksten und eindringlichsten Zeilen der Weltliteratur. Sie entführen zunächst zu den Aufmärschen und Militärparaden (man meint noch den Trommelwirbel und die Marschmusik zu hören) zum Beginn des Sezessionskrieges und lassen noch die Hoffnung auf ein schnelles Ende und die Wiedervereinigung der Nation anklingen. Die späteren lyrischen Berichte von den Schlachtfeldern und aus Lazaretten sind hingegen von Lethargie und Kriegsmüdigkeit geprägt, erzählen von Wunden und Schmerzen, Trauer und Tod. Hier schreibt Whitman eine Geschichte der USA, die nichts als verbrannte Erde hinterlässt. Besonders eindrucksvoll sind die Gedichte »Des Hundertjährigen Erzählung«, in dem Whitman die historische Tragik des Sezessionskrieges als geradezu deckungsgleiche Wiederholung des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges deutlich macht, sowie »Der Wundpfleger«, in dem er autobiografisch seine Erlebnisse als Sanitäter in Washington.

Zugleich schuf diese Katastrophe aber auch die Grundlagen für den Aufstieg einer neuen und selbstbewussten Nation. Nach dem Sezessionskrieg begleitete Whitman die politischen und sozialen Verhältnisse der Vereinigten Staaten. 1871 sorgte er mit seiner kritischen Schrift »Demokratische Ausblicke« nochmals für Aufsehen. In dieser setzt er sich kritisch mit der Kapitalisierung des amerikanischen Lebens nach dem Bürgerkrieg auseinander und stellt dieser die Idee einer egalitären demokratischen Kultur und Gesellschaft entgegen. Er arbeitete auch immer wieder an seinen »Grasblättern«, strich einzelne Teile heraus und fügte neue Verse hinzu, schrieb neue Strophen, um alte zu ersetzen. 1873 erlitt er einen Schlaganfall und war infolge nur noch stark eingeschränkt arbeitsfähig. 1892 stirbt Whitman und hinterlässt ein Werk, das erst nach seinem Tod entdeckt und seine ganze Kraft entfalten konnte.

Jürgen Brôcans beeindruckender editorischer Leistung ist es zu verdanken, dass Whitmans sämtliche Gedichte nun erstmals in ihrem Kontext – versehen mit zahlreichen Interpretations- und Hintergrundinformationen – zu lesen sind. Zu Neuübersetzungen ist es nur dort gekommen, wo die bisherigen Übertragungen undeutlich oder falsch waren. Brôcan ist es zu verdanken, dass wir diesen großen Dichter Amerikas, der den Aufbruch seiner Nation aufmerksam begleitet und in Versform gebannt hat, nun wiederentdecken und heute noch einmal den historischen Momenten beiwohnen können, in denen eine ganze Nation der Welt ein selbstbewusstes »Salut au Monde« entgegen ruft.

3 Kommentare

  1. […] mit seinen Ängsten und Hoffnungen. Aus ihm spricht Walt Whitman, der in seinen »Grasblättern« (in der hervorragenden Übersetzung von Jürgen Brôcan) schrieb: »Ich bin Hafen für Gut und Böse, ich erlaube zu sprechen auf jede Gefahr; Natur ohne […]

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