Literatur

Kalkuliertes Debakel

Der französische Autor Éric Vuillard ist einer der prominentesten Vertreter der engagierten Literatur seines Landes. In seinem neuen Buch geht er dem eiskalten Kalkül der bourgeoisen Elite im Rahmen des Indochina-Feldzugs auf den Grund.

Im Winter 1950 debattiert die französische Nationalversammlung über die Lage in Indochina, wie in Frankreich die Region Südostasien genannt wird. In der Debatte falle Worte, über die man sich auf der politischen Bühne ein wenig wundert. Etwa die freimütige Erklärung, dass Frankreich »in der Tat eine Milliarde täglich für den Krieg« in der Region ausgebe, dass man »ausnahmslos alle Toten würdigen und ehren müsse«, die unter der französischen Flagge fielen, also auch die Tirailleure, die man aus anderen Kolonien in den Krieg geschafft habe, und dass zur Wahrheit gehöre, »dass uns die materiellen Mittel fehlen, in Indochina die militärische Lösung durchzusetzen, die wir dort so lange verfolgt haben.« Die Situation scheint ausweglos, sozialistische Abgeordnete äußern Kritik an der Kolonialpolitik, bringen gar Optionen einer diplomatischen Lösung ins Spiel.

Stand gut 25 Jahre vor der Niederlage der Amerikaner in Saigon die Tür für eine andere Welt in Südostasien offen? Hätten Millionen Tote im 20. Jahrhundert verhindert werden können, wenn französische Abgeordnete mehr Mut bewiesen hätten? Hätte es die Möglichkeit eines »ehrenhaften Abgangs« gegeben, wie er im Titel von Éric Vuillards neuem Buch anklingt? Es sind solche Fragen, die einen beim Lesen seines neuen Kurzromans ankriechen. Fans der Literatur des französischen Schriftstellers wird das nicht wundern, denn es gehört zum Kern seines Werks, historische Momente aus anderen Perspektiven zu beleuchten und sie damit gewissermaßen neu zu erzählen.

Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz Berlin. 142 Seiten. 20 Euro. Hier bestellen.

Zuletzt hat er das eindrucksvoll in seinem Thomas Müntzer gewidmeten Buch »Der Krieg der Armen« getan. In seinem mitreißenden Kurzroman »14. Juli« gibt er dem Vorabend der französischen Revolution eine verblüffend konkrete Gestalt. Und in seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman »Die Tagesordnung« zeigt er bravourös, wie sich die deutsche Wirtschaftselite ohne Not Hitler an den Hals geschmissen, den Aufstieg der Nationalsozialisten und den Anschluss Österreichs befördert hat. Die historischen Nacherzählungen des Franzosen zeichnet allesamt aus, dass sie sich die literarische Freiheit nehmen, über die verbrieften Überlieferungen hinauszugehen. Mit seinen Texten holt er Vergessenes und Verdrängtes aus den Archiven, bringt Protagonist:innen, deren Stimme nie durchdringen konnten zum Sprechen, oder stellt diejenigen bloß, die sich angesichts ihrer Schuld in Schweigen hüllen.

Im Fall von »Ein ehrenhafter Abgang« sind das vor allem die (Pariser) Eliten, einflussreiche Familien, gierige Bankiers, zynische Wirtschaftsführer, eitle Politiker und machtgeile Generäle, in deren Interesse Frankreich in Indochina jahrzehntelang einen Krieg führte, von dem sie wussten, dass er nicht zu gewinnen war. Der militärische Erfolg war nicht nur nicht absehbar, es wurde sogar auf sein Ausbleiben gewettet, um die über Jahrhunderte in arrangierten Ehen gesammelten Privilegien der französischen Eliten zu sichern.

Literatur erlaubt alles, reklamierte der Erzähler in »Die Tagesordnung« für sich, man müsse erzählen, »was nicht geschrieben wurde« der anonyme Beobachter der Geschehnisse in »14. Juli«. Diese Prinzipien verorten Vuillards Schreiben in der engagierten Literatur, mit der er nun einmal mehr mit Blick auf die europäische Kolonialpolitik wirft. In »Kongo« hatte er bereits vor Jahren die Geschehnisse der Kongokonferenz 1884 in Berlin und ihre Folgen für die zentralafrikanische Region untersucht.

Hier nun steht dabei die Debatte in der Nationalversammlung am 19. Dezember 1950 im Zentrum, in deren Verlauf die Verfechter des Kolonialismus die Oberhand gewinnen. »Wenn ihr den Fehler begeht, Verhandlungen in die Wege zu leiten, sprich, vor Ho Chi Minh zu kapitulieren, müssen wir morgen in Madagaskar, in Tunesien, in Algerien kapitulieren«, donnert etwa der rechtskonservative Abgeordnete Maurice Violette und ergänzt: »Wenn wir von einer Kapitulation zur nächsten gehen, enden wir in der Katastrophe und sogar in der Schande.«

Das faszinierende an diesem Text ist, dass Vuillard nicht einfach nur Stimmen zu einem disparaten Chor zusammenführt, sondern Atmosphäre schafft, indem er das Raunen und Brausen in der Assemblée Nationale einfängt oder mit den Abgeordneten zum Mittagessen geht. Er fängt die Bedeutung des Kolonialismus für die französische Wirtschaft und die Einflussnahme der Konzerne auf politische Entscheidungen ein – ein Kapitel trägt den vielsagenden Titel »Wie sich unsere glorreichen Schlachten in Aktiengesellschaften verwandeln« – und führt seine Erzählung bis in die zur Kolonialisierung erkorenen Gebiete, wo man sich, wie Vuillard anhand von Telegrammen offenlegt, »zu einem Zeitpunkt, da der Krieg bereits verloren ist, zerfleischt«.

Éric Vuillard in der Übersetzung von Nicola Denis

Bemerkenswert ist an Vuilllards Literatur immer wieder, wie er die oft so trocken daherkommende Geschichte in eine physische und emotionale Sprache überführt, die das Historische in seiner konkreten Bedeutung greifbar macht. Da werden die saturierten Abgeordneten in Paris mit ihren »pantagruelischen Bewegungen« als »Mischung aus Fleisch und Denken« vorgeführt, die perversen Gesetze der Kriegswirtschaft – »Man gewann, und zwar ganz famos, indem man verlor!« – und der geopolitischen Machtpolitik entlarvt; zum Beispiel, wenn er den brutalen Mord an Patrice Lumumba vor Augen führt.

Vuillard führt auf engstem Raum vor Augen, wie viel (Tod und) Leben sich hinter den nüchternen Daten und Fakten der Geschichtsbücher verbirgt, wie folgender Passus exemplarisch deutlich macht: »Während die Franzosen gerade mal die Rationierung hinter sich hatten und die Brotkarte erst kürzlich abgeschafft worden war, während Tausende von Vietnamesen Tag für Tag Krieg und Hunger erduldeten, die Truppen der Viet Minh mit einfachen Sandalen an den Füßen kämpften und die armen Soldaten zwei Tage lang nicht gesessen hatten, schlug ein armer Tropf auf seine Trommel, um nicht zu weinen; während die Dynamos der Fahrräder nachts bei der Tet Nguyen Dan einen improvisierten Tisch erhellten, an dem man ein paar Orangenschnitze und Kekse miteinander teilte, verloren die Flammenbäume ihre Blüten, schwebten rote Blütenblätter zwischen leere Konservendosen, und während die Jagdbomber wie riesenhafte Vögel stumm den Wald überflogen und explodierende Granaten einen solchen Hagel aus Erde aufwirbelten, dass den Männern ihr Zeitgefühl abhandenkam, war der Krieg in den Rechnungsbüchern schon verloren.«

Sätze wie dieser zeigen nicht nur die komplexen Strukturen, mit denen Vuillard die Gleichzeitigkeit von Erlebnissen, Ereignissen und Zuständen hinter dem Historischen in all ihrer Dichte aufzeigt, sondern auch den Mut und Esprit seiner deutschen Stimme Nicola Denis, die die sprechenden Neben- und Unterordnungen des Franzosen in ihrer hervorragenden Übertragung bewahrt. Die in Celle geborene und in Westfrankreich lebende Übersetzerin hat unter anderem dafür bereits den en renommierten Schweizer Prix lémanique de la traduction sowie vor wenigen Wochen den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis erhalten. »Mit ihrem ausgezeichneten Verständnis für das Französische, das sie ins Deutsche in bewundernswerter Weise überträgt, leistet sie einen wichtigen Beitrag für den kulturellen Austausch über die Grenzen hinweg«, heißt es in der Begründung der Jury. Dies beweist Nicola Denis auch in dieser Übertragung, in der man die jahrelange Erfahrung in der Übersetzung von Autor:innen wie Honoré de Balzac, Marie-Claire Blais, Olivier Guez oder Sylvain Tesson spürt. Vuillards Text entwickelt in der geradezu leichtfüßigen Lebendigkeit von Denis‘ Übersetzung einen unheimlichen Sog.

Am Ende dieses erneut großen schmalen Romans steht die apokalyptische Endzeitstimmung, die über Saigon zum Abzug der Amerikaner herrschte und Filmemacher wie Francis Ford Coppola zu ihren bedrückenden filmischen Meisterwerken inspirierte. Das Debakel in Vietnam, so stellt Vuillards Erzähler fest, sei Folge der lächerlichen Hoffnung auf einen ehrenhaften Abgang gewesen. »Vielleicht wäre die Schande besser gewesen.«