Film

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Joachim Trier hat einen grandios lebensbejahenden Film über die Suche nach Erfüllung im 21. Jahrhundert gedreht. Seine Liebeskomödie »Der schlimmste Mensch der Welt« erzählt vom Erwachsenwerden in den 30ern und verhandelt dabei die großen existenziellen Fragen. Getragen von einer umwerfenden Hauptdarstellerin ist dies der schönste Film des Jahres.

Wer wollte nicht schon einmal die Zeit anhalten oder in eine Parallelwelt eintauchen, die die Gegenwart ausblendet? Den Moment genießen und nicht daran denken müssen, dass er irgendwann vorbei ist? Genau das wünscht sich Julie, als sie Eivind auf einer Hochzeitsparty trifft, auf die sie sich spontan selbst einlädt. Beide begegnen sich in einer Phase, in der ihr Leben entweder in die seichte Bahn des Kompromisses abgleitet oder sie noch einmal die Gelegenheit beim Schopf greifen und neu anfangen können.

Um Zeit und Timing, den richtigen Moment und falsche Entscheidungen, um Liebe, Freiheit und Verluste geht es in Joachim Triers wunderbar warmer und zutiefst ehrlicher Screwball-Komödie »Der schlimmste Mensch der Welt«. Er bildet nach »Oslo, 31. August« und »Auf Anfang« den Abschluss seiner Oslo-Trilogie und konkurrierte – ein Jahr nach Thomas Vinterbergs »Der Rausch« – als skandinavischer Beitrag um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

Allem Anfang wohnt ein Zauber inne: Als Julie (Renate Reinsve) und Aksel (Anders Danielsen Lie) zusammenziehen, scheint die Welt perfekt. | © Oslo Pictures

Im Mittelpunkt steht die lebensfrohe Julie, die ihr Leben gern fest in beiden Händen halten würde. Mit der Selbstbestimmung kommt die Verantwortung und die macht es der jungen Frau nicht leicht. Denn so richtig kann sie sich nicht entscheiden, welchen Weg sie einschlagen soll. Jede Entscheidung für eine Richtung ist auch eine gegen alle anderen Möglichkeiten. So springt sie von einem Studium zum nächsten. Literatur, Fotografie – all das interessiert sie und zugleich nimmt sie nichts genug in Bann. Es scheint, als suchte sie nach dem Leben einer Romanfigur. Kein Wunder, dass sie irgendwann in einem Buchladen arbeitet.

Eines Tages begegnet ihr Aksel, ein erfolgreicher Comiczeichner, der ein paar Jahre älter ist als sie. An seiner Seite kann sie ihr geordnet unsortiertes Leben fortführen, eintauchen in eine Szene voller Nerds und Freaks. Vor allem aber findet sie in ihm einen Mann, mit dem sie tiefgründige Gespräche führen kann. Er hält Julie aber auch immer wieder vor Augen, das sie nicht genau weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen will. Bei einem Treffen von Aksels Familie kommt die Frage nach Kindern auf. Während Aksel sich das wünscht, setzt Julie die Vorstellung von so viel Verantwortung unter Druck. Das harmonische Miteinander gerät ins Rutschen, Julie fühlt sich mehr und mehr fremd in ihrer eigenen Haut.

Magischer Moment: Julie (Renate Reinsve) und Eivind (Herbert Nordrum) verbringen zusammen einen unvergesslichen Abend. | © Oslo Pictures

In dieser Situation begegnet sie Eivind und der norwegische Filmemacher Joachim Trier (»Louder Than Bombs«) gönnt den beiden die romantische Auszeit, die sich jede:r wünscht, aber niemand bekommt. Für einen magischen Moment lang – vielleicht der zauberhafteste der Saison – drückt er für Julie und Eivind auf die Pausentaste, damit sie sich noch einmal abseits der Wirklichkeit begegnen können, um eine erfahrungsbasierte Entscheidung für ihre Zukunft zu treffen.

Aber Erfahrung allein hilft nicht, das Leben ist zu komplex. Dennoch stürzt sich Julie immer wieder furchtlos in das Leben, um keine Sekunde zu verpassen. Dabei mutet sie ihrer Umwelt eine Menge zu, was die ironische Zuschreibung, »Der schlimmste Mensch der Welt« zu sein, auf den ersten Blick erklärt.

Liebe auf den zweiten Blick: Als sich Julie (Renate Reinsve) und Eivind (Herbert Nordrum) zufällig wiedersehen, fliegen die Funken. | © Oslo Pictures

Regisseur Joachim Trier sprach im Filmmagazin RAY über seine romantische Komödie und erklärte den Titel dort wie folgt: »Julie packt vor allem das Gefühl, der schlechteste Mensch der Welt zu sein, weil sie an einem der privilegiertesten Orte der Welt groß geworden ist, wo ihr eigentlich alle Möglichkeiten offen stehen und sie diese trotzdem irgendwie nicht nutzt. Inklusive der Tatsache, dass sie noch kein Kind hat oder will. Und zumindest Letzteres ist vielleicht eine an sie herangetragene Erwartung, vor der Frauen früher stehen als Männer.«

Renate Reinsve spielt diese junge Frau mit voller Energie. In ihrer ersten Hauptrolle lässt sich die junge Bühnenschauspielerin nicht nur mit Haut und Haar auf diese eigenwillige Figur ein, sondern hat sie auch wesentlich mitgestaltet. Trier ließ ihr freie Hand, um als Mann nicht »in die Klischeefalle zu tappen«. »Gerade was die Sexszenen, weibliche Lust und auch die Macken der Figur angeht, hatte Renate großen Einfluss auf das Drehbuch und die Umsetzung«, gab er im RAY-Gespräch zu Protokoll.

Die Ruhe nach dem Sturm: Nach der Trennung von Aksel (Anders Danielsen Lie) fehlen Julie (Renate Reinsve) die Worte. | © Oslo Pictures

So verkörpert Reinsve ihre melancholische, irgendwie selbstverlorene, aber immer ganz bei sich seiende Figur vollkommen uneitel. Sie trägt den Film mit Witz und Leichtigkeit ins Komödiantische und gibt ihm eine gehaltvolle Tiefe, als er ins Drama kippt. In Cannes wurde sie dafür als Beste Schauspielerin ausgezeichnet. An ihrer Seite beeindrucken aber auch Herbert Nordrum (Eivind) und Anders Danielsen Lie (Aksel), der als Darsteller in der gesamten Oslo-Trilogie mitwirkt und die Filme somit auch ein stückweit zusammenhält.

In zwölf Kapiteln begleitet der mit vielen handwerklichen Kniffen gestaltete Trilogie-Abschluss die unentschlossene Julie durch die Jahre. Dabei gerät sie immer wieder in Schlingern und wird mit den existenziellen Fragen des Lebens konfrontiert. Hat man wirklich eine Wahl? Wo beginnt Untreue? Und wie hoch darf der Preis der Freiheit sein? »Es ist eine komplizierte Zeit, um einen Partner fürs Leben zu finden«, antwortete Joachim Trier auf die Frage, was dieser Film über die Gegenwart aussagt. Frei zu sein, so zeigt dieser herzerwärmende Film, bedeutet eben auch, mit all den Erwartungen an ein erfülltes Leben umgehen zu lernen.

Joachim Trier: Der schlimmste Mensch der Welt. Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum. Koch Films / Studiocanal 2022. 121 Minuten.

»Der schlimmste Mensch der Welt« bildet all die Rätsel ab, vor denen jede:r Einzelne im 21. Jahrhundert steht. Die literarische Struktur lässt Interpretationsspielräume hinsichtlich der Brücken zwischen den Kapiteln entstehen und schafft Atempausen zwischen den Einzelteilen dieses rasanten, klügsten und schönsten Films des Jahres.

Eine kürzere Fassung des Textes ist im Rolling Stone, Ausgabe 6/2022 erschienen