Film

Mehr als ein Lehrer und seine Klasse

Maria Speth hat ein halbes Jahr lang eine 6. Klasse in der hessischen Kleinstadt Stadtallendorf begleitet. Ihr Film ist ein großes Gesellschaftsporträt, in dessen Zentrum ein Lehrer steht, wie man ihn sich für seine Kinder nur wünschen kann. »Herr Bachmann und seine Klasse« zeigt eindrucksvoll und bewegend, wie viel besser Pädagogik auf Augenhöhe funktioniert.

»Die ganzen Verbrecher sitzen in der hintersten Reihe. Ich gebe zu, das habe ich auch immer als Schüler gemacht«, sagt Dieter Bachmann, als es in seiner Klasse etwas lebhafter wird. Allein in diesem Satz wird die Haltung des Lehrers sichtbar. Die Sprache, die die Kids dort abholt, wo sie sind, ohne sich anzubiedern. Die Bereitschaft, das eigene Verhalten mit dem der Schüler:innen ins Verhältnis zu setzen. Die Haltung, nicht alles auf die Goldwaage zu legen. Da gehören nur die wichtigen Dinge hin, etwa wenn die zurückgezogene Ferhan traurig ist, die lebendige Stefanie mal wieder alle Aufmerksamkeit auf sich zieht oder einer der Verbrecher aus der hintersten Reihe – Ayman, Hazan, Erdzhan oder Jamie – ­etwas von zuhause erzählt.

Sechs Monate hat Maria Speth 2017 in der Georg-Büchner-Gesamtschule von Stadtallendorf gedreht. Ursprünglich wollte sie gar keine Doku über eine Klasse machen, erzählte sie dem freitag, sondern einen modernen »Romeo und Julia«-Film, in dem sich ein russischstämmiges Mädchen in einen muslimischen Schüler verliebt. Dafür bekam sie aber keine Förderung, also fing sie an, Bachmann – ein Bekannter ihres Kameramannes – im Schulalltag zu begleiten.

Die Verbrecher aus der hintersten Reihe | © Madonnen Film

Die Finanzen blieben auch nach den Dreharbeiten knapp, weshalb Speth ihren Film mehr oder weniger im Alleingang fertigstellen musste. Über 200 Stunden Material hatte sie zu sortieren und zu schneiden, drei Jahre hat sie damit zugebracht. Das Ergebnis, dreieinhalb Stunden Schulalltag, ist phänomenal. Entgegen jeder Befürchtung langweilt man sich keine Sekunde. Es ist nicht gut gemeinter Prekariatsvoyeurismus, der einen bei der Stange hält, sondern dieses Miteinander auf Augenhöhe, das Bachmann vorlebt und von seinen Schüler:innen auch immer wieder einfordert. Dass die sich nicht immer darauf einlassen gehört zur Authentizität dieses Films dazu.

Herr Bachmann ist ein kumpelhafter Lehrer, ob sein Ansatz reformpädagogisch ist, darüber können sich Expert:innen streiten. Auf alle Fälle ist er empathisch, weil er sich für seine Schüler:innen interessiert. Kinder zwischen 12 und 14 Jahren, deren Eltern aus Bulgarien, der Türkei, Russland oder Marokko an den hessischen Industriestandort gezogen sind, weil sie dort Arbeit gefunden haben. Entsprechend herausfordernd sind die Verhältnisse, in denen die Kinder außerhalb der Schule groß werden. Also wird Bachmanns Klassenraum zur großen Auffangmaschine, in der die Sorgen, Nöte und Sehnsüchte, die die Kids aus ihren Elternhäusern mitbringen, ebenso Platz haben müssen wie die sprachlichen Hürden, die in der Klasse auftreten.

Der Stuhlkreis ist bei Bachmann ein probates Mittel | © Madonnen Film

Deshalb sprechen Bachmann und seine Kolleg:innen mit ihren Schüler:innen über Heimat und Religion, über die sich täglich wiederholende Erfahrung, neu in Deutschland anzukommen, während das Herz noch dort ist, wo der Rest der Familie lebt. Fernweh und Herzschmerz gehören zu diesem Alltag ebenso dazu wie Neugier und Stolz.

Jede:r in Bachmanns Klasse trägt Wünsche und Träume, Schwierigkeiten und Probleme mit sich. Die einen äußern sie laut, die anderen leise. Sein pädagogischer Instrumentenbaukasten macht tatsächlich Musik. Wenn er es für sinnvoll hält, lässt er seine Kids an Schlagzeug, Bassgitarre und Synthesizer, die dann schon auch mal Metallica zum Besten geben. Ihre verborgenen Talente zu entdecken und zu fördern, sie in dem bestärken, was sie können, statt ihnen ihr (meist nicht selbstverschuldetes) Unvermögen vorzuhalten, ist Bachmanns Mission.

Die lebhafte Stefi lebte 2017 erst seit einem Jahr in Deutschland | © Madonnen Film

Dabei hilft ihm sicher auch seine innere Haltung. Bachmann legt keinen Wert auf Normen, ist eher der Kumpeltyp und damit vielmehr ein Exot unter den Lehrkräften. Mit Hoodie, Mütze oder AC/DC-Shirt sitzt er vor seiner Klasse und ist sich nicht zu fein, von seinem eigenen Unvermögen oder Versagen zu erzählen. Er scheut sich auch nicht, Worte wie Arsch, Scheiße oder Penner zu verwenden. Manche Dinge müssen einfach beim Namen genannt werden. Ohne zu autoritären Mitteln greifen zu müssen, schauen die Kinder zu ihm auf und lassen ihn in ihr Leben, weil er den Kindern und ihren persönlichen Geschichten genau das entgegenbringt, was er selbst erwartet: Achtung und Respekt.

Der Film porträtiert mit Bachmann einen, der sich »gut und emotional« an vorderster Front dafür einsetzt, dass seine Schüler:innen die besten Voraussetzungen haben, um ins Leben zu starten. In langen Einstellungen beobachtet der Film den Schulalltag, nimmt aber auch den Alltag der Schüler:innen in den Blick. Er lässt seine Protagonist:innen für sich sprechen, verzichtet auf erklärende oder kommentierende Anmerkungen aus dem Off.

Dieter Bachmann macht das Bildungssystem menschlicher | © Madonnen Film

Im Umgang mit den Eltern der Kinder wirkt Bachmann wie ein Sozialarbeiter. Bei allen Schwierigkeiten in der Kommunikation – die Kinder fungieren hier nicht selten als Übersetzer:innen zwischen den Sprachen und Kulturen, was nicht nur ihr irrsinniges Potenzial beweist, sondern auch zeigt, dass schulische Leistungen allein wenig Rückschlüsse bieten – lässt er nie die nötige Ernsthaftigkeit vermissen, um für seine Schüler:innen und ihre Talente einzutreten. »Diese Noten sagen überhaupt nichts über Euch. Das sind nur Momentaufnahmen. Viel wichtiger ist, dass ihr alle tolle Kinder seid«, sagt Bachmann am Tag der Zeugnisausgabe. Er weiß, dass diese Kinder so viel mehr leisten als andere, die besser abschneiden.

Maria Speth: Herr Bachmann und seine Klasse. Grandfilm 2021. 217 Minuten

Zugleich weiß er, dass er die Schwächen benennen muss, wenn sie eine echte Perspektive haben sollen. Sein Rezept hier ist, Schwächen anzunehmen, sie auszuhalten, andere Perspektiven einzunehmen und auf die innere Stimme zu hören. Nobody is perfect klingt in unserer Gesellschaft so einfach, ist es aber nicht. Bachmann gelingt es, dieses simple Prinzip seinen Schüler:innen glaubhaft zu vermitteln.

Maria Speths »Herr Bachmann und seine Klasse« wurde bei der digitalen Berlinale im Frühjahr völlig zu Recht mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es: Bachmann gestalte »ein System in der Krise – unser europäisches Bildungssystem – um, federt es ab, macht es menschlicher, und diese Menschlichkeit macht es viel wirksamer. « Speth gelingt aber noch mehr. Neben Bachmann macht sie dessen »Verbrecher:innen« zu echten Helden des Kinos, die einem während der dreieinhalbstündigen Dokumentation ans Herz wachsen.

Wer sich dafür interessiert, was aus Dieter Bachmann uns seinen Schüler:innen seit 2017 geworden ist, dem sei Jörg Thomanns Beitrag »Stars für 217 Minuten« in der FAZ empfohlen.