Am Donnerstagabend wurden mit der Weltpremiere von Isabel Coixets historischem Drama »Nobody Wants the Night« die 65. Internationalen Filmfestspiele in Berlin eröffnet. Es ist bereits der siebente Beitrag von Isabel Coixet, 2009 war die katalanische Regisseurin Mitglied der Internationalen Jury.
Es sollte starke Frauen auf der diesjährigen Berlinale geben, bereits im Eröffnungsfilm waren zwei davon zu sehen. Doch auch sie können Isabel Coixets Drama nicht retten. Mit der Zeitlupe einer abgehenden Schneelawine beginnt dieser Film, abgelöst vom White-Out inmitten der grönländischen Einöde und den dunkelroten Blutspuren eines gerade erlegten Bären.
In ihrem fast zweistündigem Beitrag erzählt sie die Geschichte von Josephine Peary (Juliette Binoche), der wagemutigen Ehefrau des berühmten Arktis-Forschers Robert Peary, die 1908 ihrem Mann an den Nordpol nachreist, um ihm bei dessen größtem Triumph so nah wie möglich zu sein. Jeder rät ihr von der gefährlichen Reise ab, denn der arktische Winter steht bevor. Doch Josephine ist ebenso wagemutig wie naiv, sie will sich um keinen Preis der Welt von ihren Plänen nicht abbringen lassen. »Wenn es keinen Weg gibt, schaff einen!«, lautet das Credo ihres Mannes. Sie macht es sich zu eigen.
Gemeinsam mit dem Polarforscher Bram Trevor (Gabriel Byrne) und zwei Eskimos macht sie sich auf den Weg ins ewige Eis. Die Reise ist von Beginn an ein Selbstmordkommando, der Polarforscher Bram wird sie nicht überleben. Als Josephine das Basislager ihres Mannes erreicht, ist dieser noch nicht vom Pol zurück. Sie beschließt, auf ihn zu warten, und die Warnungen vor dem hereinbrechenden Winter in den eisigen Wind zu schlagen. Mit ihr im Basislager bleibt die junge Inuitfrau Allaka (Rinko Kikuchi), die, wie sich zeigen wird, ein Geheimnis in sich birgt.
Die gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden Frauen in einer Umgebung, die lebensfeindlicher nicht sein kann, sowie die Brutalität der Elemente stehen im Zentrum von Coixets Film. Gemeinsam hungern, frieren und warten sie auf den gleichen Mann, zwischen Wut und Lethargie schwankend. Vor dem Hintergrund, dass die forsche Josephine ihren Gatten in den letzten 16 Jahren nur 14 Monate gesehen hat, wirkt ihr Leiden recht aufgesetzt.
Juliette Binoche, die bereits 1993 mit der Berlinale Kamera und 1997 mit dem Silbernen Bären (für »Der englische Patient«) ausgezeichnet wurde und die gerade mit Olivier Assayas Spielfilm »Die Wolken von Sils Maria« in den deutschen Filmsälen zu sehen war, sieht man als Josephine Peary in einer eher blassen Rolle. Zu Beginn des Films hat man noch Hoffnung, da entwickelt sie Züge, die an Tilda Swinton als Madame D. in Wes Andersons Grand Budapest Hotel und als Ministerin Mason in Bong Joon-hos Science-Fiction-Verfilmung Snowpiercer erinnern. Bong Joon-ho ist Mitglied der Internationalen Jury, ihm wird diese Ähnlichkeit, aber auch das anschließende Abfallen zweifellos aufgefallen sein. Denn im weiteren Verlauf verliert diese Josephine an Glaubwürdigkeit, etwa wenn sie im tiefsten Eis ihr Grammofon herausholt und ihre Zivilisiertheit mit der Verwendung von Silberbesteck betont, statt den Ernst der Lage zu begreifen und auf Jagd zu gehen, bevor der Winter vollends einbricht. Da hilft es auch nichts, dass man in dem stets perfekt geschminkten Gesicht Binoches immer wieder lesen kann, wie nah beieinander Pioniergeist und Wahnsinn sowie Wut und Verzweiflung wohnen.
Einen besseren Eindruck hinterlässt die japanische Schauspielerin Rinko Kikuchi in der Nebenrolle der Eskimofrau Allaka, die manch einer noch als gehörlose Chieko aus Alejandro Gonzáles Iñárritus Meisterwerk Babel in Erinnerung haben wird. Schon damals erhielt Kikuchi viel Lob für ihre Darbietung. Mit ihrer zurückhaltenden, aber in die Tiefe gehenden Performance in Coixets Spielfilm setzt sie bei der 65. Berlinale ein kleines Ausrufezeichen. Es sind die kleinen Bewegungen in ihrem Gesicht, die von den großen Gefühlen erzählen. Sie ist es auch, die angesichts des allgegenwärtigen kämpferischen Ehrgeizes in dieser in jedem Sinne kalten Welt die Würde und das Menschliche hoch hält. »Menschen verstehen die Welt nicht, sie verstehen nur Menschen«, entgegnet sie der eigensinnigen Josephine in einer ruhigen Minute. Diese lernt mit jedem weiteren Tag im Eis, dass sie diesen Ausflug nur dann überleben wird, wenn sie ihren Hochmut zur Seite legt.
Isabel Coixets in Norwegen gedrehtes Grönland-Drama Nobody Wants the Night bietet zur Eröffnung der 65. Filmfestspiele in Berlin leider kein so ein vergnügliches Spektakel wie Wes Andersons prominent besetztes Balkanmärchen Grand Budapest Hotel im vergangenen Jahr oder Wong Kar-Wais Martial-Arts-Epos The Grandmaster 2013. Der Film weiß bis zum Schluss nicht wirklich, wo er mit seiner Geschichte hin will, so dass es nicht wundert, dass man das tragische Ende eher gelassen als ergriffen zur Kenntnis nimmt.
Es gibt nur zwei Gründe dafür, dass Coixets unterkühltes Porträt zweier Frauen im Eis die diesjährige Berlinale eröffnet: Zum einen die Debatte um die Gleichberechtigung von Frauen im Filmgeschäft im Rahmen der diesjährigen Filmfestspiele, zum anderen Juliette Binoches erste Worte im Film, die da lauten »Mein erster Bär!«.
Zur Internationalen Jury gehören in diesem Jahr: Darren Aronofsky (Regisseur, USA), Daniel Brühl (Schauspieler, Deutschland), Bong Joon-ho (Regisseur, Südkorea), Martha De Laurentiis (Produzentin, USA), Claudia Llosa (Regisseurin, Peru), Audrey Tautou (Schauspielerin, Frankreich), Matthew Weiner (Produzent und Drehbuchautor, USA).
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