Essay, Sachbuch

Hüterin der Vergangenheit

Als Schriftstellerin und Herausgeberin erkundet Judith Schalansky Natur, Kultur und Geschichte. Sie schreibt gegen die Vergesslichkeit und Ignoranz unserer Zeit an. Die englische Übersetzung ihres Buches »Verzeichnis einiger Verluste« ist nun für den Booker International Book Prize 2021 nominiert.

Armand Schulthess ist bereits 50 Jahre, als er seinen Bürojob an den Nagel hängt und beginnt, zwischen Kastanien ein Labyrinth aus beschrifteten Tafeln anzulegen, in dem er das Wissen der Menschheit zu ordnen versucht. In Listen und Tabellen kategorisiert er die Welt, die Quellen hortet er in seinem Haus. Bücher- und Zeitschriftenstapel reichen bis zur Decke, bis sich Fenster und Türen nicht mehr öffnen lassen.

Einem Don Quijote gleich ist er auf einer Mission: »Alles, was lesbar ist, lesen. Gleiches zu Gleichem tun und alles Gelesene verwahren. Nur Tatsachen abschreiben, Wissen, das sich überprüfen lässt. Da, wo es möglich ist, die Phänomene von den Gesetzmäßigkeiten trennen und stets den Weg vom Allgemeinen zum Individuellen nehmen. Denn das Äußere verweist immer auf das Innere.« Schulthess verlorengegangene »Enzyklopädie des Waldes« hat eine der Leerstellen hinterlassen, denen sich Judith Schalansky in ihrem »Verzeichnis einiger Verluste« widmet.

Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste. Suhrkamp Verlag 2018. 252 Seiten. 24,00 Euro. Hier bestellen

Der edle Band beginnt mit einer Insel. Womit sonst, möchte man fast sagen. Denn die 1980 in Greifswald geborene Autorin debütierte 2009 mit dem eindrucksvollen »Atlas der abgelegenen Inseln«, »auf denen ich nie war und niemals sein werde«. Auch Tuanaki wird sie nicht mehr besuchen, denn die Insel ist einem Seebeben zum Opfer gefallen.

Der Hafen von Greifswald, Sapphos Liebeslieder, Guerickes Einhorn oder der Kaspische Tiger – es ist eine wilde Mischung verlorener Natur, Kultur und Mythen, auf die man hier stößt. Schreibend zögert Schalansky deren endgültiges Verschwinden hinaus. Der Unterschied zwischen der An- und Abwesenheit von Dingen ist womöglich marginal, solange es die Erinnerung gibt, räumt sie ein. Illustrationen, schwarz auf blauschwarz, zeigen, dass irgendwie noch da ist, was nicht mehr da ist.

Es gibt so viele Dinge, die verloren gehen, und »letztlich ist alles, was noch da ist, schlichtweg das, was übrig ist«, erfährt man im Vorwort. Aus diesen schlichten Resten macht Schalansky mit erzählerischer Wucht Gold. Sie imaginiert Geschichten, mit denen sie den Verlust erst überhaupt begreifbar macht. Atemberaubend der Kampf zwischen einem Löwen und einer Tigerin in einer Arena im Alten Rom, fesselnd die Lebensgeschichte des Ruinenmalers Hubert Robert, bewegend Greta Garbos sehnsuchtsvolle Erinnerung an Friedrich Wilhelm Murnau. »Verzeichnis einiger Verluste« lässt Letztere begreifen und darüber trauern. Das ist große, die Perspektive auf die Welt verändernde Literatur.

Die englischsprachige Ausgabe »The Inventory of Losses«, übersetzt von Jackie Smith, ist nun auf der Longlist des Booker International Prize 2021. Es ist der einzige aus dem Deutschen übersetzte Titel auf der Longlist, auf der auch Übersetzungen von Ngũgĩ wa Thiong’o, Can Xue, David Diop, Éric Vuillard sowie Maria Stepanowa, Nana Ekvtimishvili und Benjamín Labatut stehen. Die nominierten Titel der Letztgenannten sind alle im Suhrkamp-Verlag erschienen, Vuillards Roman bei Matthes & Seitz.

Schalansky schreibt gleichermaßen fantastisch wie faktenreich, verarbeitet persönliche Motive wie menschheitsgeschichtliche Ereignisse. Man könnte auch – in Anlehnung an die gleichnamige Buchreihe, die sie bei Matthes & Seitz Berlin herausgibt – sagen, dass diese zwölf Texte »Naturkunden« sind, in denen sie der Natur von Verlust, Trauer und Erinnerung auf den Grund geht.

Wie sehr die Berliner Autorin der Natur verbunden ist, hat sie auch in ihrem Roman »Der Hals der Giraffe« gezeigt. Darin ließ Schalansky ihre Leser:innen drei Tage lang in den Kopf der Sport- und Biologielehrerin Inge Lohmark blicken, die sarkastisch ihre Schüler:innen und die neumoderne »Pfropfpädagogik« kommentiert, mit der man hoffnungsvoll »einen Idioten neben einen Streber« setzt, um ihn durch den positiven Einfluss wie eine Obstsorte zu veredeln. Dennoch ist Roman kein Hohelied auf die Kräfte der Evolution, sondern setzt der Kultur ein Denkmal.

»Wer die Zukunft kontrollieren will, muss die Vergangenheit abschaffen.« Judith Schalansky wahrt die Erinnerung und passt auf, dass die Zukunft nicht in falsche Hände gerät. Sie ist eine der bedeutendsten Literaturschaffenden ihrer Generation.

3 Kommentare

  1. […] nun entdecken kann, wurde unter anderem mit dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet. Die englische Übersetzung des schmalen Romans, die Anna Moschovakis vorgenommen hat, wurde gerade mit dem International Booker Prize […]

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