Zeitgeist

Die bitteren Tränen hinter der Maske

Wie die Corona-Pandemie dem Neoliberalismus in die Karten spielt und den Feminismus unterläuft. Feministischer Protest war daher nie so gerechtfertigt wie im Jahr drei nach Beginn der Pandemie. Ein Kommentar zum Frauentag.

»Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen«, sagte der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn im Frühjahr 2020. Zwei Jahre später ist die Gesellschaft derart zerstritten, dass man ernsthaft an ihrer Fähigkeit, zu verzeihen, zweifeln muss. Der Riss der Corona-Pandemie geht quer durch Vereine, Freundeskreise und Familien. Verwunderlich, denn die Pandemie hat klare Gewinner und klare Verlierer.

Der Gewinner ist die neoliberale Marktordnung, die sich in allen Punkten durchgesetzt hat. Ja, Lockdowns und Beschränkungen haben Unternehmer:innen vor Herausforderungen gestellt, aber strukturell hatte die Wirtschaft immer die Oberhand. Lockdowns und Schulschließungen wurden zuvorderst verordnet, um »unser Gesundheitssystem« vor einer Überlastung zu bewahren. Alte, Versehrte und andere Risikogruppen vor einer Ansteckung schützen, war ein nachrangiges Argument.

Auch wenn sie es nie so deutlich gesagt hat, aber die Bundesregierung wollte gesellschaftliche Solidarität, um ein zuvor kaputtgespartes, marodes und längst an den Grenzen der Belastung operierendes Gesundheitssystem zu schützen. Ein System, das nach zig Gesundheitsreformen und Privatisierungen schon lange nicht mehr an den Bedürfnissen der Menschen, sondern an den gewinnbringenden Vorstellungen von Finanzfonds, Gesellschafter:innen und Aktionär:innen ausgerichtet war. Der Schutz der Großeltern wurde den Familien, die aufgrund von Kita- und Schulschließungen wochenlang den Spagat zwischen Beruf und Kinderbetreuung machten, nur vorgegaukelt, um ein neoliberales Ausbeutungssystem am Laufen zu halten. Die, die darunter am meisten zu leiden hatten, wurden gnädig beklatscht.

Die Wirtschaft hat zwar immer gestöhnt, dank Finanzhilfen und großzügiger Auslegung der Coronabestimmungen konnte sie aber ohne größere Beschränkungen ungestört weiter daran arbeiten, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht. Die Zahl der Millionäre ist schon im ersten Jahr der Pandemie auf über 1,5 Millionen gestiegen, während am unteren Ende der sozialen Räuberleiter ein Überlebenskampf stattfindet.

Hierzulande konnten Arbeitgeber:innen maximalen Druck auf ihre Angestellten ausüben. Dass Familien – und in diesen meist die Frauen – Kinderbetreuung und Bildungsaufgaben übernahmen, stellte sie nicht davon frei, ihre Arbeitsleistung uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen. Die Verdopplung der Kinderkrankentage hat die notwendige Betreuungszeit während der Lockdowns kaum ausgleichen können. Eine statistische Erhebung, wie Familien und insbesondere Frauen dieses Dilemma gelöst haben, fehlt.

Behelfsweise kann man dafür die bekannten Zahlen der physischen und psychischen Belastung heranziehen. Die sind, glaubt man den vorliegenden Studien, enorm gestiegen. Ein IT-Konzern hatte für Deutschland die Belastung im Gesundheitswesen untersucht und kam zum Schluss, dass 48 Prozent der Befragten angaben, dass die Pandemie Überlastungssyndrome verschlimmert habe. Frauen sind davon stärker betroffen als Männer, machte das Müttergenesungswerk deutlich.

Die britische Feministin und Aktivistin Laurie Penny ruft daher in ihrem aktuellen Buch die »Sexuelle Revolution« aus, die eine Neuorganisation von Fürsorge und Arbeit anstrebe und damit die moderne Wirtschaftsordnung herausfordere und das Prinzip sexueller Unterdrückung infragestelle. Warum das notwendig ist, zeigen Almut Schnerring und Sascha Verlan in ihrer Studie »Equal Care«, in der sie die Folgen des Gender Pay Gap aufzeigen und fordern, Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern gerecht aufzuteilen. Nur dann hätten alle Menschen gleichermaßen die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe unabhämgig von bestehenden Hierarchien.

Die Bundesagentur für Arbeit hatte diese Entwicklung schon früher erkannt und gab im Arbeitgebermagazin wohlfeile Tipps, »was jeder Einzelne tun kann, um nicht in ein Loch zu fallen, und wie wir unsere Resilienz jetzt stärken.« Der Faktor Mensch muss schließlich funktionieren, soll der Kapitalismus weiter brummen.

Wer sich in seinem Freund:innenkreis umhört, kann sich vor Geschichten und Erzählungen, die von Überlastung und Depression handeln, kaum retten. Dazu kommt, dass der digitale Quantensprung bei gleichzeitiger Isolation zu Vereinzelung und Vereinsamung geführt hat. So sumpft jede:r vor sich hin und verzweifelt isoliert am täglichen Kampf mit Erschöpfung, Selbstzweifeln und Tränen. Literatur zum Kampf mit dem Alleinsein war in aller Munde.

Die verzweifelten individuellen Stimmen hört die Politik nur, wenn sie sich zu einem Chor vereinen. Aber gerade dieser Chor wurde abgeschafft. Es hätte Nähe gebraucht, um das Gefühl einer kollektiven Erfahrung zu schaffen. Soziale Distanz und Mindestabstände haben diese Nähe verunmöglicht und verhindern sie bis heute. So bleibt jede:r mit dem eigenen Kummer allein, wie Spitzwegs armer Poet in seiner Kammer. Hinter der Maske fließen ungesehen die vielen Tränen der Einsamkeit und Erschöpfung.

Zwischenzeitlich wurde die Kernfamilie als kleinste gesellschaftliche Einheit zum größten gemeinsamen Nenner. Auch wenn das dahinterstehende konservative Familienbild für manche romantisch klingen mag, ist es für viele ein Horror, weil existenziell und bedrohlich. Die häusliche Gewalt hat in der Pandemie sprunghaft zugenommen, insbesondere in sozial schwierigen Verhältnissen sind Frauen in mehrfacher Hinsicht existenziell bedroht. Ein Phänomen, auf das Feminist:innen seit Jahren hinweisen.

Ohnehin erlebt der Feminismus gerade, wie ihm seine Errungenschaften in einem kapitalistischen System auf die Füße fallen. Corona ist der erste Virus, der jene, die er ereilt, in eine arbeitsrechtliche Rechtfertigungssituation bringt. Die sogenannten milden oder symptomfreien Verläufe führen dazu, dass eine Krankschreibung bei Corona-Infektion keineswegs selbstverständlich ist. Ein positiver Test verpflichtet zwar zur Selbstisolation, in der digitalen Dienstleistungsgesellschaft heißt das aber nicht, dass man damit nicht arbeiten könnte. Dank Homeoffice können an Corona erkrankte Menschen auch weiterhin zur Steigerung des Bruttosozialprodukts beitragen. Wer sich dazu nicht in der Lage sieht, muss das gesondert erklären beziehungsweise sich rechtfertigen. Der Druck der Arbeitgeber:innen fordert im neoliberalen Deutschland eine Haltung, die man bislang nur aus dem Realsozialismus kannte: immer bereit!

Für die sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen – die ausnahmslos keine Entlohnung entsprechend ihrer Relevanz kennen – ist die neoliberale Logik gar mit Unterstützung des Robert-Koch-Instituts in ein System gegossen worden. Für Menschen dieser Berufe ist die Pflicht zur Isolation verkürzt. Oder anders gesagt: Vor allem Frauen müssen wieder früher auf der Matte stehen als alle anderen. Oder sich rechtfertigen, warum sie das nicht tun.
Sich dem zu widersetzen ist für Frauen bedrohlicher als für Männer, da ihre soziale Abhängigkeit von ihrem (meist geringeren) Einkommen höher ist. Wenn dann noch der Partner zu Gewalt neigt, sind Frauen einem System ausgeliefert, das einzig und allein dem schnöden Mammon dient.

In dem Kontext ist es mindestens schwierig, wenn die für Frauen und Familie zuständige Ex-Bundesministerin und amtierende Bürgermeisterin Berlins Franziska Giffey ein Selfie aus der Corona-Isolation mit »Grüßen aus dem Homeoffice« postet. Ein paar Meter Luftlinie weiter sitzen Kassierer:innen an der Kasse, die als systemrelevante Gruppe früher als Giffey wieder antanzen müssen. Die protestantische Arbeitsethik der Regierenden legitimiert den neoliberalen Gedanken, dass Menschen mit Corona – einer Krankheit, die aufgrund ihrer Schwere mit einer Grippe nicht gleichgesetzt werden sollte und über deren Langzeitfolgen zu wenig bekannt ist – keineswegs krank genug sind, um nicht arbeiten zu müssen. Das davon vor allem Frauen betroffen sind, die den größten Teil der arbeitenden Bevölkerung in den systemrelevanten Berufsgruppen stellen, ist ein Drama, das so manche feministische Errungenschaft unterläuft.

Wir werden uns viel zu verzeihen haben. Oder wir hören endlich mit dem Verzeihen (und Klatschen) auf und werden aktiv für jene, die diese Politik konkret ausbaden. Das sind mehrheitlich Frauen. Feministischer Protest war daher nie so gerechtfertigt wie im Jahr drei nach Beginn der Pandemie.

Viele der hier aufgeworfenen Thesen diskutiert Sabine Rennefanz in ihrem aktuellen Buch. Darin stellt die Tagesspiegel-Journalistin die Frage, warum die Corona-Krise unsere gesellschaftliche Solidarität herausfordert. Anhand politischer Entscheidungen, aktueller Studien und laufender Debatten zeichnet sie nach, wie die im Grundgesetz verankerte Gleichheit aller willfährig über Bord geworfen wurde. Die zweifache Mutter fragt, warum unsere Werte so leicht ins Wanken geraten und was in der Politik falsch läuft. Ein aufrüttelndes und wegweisendes Buch – für gesellschaftliche Gerechtigkeit, Solidarität zwischen den Generationen und eine nachhaltige Politik für Kinder.

Sabine Rennefanz: Frauen und Kinder zuletzt. 144 Seiten. 18,00 Euro. Hier bestellen.