Esther Kinsky rekonstruiert in ihrem Erinnerungsroman »Rombo« die Folgen zweier Erdbeben für Mensch und Natur. Dabei gibt es Berührungspunkte zu ihrer Übersetzung von Mary Ruefles Miniaturen »Mein Privatbesitz«.
»Bett. Teller. Treppe. Jacke. Was ist so ein Wort, wenn das Ding nicht da ist?«, fragt sich der alte Ziegengigi Jahrzehnte nach den großen Beben, die das Friaul in den Siebzigern heimgesucht haben. Ja, was sind die Dinge eigentlich noch wert, wenn sie nur noch ein Luftzug zwischen den Lippen oder ein Bild im Kopf sind? Und was vermag Sprache, nein Literatur, wenn es darum geht, Erinnerungen wieder greifbar zu machen? Fragen, die dem neuen Roman von Esther Kinsky zugrunde liegen.
Den Hintergrund von »Rombo« bilden die beiden Erdstöße, die den rauen norditalienischen Landstrich an der Grenze zu Slowenien erst im Mai und dann noch einmal im September 1976 erschütterten. Noch heute erzählt die Landschaft von diesem doppelten Schicksalsschlag, der ganze Orte zerstört, tausende Menschenleben gekostet und viele Menschen zum Verlassen dieser Region veranlasst hat.
Gleich zu Beginn beschreibt Kinsky, woran der aufmerksame Beobachter erkennen kann, was dieser Landschaft zugestoßen ist. An den dürftig geflickten Rissen in den Hauswänden großer Gebäude, an schiefen Grabmälern, verzerrten Kathedralen und den einstöckigen Häusern auf dem Feld. »Hauptsache, nicht zu viel fällt einem aufs Haupt, falls es noch einmal…«
Wer Kinskys Werk nicht kennt, den mögen die ersten Seiten dieses betörenden Werks irritieren. Denn zunächst erkundet die im Ruhrgebiet geborene und halb in Wien und halb im Friaul lebende Literatin intensiv das Gelände – die Landschaft, die Natur und die Geografie. Wie schon bei »Hain«, ihren 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Streifzügen durch Italien, könnte man bei diesen Passagen auch von einem »Geländeroman« sprechen.
In kurzen Kapiteln und Miniaturen wendet sich die Trägerin des Deutschen Preises für Nature Writing des Jahres 2020 der auslaufenden Moränenlandschaft zu. Diese umwerfenden Naturkunden beschreiben die felsigen Erhebungen und sanften Hügel, die tiefen Wälder und das pittoreske Tal mit seinen Flüssen und Bächen, in das ein Abzweig der Staatsstraße 13 und dieser Roman selbst führen. Dort erlebten damals ihre Figuren die schicksalhaften Tage und Wochen vor und nach den Beben.
Der Boden des täglichen Lebens wird hier »zum gestörten Gelände, auf dem ein jeder nach Verlorenem sucht, tastend, schauend, horchend.« In kurzen Episoden lässt sie immer wieder sieben Bewohner zu Wort kommen, die sich an die Ereignisse damals erinnern. Und an den seltsamen sechsten Mai, als die Tiere auffallend unruhig waren, der Himmel orange und der Vorsommer glühte, bevor am Abend ein kalter Hauch durch das Tal zog. Im Nachhinein werden diese Phänomene als Vorboten des Unheils gelesen. Wie auch das dunkle Grollen aus dem Erdinneren, »il rombo« genannt, das Kinsky später poetisch als »Seufzen der Materie, ohne Melancholie« beschreibt.
Dieses Seufzen steckt auch in den Erinnerungen von Gigi, Mara, Silvia, Toni, Anselmo, Olga und Lina, die hier zu Wort kommen. Sie erinnern sich mit leiser, zum Teil schmerzhafter Melancholie daran, was das Beben aus ihnen und ihren Familien gemacht hat.
Lina feierte im Sommer zwischen den beiden Erschütterungen ihre Hochzeit inmitten von Trümmern. Maras Mutter stürzte, verstört von den Ereignissen, in den Bergen des Friaul in den Tod. Anselmo erinnert sich an das Schweigen seiner Mutter in Deutschland nach der Trennung der Eltern. Silvia holt die Tage an der Adria wieder hoch, wo sie den Sommer abseits der Erdbebentrümmer verbrachte. Toni erinnert die Nächte im Auto nach dem Beben und der eigenwillige Gigi, wie sich die Natur über den Menschen erhob. Die sozialen und (zwischen)menschlichen Verwerfungen, die tiefgründigen Verunsicherungen und verstörenden Vertrauensverluste infolge der Erdstöße, die Kinskys Figuren ein Leben lang mit sich herumschleppen, sind in diese Rückblicke eingewoben.
»Manchmal kommt mir die Erinnerung vor wie ein Scherbenhaufen«, kommentiert Silvia lakonisch. »Man kehrt und kehrt, und die Scherben rieseln und rutschen immer wieder herunter.« So müssen sich Kinskys Figuren diesen Scherben ein ums andere Mal zuwenden. Sie nehmen sie einzeln in Augenschein, beobachten das sich darin brechende Licht und sortieren sie neu, um die traumatischen Erlebnisse dieses Jahres irgendwie zu ordnen, wenn man sie schon nicht vergessen kann.
Was zur zweiten Neuerscheinung von beziehungsweise mit Esther Kinsky führt. »Mein Privatbesitz« versammelt Miniaturen und (Selbst)Erkundungen, in denen die renommierte US-amerikanische Lyrikerin Mary Ruefle über die Faszination von Schrumpfköpfen, porzellanisierte Literatur, den Terror der Wechseljahre und die verschiedenen Formen der Traurigkeit schreibt. Kinsky, unter anderem Übersetzerin von Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, hat Ruefles schillernde Texte wundervoll ins Deutsche übertragen. »Blaue Traurigkeit«, heißt es da an einer Stelle, »ist das, was du vergessen willst, aber nicht kannst.«
Überträgt man diesen Gedanken, dann vermittelt »Rombo« ein Bild der blauen Traurigkeit, die das Friaul und seine Menschen sei dem Beben ergriffen hat. Und wie jede Traurigkeit ist auch diese nicht einfach zu greifen. Zumal Kinsky die Verschiebungen und Überlagerungen, die als tektonisches Phänomen das Terrain und als Schicksalsschlag die Menschen prägen, in eine literarische Struktur überführt. Diese bildet die »Landschaft in der Sprache von Vergangenheit, Verschiebungen, Überlagerungen« nach, weshalb der Textkorpus einem Trümmerfeld gleicht.
Ihrer Prosa wohnt das Beben inne und die Erinnerungsfragmente ihrer Figuren, die an scheinbar willkürlichen Bruchstellen einsetzen und enden, liegen verstreut zwischen regionalen Märchen und Mythen, kulturwissenschaftlichen Erkundungen und überwältigenden Beschreibungen geologischer Phänomene. Es scheint, als würde das Schicksal dieser Menschen im adriatischen Hinterland zwischen den Launen der Riba Faronika, einer doppelschwänzigen Meerjungfrau in den Tiefen des Meeres, und den natürlichen Kräften der Materie zerrieben.
Das sich daraus ergebende wohlsortierte Chaos der Elemente fügt sich erst von oben zu einem stimmigen Bild. Als solches ist der Roman ein poetisches Abbild des Freskostreifens aus dem Dom von Venzone, der nicht nur den Buchumschlag ziert, sondern in Ausschnitten auch den Roman strukturiert. Darauf zu sehen sind die Hinterlassenschaften von Pilgern, die ein Zeichen gegen das eigene Vergessen setzen wollten.
»Ein Erdbeben ist doch, als bewegte sich etwas Gewaltiges im Traum. Oder als wäre einem Riesen nicht wohl im Schlaf. Und das Erwachen ist eine neue Ordnung der Dinge in der Welt. Da wird der Mensch mit seinem Leben so klein wie der kleinste Stein im Fluss.« Dass er dennoch nicht in Vergessenheit gerät, dafür sorgt dieser erschütternde Roman, der Naturkunden und Erinnerungsroman kunstvoll miteinander verknüpft.
Eine kürzere Fassung dieses Textes ist im Freitag erschienen.
[…] begrenzter Raum«, der bereits den Bayerischen Buchpreis erhalten hat, nominiert. Dass es Titel wie Esther Kinskys bebende Erkundung der friaulischen Landschaft »Rombo« oder Friederike Gösweiners »Regenbogenweiss«, Nino Haratischwilis neues Georgien-Epos »Das […]
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[…] Tiefgreifende Erschütterungen […]
[…] Bremer, Jan Faktor, Jon Fosse, Karl-Markus Gauß, Patricia Görg, Dana Grigorcea, A. L. Kennedy, Esther Kinsky, Marie Luise Knott, Michael Kumpfmüller, Isabelle Lehn, Thomas Lehr, Michael Lentz, Katerina […]
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