Literatur, Roman

Galaktischer Krieg aus der Retorte

Welche Existenz folgt dem Menschen und wie muss man sich Sein nach der menschlichen Zivilisation vorstellen. Mit seinem neuen Roman »Die Abschaffung der Arten« schreckt der ehemalige FAZ-Feuilletonist und SPEX-Chef Dietmar Dath seine Leser mit düsterer Zukunftsmusik. Dieser viel zu wenig gelesene Roman gehört zu den Grandiositäten der deutschen Literatur. 

Es ging schon ein Raunen durch den feuilletonistischen Blätterwald, als die Jury des Deutschen Buchpreises 2008 die verbleibenden sechs Kandidaten benannte, die in die enge Auswahl zum nominal besten deutschsprachigen Roman erkoren wurden. Erfolgsromane wie Martin Walsers Ein liebender Mann, Feridun Zaimoglus Liebesbrand, Marcel Beyers Kaltenburg oder Uwe Timm’s Halbschatten überstanden die Auswahl nicht. Stattdessen war es unter fünf anderen Dietmar Daths Roman Die Abschaffung der Arten, der sich den typischen Kategorien der Literaturkritik entzieht. Ein schwieriger, ja sperriger Roman über eine kaum humanoid-natürliche Zukunft.

Umso deutlicher war dann das Aufatmen der Kritiker und Feuilletonisten zu hören, als Uwe Tellkamp mit seinem Dresdener Gesellschafts- und Wenderoman Der Turm den diesjährigen Buchpreis verliehen bekam – durchaus zu Recht. Denn im Gegensatz zu Tellkamps immer noch sehr gegenwärtigen Sujets scheint Daths Materie auf den ersten Blick dieser Welt entrückt – eo ipso ist dem natürlich auch so, aber eben nicht ausschließlich. Schon die Nominierung der »Abschaffung der Arten« in die engere Auswahl konnte das Feuilleton dem Literaturinteressierten nur schwer vermitteln. Warum sollte ausgerechnet ein Roman derartige Lorbeeren erhalten, der sich einer flüssigen Lektüre geradezu widersetzt? Nun, eine Antwort auf diese Frage haben die wenigsten gefunden. Nachstehend folgt ein weiterer Versuch.

Die Abschaffung der Arten ist eine von der ersten bis zur letzten Zeile durchkomponierte Anti-Utopie, die bei aller Faszination wohl einzig der Autor selbst in all ihren Feinheiten nachvollziehen kann. Diese finstere Zukunftsvision ist unbequem, sperrig, abstoßend, widerspenstig und verrückt – alles andere als angenehme Literatur und dies gleich auf mehreren Ebenen. Dath lässt auf den mehr als 500 Seiten ein sprachliches Feuerwerk explodieren, an dem sich ganze Jahrgänge universitärer Linguisten, Historikern, Naturwissenschaftlern und Zukunftsforschern die Zähne ausbeißen könnten. Natur- und kulturwissenschaftliche Fachtermini gehen in freien Wortkreationen – latinisiert, gräzisiert, universalisiert – auf, so dass die Grenze zwischen Wahrheit und Fantasie auf eine Weise verwischt, die selbst der kundige Leser kaum zu erkennen vermag. Einzig die Kälte der technisierten Langage macht die Grenze zwischen dem Jetzt und Daths Schreckensszenario deutlich.

Mit Dath ist ein Autor am Werk, der seine Materie kennt. Als studierter Physiker und Linguist sind ihm die Welten der Strukturen, die der menschlichen Existenz zugrunde liegen, vertraut. Wortfetzen und Lautbrocken gehen aus diesem Grund in Daths Roman noch nie gesehene Verbindungen ein, die die Regeln der Morphologie maximal dehnen und dem Dunkel der Zukunft den notwendigen Touch der möglichen Apokalypse geben. Dieser entspringt die nächste Dimension des Unbehagens bei der Lektüre des Romans. Sein Autor lässt uns auf rücksichtslose Weise in den Märchenbrunnen der Zukunft schauen und was sich dort offenbart, ist alles andere als angenehm.

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten. Suhrkamp-Verlag 2008.
552 S. 24,80 Euro. (Paperback: 9,90 Euro).­­

Mit Die Abschaffung der Arten ist Dath ein großer Wurf gelungen, der in seinen bisher erschienenen Roman schon zu erkennen war. Der 1970 geborene Autor hat eine beeindruckende Schreibkarriere hinter sich. Einst Chefredakteur der revolutionären Spex wandte er sich von dem Grenzgängermagazin ab, als es unter neuer Herausgeberschaft an die Marktverhältnisse angepasst werden sollte. Ein Prozess, den Dath selbst als unvereinbar mit seiner »konservativ marxistischen Grundhaltung« betrachtete und ging. Nach einem Jahr freier Tätigkeit wechselte er in die Feuilletonredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um dort über Wissenschaft und Technik zu philosophieren. Das Philosophieren nahm der widerspenstige Freigeist wortwörtlich, so dass schon bald Artikel erschienen, die mit Wissenschaft und Technik streng gesehen nicht mehr allzu viel zu tun hatten. Nebenher schrieb er an seinen gesellschaftskritischen Romanen Waffenwetter und Dirac sowie an dem essayistischen Briefwechsel Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit.  Darin heißt es, dass sich der Mensch in der Moderne aus egoistischen Gründen geradezu gezwungen sehen müsse, drastische Ansichten anzunehmen, »wenn die sozialen Versprechen der Moderne nicht eingelöst werden.« Drastische, scharfe Ansichten sind es auch, die den Roman Die Abschaffung der Arten prägen – drastisch im Bezug auf die Gegenwart und schonungslos deutlich hinsichtlich der Zukunft.

Wie viele Jahrhunderte oder Jahrtausende sich zwischen der Gegenwart des Lesers – im Roman als »Zeitalter der Langeweile« bezeichnet –, und der Zukunft – das Zeitalter der »Gente« – liegen, in dem der Roman seinen Ausgang nimmt, lässt sich nicht sagen. Fraglich ist vielmehr, ob dies überhaupt die richtige Kategorie ist, mit deren Hilfe man an diesen Roman herantreten sollte? Wahrscheinlich eher nicht. Welche Kategorien stattdessen passend sind, ist schwer zu sagen. Wer weiß schon, welche Klassifizierungen in einem zeiträumlichen (N)Irgendwo in einer x-beliebigen Dimension – so wie es Dath schildert – eine Rolle spielen!?

Worum geht es in dieser Fiktion? Die Gente – molekulargenetisch manipulierte, »amorphisierte« Nachfahren irdischer Lebewesen in Tiergestalt – regieren seit der »Befreiung« die Erde. Menschen existieren nur noch vereinzelt als wilde Horden in den Urwäldern oder dienen den Gente als domestizierte Sexsklaven in »umgekehrt sodomistischen Verhältnissen« – eine Art Kollateralschaden in der »besseren« Gentegesellschaft. Diese  Zivilisation lebt in drei kontinentalen Stadtgesellschaften, deren Namen Landers, Kapseits und Borbruck schon aus anderen Dath-Werken bekannt sind. Der Fortschritt der Technisierung und Wissenschaft läuft jedoch aus dem Ruder und die keramikanische Zivilisation – eine technogenetische Fortentwicklung aus Gente und Maschine – vernichtet unter der Führung des unspezifischen Wesens Katahomenleandraleal die Gentezivilisation. Deren armselige Überreste fliehen sich in einer Art »Arche Noah«-Projekt auf den Mars und die Venus. Dort versuchen sie, die Lebensbedingungen an ihre Notwendigkeiten anzupassen – es ist die Zeit des Terraforming. Der Kampf um Lebensraum bzw. Relevanz durch bloße Existenz, in dem der Mensch schon lange keine Hauptrolle mehr spielt, setzt sich in den kosmischen Dimensionen fort und führt die letzten Gente-Nachkommen schlussendlich auf das, was von der Erde übrig ist, zurück.

Ob hier Existenz tatsächlich als physisch-anatomisch aufgefasst werden muss, bleibt bis zum Schluss unklar, ebenso wie man sich die »pherinfonische Kommunikation« – den über das olfaktive System ablaufenden unmittelbaren und grenzenlosen Austausch der Gente durch Duftstoffe – vorstellen soll. Und dies sind nur zwei Beispiele der bleibenden Unklarheit. Daths Experiment erzeugt neben Anziehung auch Verwirrung. Hinzu kommt, dass er die verschiedenen Perspektiven und Erzählebenen, Zeiten und Orte in einem Schwindel erregenden Tempo wechselt. Die fantasmagorischen Kreaturen, die dabei im Mittelpunkt seines Romans stehen, machen dem Leser die Orientierung in dieser Zukunftsvision nicht leichter, so dass er manchmal durchaus den Faden verlieren kann.

Die Abschaffung der Arten ist die düstere Vision einer selbstverschuldeten, menschenleeren Zukunft, an deren Anfang der Wunsch nach ewiger Existenz und an deren Ende die Apokalypse steht. Es ist eine Mahnung gegen die Technisierung und Maschinisierung des Lebens, gegen den schöpferischen Wahnsinn der Molekurlargenetik, deren Resultate ungewiss sind und sich vielleicht eines Tages gegen die Menschheit wenden. Wenn denn erst das Zeitalter der Stärkeren und Widerstandsfähigeren begonnen hat. Für Dath ist klar, wer dann die Macht übernehmen wird: Es sind die Maschinen. Wer diesem soziohistorischen Gedanken auf den Grund gehen will, sollte sich Daths Band Maschinenwinter – Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift zur Hand nehmen, der sich wie ein soziotheoretischer Begleitband zu Daths dystopischen Roman liest. »Was kommt nach dem Menschen« fragt er darin provokant, um gleich danach zu behaupten, dass dies nur eine »humane transzendierende maschinelle Existenz« sein könne. Vielleicht sei diese Existenz auch bionischer oder pharmakologischer Natur, aber »das Ereignis müsse etwas Technisches sein«, heißt es dort. Dies allein reichte aus, um dem zivilisationskritischen Leser Schauer über den Rücken zu jagen. Liest man weiter, stößt man auf die wirkliche Katastrophe, die Dietmar Dath mit Der Abschaffung der Arten in aller Konsequenz zu Ende denkt: »Wir leben, wie wir leben, nur, weil es Maschinen gibt, aber wir leben gleichzeitig so, als könnten wir dem, was sie tun, keine Richtung geben.«

Der totale Kontrollverlust des Menschen über die Konsequenzen des eigenen Tuns wäre die natürliche Folge. Der technische Fortschritt – eine ethische Frage? Wer sagt, dass der menschlichen Zivilisation eines Tages nicht die maschinellen oder molekulargenetischen Prozesse tatsächlich aus dem Ruder laufen? Zwar ist die Vorstellung maschineller Intelligenz noch fern, doch wenn das menschliche Denkvermögen maschinisiert werden kann, ist die Schaffung maschineller Erkenntnis nicht undenkbar. Dies mag pessimistisch klingen, aber es ist möglich. Dass der Philosoph Peter Sloterdijk, bekannt als kritischer Geist der technisierten Moderne, für Daths Werk die Werbetrommel rührt und nicht ganz unbeteiligt daran war, dass der junge Autor den Lessing-Förderpreis erhielt, macht den Realismus der Dath’schen Fantasie nur einmal mehr deutlich.

Optimisten könnten nun behaupten, dass dies nur die kulturpessimistischen Gedanken eines radikalen links-konservativen Denkers seien. Doch das ist zu kurz gedacht: Selbst im bestmöglichen Fall, dass das Spiel mit den arteigenen biologischen Eigenschaften und den scheinbar Leben erleichternden technischen Errungenschaften nicht außer Kontrolle gerät und ein sorgenfreies, ewiges Leben ermöglicht, stellt sich doch die Frage, was ein solches infinites Dasein wert ist, in dem der technische Fortschritt die menschliche Existenz zunehmend delegitimiert? Worin besteht dann die Berechtigung menschlichen Seins, wenn Maschinen Maschinen steuern und dem Menschen die Arbeit abnehmen? In der finalen Kontrolle der Supramaschinen? Kehrt sich hier der Fortschritt gegen seinen Architekten?

Dietmar Dath: Maschinenwinter – Wissen, Technik, Sozialismus.
Eine Streitschrift. Suhrkamp-Verlag 2008. 130 S. 10,- Euro.

Nach der Lektüre von Daths Werks bleiben weitere Fragen: Inwiefern erhält sich die Menschheit ein Bewusstsein ihrer Existenz, wenn sie nichts mehr von dem kennt, das ihre Geschichtsbücher füllt? Wenn es keine Zeugen gelebter Kulturhistorie mehr gibt, weil der Generationenbegriff aufgrund der Unendlichkeit des Seins obsolet geworden ist? Welche Relevanz hat Kultur noch, wenn sie nur noch historisch-lexikalischer Ballast ist und nichts mehr mit menschheitsgeschichtlicher Verankerung oder Distanzierung gemein hat? Die Äonisierung des menschlichen Lebens als Vorspiel zur Dekultivierung und Entzivilisierung? Nun, die Optimisten müssen erst gefunden werden, die auf diese Fragen passende Antworten finden.

Dath bemüht auch ganz gegenwärtige Probleme und Fragen, auf die er die Nachfolgegeneration zurückblicken lässt. Die dystopische Zukunftsvision als Gesellschaftskritik der Gegenwart – ein bekanntes Mittel in der Geschichte der Sozialutopie und folgerichtig für den politischen Literaten Dath. Er steht damit in der klassischen Tradition der utopistischen Literatur, angefangen bei Platons positivistischer Politeia, Thomas Morus’ Utopia oder Tommaso Campanellas Civitas Solis bis hin zu den pessimistischen Zukunftsvisionären George Orwell mit 1984, Aldous Huxleys Schöner neuer Welt oder Jewgeni Samjatins Wir. Daths Nihilisierung aller raumzeitlichen Kategorien schafft den »Nicht-Ort«, dieses »Nirgendwo«, in dem die genannten Utopisten ihre Visionen und Anti-Visionen angesiedelt haben. An diese angelehnt ist auch die Entkopplung der Sexualität in Die Abschaffung der Arten von der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität. Rein sprachlich steht diese Anti-Zukunft mit ihren sonderbaren und außergewöhnlichen Wortgenesen dem Orwell’schen Neusprech-Experiment am nächsten und will so auch auf der artikulatorischen Ebene eine dystopische Unzeit schaffen. Ein Verharren in den heutigen Sprachmustern hätte das Wesen des Romans in atavistischer Manier untergraben.

In diesem Verständnis ist Dietmar Daths Zukunftsroman bei aller Verwirrung ein ebenso genialer wie verstörender literarischer Wurf. Er ist einfallsreich, wagemutig und konsequent. Dath verzichtete zugunsten der erzählerischen Stringenz auf das umfassende Verständnis seiner Leser – und auch seiner Kritiker. Die Abschaffung der Arten geht weit über den Status Quo des weithin bekannten Weltwissens hinaus, spielt mit Möglichkeiten und Eventualitäten und spinnt sie faszinierend-verwirrend kongenial weiter. Dath macht sich mit diesem Roman einmal mehr zum Grenzgänger par excellence, wandelnd zwischen Wahrheit und Dichtung, Klamauk und Realität, Wissenschaft und Kunst.

Bei allem Durcheinander ist Daths politische Sicht hinter den Dingen eine höchst Faszinierende. Wenn Friedrich Nietzsche seinem Zarathustra in dem Mund legt, dass man noch Chaos in sich haben müsse, »um einen tanzenden Stern gebären zu können«, ist kaum etwas passender, als die für den erst 38-jährigen Dath. Denn auch wenn Die Abschaffung der Arten in seiner intellektuellen Arroganz und Kaltblütigkeit verschreckt, ist es doch beruhigend zu wissen, dass es noch Autoren gibt, die über das Hier und Jetzt hinausgehen und in scharfer Kritik gegen die sie umgebenden Umstände anschreiben. Dieser Roman hätte daher trotz aller Schwächen und Unzulänglichkeiten ebenso gut den Deutschen Buchpreis erhalten können, es wäre wahrscheinlich sogar die mutigere Entscheidung gewesen. Tellkamps Turm unterliegend geriet Daths biopolitischer Anti-Gesellschaftsentwurf leider in den hinteren Regalfächern der Buchhandlungen und ist bis heute eine der verkanntesten Grandiositäten deutscher Literatur. Dieser Roman hätte eine gesellschaftliche Debatte anstoßen können, die die Maschinisierung des Alltags im Namen der Effektivität und maximalen Gewinnbringung rechtzeitig hätte hinterfragen können.

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