Marco Ferreri gilt neben Luis Buñuel als siner der wichtigsten spanischen Regisseure seiner Zeit. Sein mit Stars besetzter Skandalfilm »Das große Fressen«, den er selbst lieber »Essen, Lieben, Scheißen, Sterben« genannt hätte, liegt nun in digitalisierter Form vor.
1972 war ein Katastrophenjahr für das französische Kino in Cannes, die Kritiker schimpften es als mittelmäßig und inspirationslos. Unter dem Vorsitz von Ingrid Bergmann entschied sich die Festivaljury im Jahr darauf für die Flucht nach vorn und lud mit Jean Eustaches Die Mama und die Hure, René Laloux’ Der phantastische Planet und Marco Ferreris Das große Fressen drei französische Filme ein, deren Macher viel wagten. Auch wenn alle drei ausgezeichnet wurden, blieb vor allem Ferreris Film in Erinnerung, weil er für einen der größten Skandale in der Festivalgeschichte gesorgt hat. Auf der einen Seite hagelte es nach der Aufführung empörte Kritik. Der Film sei »obszön« und »vulgär«, »das Werk eines Kranken« und »mache Lust zu kotzen« hieß es in den französischen Zeitungen. Zuschauer griffen die Crew in Cannes an, die unter Polizeischutz gestellt wurde, oder prügelten sich mit von dem Film begeisterten Kinogängern. Die ausländische Fachwelt feierte den Italiener für seinen Wagemut, mit dem er der westlichen Konsumgesellschaft in dieser bissig-düsteren Satire den Spiegel vorhielt, und zeichnete den Film mit dem Preis der internationalen Kritik aus. Auch aufgrund der Kontroverse ist „Das große Fressen“ ein fester Bestandteil im Kanon der ewigen Filmklassiker.
Der Film erzählt von vier des Lebens überdrüssigen Freunden, die alles haben (können) und deshalb ihrem Dasein ein Ende setzen wollen. Der Tod ist der letzte und einzige Höhepunkt in einer sorgenfreien und flachen Welt. Und weil diese bekanntlich nobel zugrunde geht, decken sich der liebestolle Pilot Marcello (Mastroiani), der androgyne Tänzer Michel (Piccoli), der Rechtsanwalt Philippe (Noiret) sowie der Gourmet Ugo (Tognazzi) mit Delikatessen und Luxusgütern aller Art ein, um sich kollektiv zu Tode zu fressen. Die schlüpfrigen Schwarzweißfotos, die am ersten Abend als Augenschmaus begleitend an die Wand geworfen werden, wecken die fleischlichen Gelüste, weshalb sich die vier lebensmüden Herren Prostituierte kommen lassen. Dazu gesellt sich die dralle Lehrerin Andréa (Ferréol), die in ihrer physischen Präsenz dem Überfluss eine Gestalt verleiht (sie musste für den Film 20 Kilogramm zunehmen) und der hedonistischen Orgie bis zum Ende beiwohnen wird.
Anfangs ist Das große Fressen ein überbordendes Fest der Sinne, bei dem die vier männlichen Protagonisten vor allem ihre fleischliche Lust in allen Spielarten befriedigen. Doch mit jeder Minute schlägt der Film in ein zynisches Selbstvernichtungsprogramm durch Völlerei um, die allem Vergnügen den Boden ausschlägt. Dazu trägt auch das Ensemble bei, in dem neben den männlichen Stars der Zeit die damals völlig unbekannte Andréa Ferréol – die später mit Rainer Werner Fassbinder, François Truffaut und Peter Greenaway arbeiten sollte – als moderne femme fatale überzeugt. Sie scheint die einzige, die ein Vergnügen an dem zynischen Treiben in dem Haus findet und einen Nutzen daraus zieht.
Schlussendlich aber läuft der Film auf die Perversion all jener Aspekte des Lebens heraus, die Lust verschaffen. Das Essen ist dabei nur eine Möglichkeit, Ferreri stellt es als Gesellschaftskritik ins Zentrum seines Filmes. »Es ist gut, aber ich kriege es nicht runter«, stöhnt selbst die lebensfrohe Andréa nach zwei Tagen des Fressens, als Ugo seinen Schicksalsgenossen einen Dom aus Gänseleberpastete vorsetzt. »Aber gegessen werden muss es«, antwortet dieser ebenso wütend wie enttäuscht, bevor er beginnt, die Massen in sich hineinzustopfen. Denn das Motto der Zusammenkunft ist schlicht und lautet: »Du stirbst nicht, wenn du nicht frisst!«
Die Übertreibung der Kritik an einer hedonistischen Lebensauffassung führt dazu, dass alles Lustvolle und Lustschaffende zum Selbstzweck verkommt und den Hedonismus ad absurdum führt. Die (vor allem französische) Kultur des Essens wird zur Völlerei, die nur noch dem Ziel der Vernichtung der Kultur dient. Der Tod wird zum letzten »lustvollen« Moment deklariert, weil der Überfluss jede Lust schon im Kein erstickt. Dies findet seinen filmischen Höhepunkt in der Szene, in der sich Ugo auf dem Küchentisch liegend von Philippe stopfen lässt, während Andréa ihn mit der Hand befriedigt.
Die Kamera bildet all das in überbordenden Tableaus ab und fängt die zur Schau gestellte Dekadenz perfekt ein. Die renommierten französischen Cahiers du cinéma sehen in Das große Fressen den Schlusspunkt einer »Trilogie der Verschlimmerung«, zu der auch Bernardo Bertoluccis Der letzte Tango in Paris und Jean Eustaches Die Mama und die Hure gehören. Ferreris Skandalfilm ist ein fulminanter Abgesang auf die westliche Überflussgesellschaft, der in mächtigen Flatulenz-Crescendi seine orchestrale Begleitung findet. Das kann man in seiner expliziten Zurschaustellung pervers finden. Die Dekadenz der kapitalistischen Überflussgesellschaft ist es nicht minder.
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