Comic

Papa Was A Rolling Zuckerwürfel

Der Münchener Comiczeichner Uli Oesterle erzählt in »Vatermilch« eine fulminante Münchhausen-Story aus den siebziger Jahren. Zuvor mit dem renommierten Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichnet, ist nun der vielversprechende erste von vier geplanten Bänden erschienen.

Vier Damen brechen Rufus Himmelstoss das Genick, ohne dass er es merkt. Denn seine Aufmerksamkeit ist nicht am Pokertisch, an dem er sitzt, sondern noch bei den vier Kundinnen, die der fliegende Händler im Laufe des Tages flachgelegt hat. Es ist aber das Damen-Quartett auf der Hand seines Chefs, das sein Full House schlagen und seine Spielschulden ins Unermeßliche treiben. Zugleich flattert ein Brief der Steuerbehörde mit einer fetten Forderung ins Haus, was dazu führt, dass er von seinem »Zuckerwürfel« aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen wird. Was Rufus Himmelstoss aber nicht daran hindert, immer noch so zu tun, als hätte er alles unter Kontrolle. Doch der Stein, der ihn unaufhaltsam dem Abgrund entgegen schieben wird, ist längst ins Rollen gebracht. Er wird ihn erst aus der legendären Münchener Disko »Yellow Submarine« und dann auf einer regennassen Straße endgültig aus den Bahnen seines geordnet-ungeordneten Lebens schieben. Zurück bleibt der siebenjährige Victor, dessen Vater von einem Moment auf den anderen verschwindet.

Victor Himmelstoss könnte auch Uli Oesterle heißen, der sich in seinem auf vier Bände angelegten Memoir »Vatermilch« mit der Geschichte seines Vaters und dem Trauma seines Verschwindens auseinandersetzt. 1973 verließ Peter Oesterle Frau und Sohn für eine jüngere Geliebte. »Der Weggang meines Vaters war ein schwerer Schlag für mich. Der, den ich liebte, ging und ließ mich mit meiner Mutter allein«, erzählt der 54-jährige Zeichner, als wir uns im April über seinen Comic austauschen. Zwei Jahre sehen sie sich noch sporadisch, dann bricht der Kontakt ab. »Ich erinnere mich an Wochenende, die wir im Kino verbrachten. Während mein Vater neben mir in den weichen, dunkelroten Rundungen des Kinosessels seinen Rausch ausschlief, sah ich Bud Spencer und Terence Hill dabei zu, wie sie Komparsen vermöbelten. Für mich gehören diese zwei Jahre zu den schönsten Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe«, schreibt Oesterle im Nachwort des ersten Bandes von »Vatermilch«, der in diesen Tagen erscheint.

Aus dem Vater wird »der Samenspender«, von dessen Verbleib niemand etwas genaues wusste, erinnert sich Oesterle. »Mal hat man gehört, er wäre im Gartenhäuschen von alten Freunden aufgetaucht, dann hieß es, er wäre obdachlos. Eine zeitlang soll er in irgendeiner Firma Kühlschränke entsorgt haben. Gerüchte eben. Dass er Alkoholiker war, wussten wir.«

Kurz nachdem Oesterles viel gelobter Comic »Hector Umbra« in Deutschland erschien, stirbt der Vater im Pflegeheim. Der Zeichner erfährt, dass sein Vater am Korsakow-Syndrom gelitten hat, eine Art Gedächtnisverlust, der oft nach jahrelangem Alkoholmissbrauch auftritt. »Typisch für diese Krankheit ist, dass die Betroffenen ihr Leben komplett frei erfinden, bis ins geringste Detail«, erklärt er. Als er zwei Jahre nach dem Tod des Vaters beschließt, aus dem rätselhaften Leben des Vaters einen Comic zu machen, macht er sich das zu nutze. Er erfindet eine Geschichte, die plausibel macht, wie sein Vater einfach so verschwinden konnte.

Oesterle hat diese Erzählung mit liebevollen Details ausgeschmückt, Design, Mode, Architektur und Musik spiegeln die flirrenden 70er Jahre. Die Zeichnungen tragen sich selbst, nur selten heben Konturen sie vom Hintergrund ab. Mit wenigen Farben gibt er dieser durch Zeiten und Orte fliegenden Erzählung Struktur. Bei der Figurenentwicklung hat er sich an Serien wie den »Sopranos« orientiert, wo Charaktere über ganze Staffeln hinweg aufgebaut werden und man beginnt, mit den Figuren zu fühlen. Für die Entwicklung der Vaterfigur stand ihm der Song »Papa was a Rolling Stone« von den Temptations Pate. Darin heißt es: »Papa never was much on thinking, spent most of his time chasing women and drinking.« Eine Zeile, die das Leben des Rufus Himmelstoss auf den Punkt bringt.

Uli Oesterle: Vatermilch. Die Irrfahrten des Rufus Himmelstoss. Carlsen Verlag 2020. 128 Seiten. 20,00 Euro. Hier bestellen

Er habe aus seinem Vater im Comic »einen besseren Menschen gemacht als er wirklich war. Irgendwie menschlicher. Vielleicht hat mir das meinen Vater insofern zurückgebracht, als dass ich so einfach meinen Frieden damit gemacht hab«, räumt der Zeichner ein. Wie das halt so manchmal ist. Der Geschichte schadet das nicht, ganz im Gegenteil. Die Erzählung ist trotz ernster Themen federleicht und hebt schon im ersten Band ab. Vatermilch« ist zweifelsohne der deutschsprachige Comic in der diesjährigen Saison.

Seinen Frieden machen muss auch Victor Himmelstoss, der mit seinem Dasein als Vater und Comiczeichner hadert. Dessen Geschichte stellt Oesterle der Vaterlegende gegenüber. Ähnlichkeiten zu lebenden Comiczeichnern sind keineswegs Zufall. Er nutzt das Projekt, um sein eigenes Verhalten als Vater zu reflektieren. Denn er will sich nicht wie sein fiktiver Zeichner in der Situation wiederfinden, sich zwischen Kunst und Familie entscheiden zu müssen. »Victor läuft Gefahr, einen ähnlichen Weg einzuschlagen wie sein Vater, nur eben nicht auf so eine ganz abgefuckte Art und Weise.« Ob er das abwenden kann und wenn ja, wie, wird man in den noch kommenden drei Bänden erfahren.

Und auch, ob es ihm gelingt, wie Alan Moore in »Watchmen« eine Geschichte in der Geschichte zu erzählen. Das war ursprünglich sein Plan, aber »für den ersten Band zu kompliziert. Vielleicht klappt es ja in Band zwei, drei oder vier, wir werden sehen.« Genau, spätestens 2025 wissen wir mehr. Denn bis dahin will Oesterle sein Opus Magnum abschließen.

Eine kürzere Fassung dieses Porträts ist im Rolling Stone 6/2020 erschienen.