Montserrat Roig erzählt in ihrer Barcelona-Trilogie von Frauen auf der Suche nach ihrer Identität. In ihrem Hohelied auf die katalanische Selbstbehauptung zeigt die 1991 verstorbene Autorin eine Stadt, die unter der Geschichte tanzt und taumelt und erzählt von Frauen, die in Extremsituationen über sich hinauswachsen.
Mundeta ist ein Phänomen. Sie ist eine romantische Träumerin und hellwache Realistin, konservative Aristokratin und linke Anarchistin, biedere Ehefrau und begehrenswerte Femme Fatale, in sich gekehrt und doch voller Worte, satt von den Verhältnissen und hungrig nach Leben. Sie ist Literatin, Cineastin und Flaneuse, flext sehend durch die Straßen Barcelonas, wie sie suchend durch die Geschichte eines Jahrhunderts fliegt. Im Fin de Siécle ist sie ebenso zuhause wie in den Sechzigern, hat die Ausrufung der spanischen Republik miterlebt und wurde Zeugin ihrer Zerschlagung durch das faschistische Franco-Regime.
Mundeta begegnet uns als »ich«, »du« und »sie«, ganz unvermittelt wechselt die Perspektive zwischen den Seiten und Absätzen, ohne dass man das verlässlich daran festmachen könnte, wer sich da Gehör verschafft. Es sprechen die Großmutter, die Mutter und die Tochter der Familie Ventura, die zur gehobenen Schicht der Stadt gehört. Drei Frauen aus drei Generationen, die in Montserrat Roigs Roman von ihrem Ringen nach Liebe und Anerkennung in wechselhaften Zeiten berichten.
Die Erzählung beginnt in expressiven und zum Teil grauenhaften Bildern, die an Künstler wie John Heartfield oder George Grosz denken lassen. Sie lenken den Blick auf die stinkenden Müllberge in den Straßen von Barcelona, in denen hungernde Menschen verzweifelt nach Essbarem wühlen. Sie führen mit dem Geheul der Krankenwagen zum Teatro Coliseum im Zentrum der Stadt, wo es im Frühjahr 1937 zu einer verheerenden Explosion kam. »Als hätte Gott zwei schallende Ohrfeigen verteilt. Flammen, Geschrei, Gestöhn, Gejammer und Menschen, die sich an Trümmer klammerten, Arme, die inmitten der Ruinen winkten, und Tote.«
Die Welt, die die 1946 in Barcelona geborene Autorin hier zeichnet, ist selten von handelnden Frauenfiguren bewohnt. In der Literaturgeschichte sind es meistens Männer, die dystopische Kriegslandschaften durchstreifen. Frauen sind oft nur Staffage oder passive Opfer männlicher Gewalt. Hier ist das anders. Das schwarze Loch, das die Explosion hinterlassen hat, führt die Leser:innen mit Mundeta direkt in den Abgrund des Spanischen Bürgerkrieges.
In dessen Chaos sucht die Mundeta der zweiten Generation nach ihrem Mann Joan Claret, der in der Nähe des Theaters verabredet war. Ihr Weg führt sie zum Universitätskrankenhaus in die Leichenhalle, wo zahlreiche nicht identifizierte Menschen aufgebahrt waren. Als sie den Mut fasst und unter eine der Decken schaut, springt ihr das Grauen ins Gesicht. »Der Mann hatte kein Gesicht mehr. Da war nur noch ein gallertartiger Klumpen. Neben ihm lag ein Mädchen, winzig wie ein Püppchen, in einer kleinen Kiste. Ihre Augen waren nicht weit aufgerissen wie die des Mannes, sie hatte kein Loch in der Stirn, keine zwei Zähne, aggressive, regungslose Zähne, die über ihre Oberlippe ragten, ihr Mund war nicht in einer Grimasse des Entsetzens aufgerissen.«
Ein anderer Mann, der in der Klinik die Leiche seines Neffen gefunden hat, ahnt schon, welche Folgen all das haben wird. »Der Krieg wird uns zeitlebens nicht mehr loslassen, die Erinnerung wird uns auffressen wie ein Wurm, uns, unsere Kinder und womöglich noch unsere Enkel«, sagt er schmerzverzehrt zu Mundeta. »Viele Jahre werden vergehen, ehe die Menschen hierzulande vergessen, was geschehen ist.«
Wie aber vergessen, wenn sich die Geschichte in jede Familie einschreibt? Und wäre aus der Geschichte lernen nicht viel besser, als sie zu vergessen? Solche Fragen stellen sich unterschwellig beim Lesen der Geschichten der drei Frauen ein. Wenngleich sich das als nicht so leicht erweist, weil Perspektiven und Zeiten permanent wechseln. So braucht man eine Weile, bis man sich in diesen Erzählstrom einhört, der sich aus den Quellen der drei Lebensgeschichten speist, die sich zu einer universalen Geschichte über die Position der Frauen in Barcelona im 20. Jahrhundert vereinen. Darin klingt auch der feministische Furor an, auf den man auch in Cristina Morales Roman »Leichte Sprache« stößt.
»Die Frauen vom Café Núria« ist der Auftakt einer Trilogie, die die Schriftstellerin und Journalistin Montserrat Roig in den Siebzigern verfasst hat. Darin geht die 1991 in Barcelona verstorbene Autorin den Schicksalen einer Handvoll Frauenfiguren in zwei verheirateten Familiendynastien nach. Dabei taucht man in die Geschichte der katalanischen Metropole ein. Die legendäre Noblesse in den gehobenen Vierteln im ausgehenden 19. Jahrhundert, das kulturelle Amüsement der Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre, das apokalyptische Chaos des Bürgerkriegs und die revolutionären Umbrüche während der Studentenunruhen – all das wird in diesem Roman vor Augen geführt, den man auch als Hohelied auf die katalanische Selbstbehauptung lesen muss. Auch deshalb lobt selbst der katalanische Fußballtrainer Pep Guardiola die Literatur seiner Landsfrau.
Roig zeigt eine Stadt, die unter der Geschichte tanzt und taumelt, und die aller Wandlungen zum Trotz immer geliebt-gehasste Heimat bleibt. Das titelgebende Café Núria ist der Ort, an dem die Figuren in diesem Roman bei einer dickflüssigen Schokolade zusammenkommen.
Der erste Band der Trilogie ist aber vor allem als feministisches Buch zu lesen, weniger im Sinne einer Vorbildwirkung der Figuren als vielmehr als Nachdenken darüber, wie ein Lernen aus den Erfahrungen der Vorfahren über die Generationenkonflikte hinweg möglich ist. Denn so unterschiedlich die Wege sind, die die drei Mundetas beschreiten, so gleichbleibend ist der Rahmen, in dem sie sich bewegen. Ihr Leben findet in einer Abhängigkeit von einem Mann statt – finanziell, standesgemäß oder emotional. Zugleich wird in ihnen der Ruf nach Selbstbestimmung immer lauter. Dabei erweist sich der goldene Käfig ihrer Herkunft als Mausefalle, der sie heimlich zu entkommen versuchen.
Montserrat Roig erzählt die universelle Geschichte weiblicher Selbsterfahrung in einer männerdominierten Welt, die sich in den Generationen in anderer Gestalt wiederholt. Doch statt miteinander zu sprechen und in den Dialog zu gehen, ziehen sich die drei Frauen in sich selbst zurück. Jede bleibt mit ihren Traumata – Einsamkeit, Betrug, Verlust, Gewalt – allein. Der Weg von der Frau, der sie sein sollen, zu der Frau, die sie sein wollen, mag sich ändern, weniger steinig wird er nicht. Einsam bleiben sie in ihrer Selbstbehauptung, getragen von ihrer Eigenschaft, in Extremsituationen über sich hinauszuwachsen.
Die ständigen Wechsel zwischen personaler und auktorialer Perspektive sind allerdings herausfordernd, auch weil die Stimmen der drei Frauen in dem von Ursula Bachhausen und Kirsten Brandt übersetzten Text recht ähnlich klingen. Hinter der erzählerischen Herangehensweise aber verbirgt sich vermutlich die für damalige Verhältnisse (der Roman ist 1972 erschienen!) höchst moderne Absicht, das Dasein von Frauen gleichermaßen von innen wie von außen zu beleuchten. Das, was die Gesellschaft an objektiven Erwartungen an Frauen heranträgt, kommt so ebenso zur Geltung wie die subjektiven Ansprüche, Hoffnungen und Ängste. Die Diskrepanz zwischen beidem waren damals nicht kleiner als heute.
Eine kürzere Fassung dieses Textes erschien am 27. Februar 2024 in der taz.