Film

Dreiste Behauptungen statt nüchterne Beweise

Ilker Çataks Spielfilm »Das Lehrerzimmer« zeigt, was auf der menschlichen Ebene im Schulsystem schief gehen kann. Sein Film erzählt die Geschichte eines dunklen Verdachts und seiner Eskalation. Leonie Benesch beeindruckt dabei als Lehrerin mit Idealen, die sich mehr als nur eine Schramme einfängt.

Das deutsche Schulsystem ist zum Schreien – auch und erst Recht in Ilker Çataks Spielfilm »Das Lehrerzimmer«, der zur Überraschung vieler bei den Deutschen Filmpreisen Oscar-Gewinner »Im Westen nichts Neues« von Edward Berger in den wichtigsten Kategorien (Bester Spielfilm, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Bester Schnitt, Beste Weibliche Hauptrolle) auf die Plätze verwiesen hat. Im Mittelpunkt des Films steht die junge und engagierte Sport- und Mathematik-Lehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch), die an einem Gymnasium irgendwo in Deutschland mutmaßlich ihren ersten Job angetreten hat. Sie ist auch die Klassenlehrerin einer 7. Klasse, in der Oskar (Leonard Stettnisch), der Sohn von Schulsekretärin Friederike Kuhn (Eva Löbau), herausragt. Es ist etwas befremdlich, wenn man die Guten-Morgen- und Schweigefuchs-Klatsch-Rituale zu beginn sieht, weil die Schüler:innen dafür schon zu alt wirken, aber gut, wer weiß. Später ist man klüger, als ihr einer ihrer Schüler ins Gesicht zusagt, dass die Klasse diesen Kleinkinderkram nur ihr zuliebe mitmache.

Was wie eine Ohrfeige klingt, ist im System Schule ein Lob, denn wenn eine Klasse etwas nur für ihre Klassenlehrerin tut, dann spricht das für die Lehrerin und ein aufgeräumtes Lehrer-Schüler:innen-Verhältnis. Das gerät hier gleich zu Beginn aus den Fugen, denn die beiden Klassensprecher:innen werden von drei Lehrkräften ins Kreuzverhör genommen, weil Geld verschwunden ist. In der Schule wird geklaut, schon eine ganze Weile, wie wir in einem Nebensatz erfahren, und die Mittel, zu denen man greift, sind, nun ja, unkonventionell.

Es gilt eine Null-Toleranz-Politik, weshalb jedem Verdacht auf den Grund gegangen wird. Carlas Klassensprecher:innen sind keineswegs verdächtig, sollen aber Verdachtsmomente liefern. Als sie deutlich machen, dass sie niemanden verpfeifen wollen, legt ihnen unter den Augen der irritierten Carla ein Lehrer (Michael Klammer) das Klassenbuch vor und fährt mit seinem Stift die Namensliste entlang. Sie müssten nichts sagen, ihm nur einen Blick schenken, wenn er am Namen des möglichen Diebes entlangfahre. Dass diese Strategie auch aufgrund der Intervention von Carla nicht aufgeht, wird deutlich, als kurz darauf die Portemonnaies der ganzen Klasse gefilzt werden. Das Ganze sei freiwillig, betont die resolute Direktorin, »aber wer nichts zu verbergen hat, der braucht auch nichts zu befürchten.« George Orwell lässt grüßen.

Leonie Benesch als Carla Nowak vor ihrer 7. Klasse | Judith Kaufmann

Schule ist ein komplexes System und wie jedes andere System braucht auch dieses Regeln. Wie diese aus dem Ruder laufen und zum Instrument gegen jene werden, für die sie eigentlich gemacht sind, zeigt Ilker Çataks Film eindrucksvoll. Leonie Benesch brilliert in dieser Rolle als idealistische Lehrerin, deren Anliegen es ist, ihren Schüler:innen Orientierung fürs Leben zu geben. »Das Wichtigste, was ihr verstehen müsst, ist, dass ein Beweis immer eine Herleitung braucht«, erklärt Carla gleich zu Beginn in ihrem Unterricht. Am Ton wird deutlich, dass es ihr um mehr geht als nur um eine Matheaufgabe.

Das Problem an dieser Schule nur sind die Beweise beziehungsweise der Weg der Wahrheitsfindung. Herleitungen braucht es hier nicht, es reicht die Behauptung. Zunächst wird nämlich Ali verdächtigt, weil er mehr Geld als die anderen im Portemonnaie hat. Seine Eltern werden einbestellt, schnell wird deutlich, dass er es wohl nicht gewesen ist. Der latente Rassismus und dessen denunziative Kraft haben da längst ihre Wirkung entfaltet.

Leonie Benesch als Carla Nowak im Lehrerzimmer | Judith Kaufmann

Vorurteile, Denunziation, Verdächtigungen und Angst sind der Stoff, aus dem Thriller gemacht werden. Çataks Film ist quasi ein Schulthriller, in dem sich alles im Kreis bewegt und der Rhythmus gezupfter Geigentöne die Harmonie schon auf der Tonspur untergräbt. In vielen kleinen Szenen zeigt der Film, wie Carlas Zweifel an der Schuld ihrer Schüler:innen wachsen. Im Lehrerzimmer beobachtet sie, wie sich eine Kollegin in einem vermeintlich unbeobachteten Moment an der Kaffeekasse bedient. Sind es vielleicht die Lehrkräfte, die hier klauen? Während einer Sportstunde lässt sie ihr Portemonnaie in ihrer Jacke über dem Stuhl im Lehrerzimmer, davor ihr aufgeklappter Laptop mit eingeschalteter Kamera. Natürlich fehlt nach der Stunde Geld, die Schulsekretärin gerät in Verdacht. Als Carla dies im direkten Gespräch klären will, eskaliert die Situation. Die Sekretärin wird beurlaubt, ihr Sohn zu Carlas ärgstem Widersacher und Carla selbst Opfer ihrer Aufrichtigkeit. Denn sowohl im Lehrerzimmer als auch in der Schülerschaft wachsen die Vorbehalte gegen sie. Ein Elternabend wird zum Hexenprozess.

Leonie Benesch als Carla Nowak im Gespräch mit zwei ihrer Schüler:innen | © Judith Kaufmann / Alamode Film

Der Mikrokosmos Schule, dessen gleichermaßen offene wie begrenzende Architektur Judith Kaufmann (»Corsage«) in tollen Bildern einfängt, wird hier als Organismus gezeigt, der mit den gleichen problematischen Strukturen zu kämpfen hat wie unsere Gesellschaft. Darum ging es auch Regisseur Ilker Çatak, der die Schule als modellhaftes Abziehbild der Gesellschaft sieht. »Es gibt das Staatsoberhaupt, Minister:innen, ein Presseorgan, das Volk…«, in der man sich, je nachdem, welche Rolle man innehat, »die Wahrheit zurechtlegt«. Fake News, Cancel Culture oder die Sehnsucht nach einem Sündenbock, dem man alles in die Schuhe schieben kann (meist das schwächste Glied in der Kette), werden hier deutlich.

Leonie Benesch, bekannt aus ihrer Rolle als Greta Overbeck in »Babylon Berlin« oder Prinzessin Cecile in »The Crown« und zuletzt als Charlie Wagner in der missglückten Verfilmung von Frank Schätzings »Der Schwarm« zu sehen, wirkt die Rolle der jungen Lehrerin wie auf den Leib geschrieben. Man nimmt ihr diese Figur ohne den geringsten Zweifel ab. Ihrem Gesicht ist jede Regung abzulesen, die sanfte Strenge und wache Offenheit gegenüber ihren Schüler:innen, die ebenso irritierte wie resolute Empörung im Kollegium und die innere Verstörung über die Fallstricke, über die sie im Laufe des Films stolpern wird. Die Energie, die von dieser bewundernswert unperfekten Figur ausgeht, wünscht man sich für das System, in dem sie sich bewegt.

Eva Löbau als Mutter und Schulsekretärin Friederike Kuhn | Judith Kaufmann

Der Film konzentriert sich auf die Regeln in diesem System und hält sich nicht mit der Psychologie seiner Figuren auf. Es gibt hier keine einfachen Täter und Opfer, sondern alle – Lehrkräfte, Schüler:innen, Eltern – stolpern mehr oder weniger aktiv von einer Rolle in die nächste, sind mal das eine, dann wieder das andere. Indem Çatak und sein Drehbuchautor Johannes Duncker, die auch schon bei dem ungewöhnlichen Liebesfilm »Es gilt das gesprochene Wort« zusammengearbeitet haben, die unterschiedlichen Abhängigkeiten und die sich vollziehenden Dynamiken aufzeigen, bilden sie auch den permanenten Druck ab, der in diesem System auf Lehrkräften wie Carla Nowak oder Schüler:innen wie Oskar ruht. »Das Lehrerzimmer« zeigt Schule als einen Ort, in dem nie Ruhe einkehrt und zugleich permanent Ruhe gewahrt werden müsste. In dem es Freiheiten geben kann, wenn Vertrauen herrscht. Gerät dies aber erst einmal abhanden, stehen am Ende alle im Regen.

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