Der britische Illustrator Stephen Collins erzählt in seinem Comic »Der gigantische Bart, der böse war« die kafkaeske Geschichte von einer aufgeräumten Gesellschaft, die von einem ausufernden Bartwuchs ins Chaos gestürzt wird. Eine grandiose Allegorie auf die britischen Verhältnisse der Gegenwart.
Seahaven heißt die komplett von Wasser umgebene Stadt, die der Produzent der Truman-Show in Peter Weirs gleichnamigem Spielfilm hat bauen lassen, um das Leben des Versicherungsangestellten Truman Burbank als Live-Fernsehshow zu dokumentieren. Truman selbst ahnt von der Kulissenhaftigkeit seines Daseins lange Zeit nichts. Zwar kommt ihm die sich nie verändernde Grundordnung seines Daseins seltsam vor, aber erst ein Scheinwerfer, der von der die Stadt umgebenden Kuppel herabfällt, lässt den Angestellten misstrauisch und schließlich rebellisch werden, bis er ausbricht.
Der Engländer Illustrator Stephen Collins hat mit Der gigantische Bart, der böse war eine Geschichte geschrieben, die stark an Weirds Truman-Show erinnert. Er erzählt darin von dem Angestellten Dave, der in der überreglementierten Inselstadt HIER lebt. In HIER sind nicht nur nachts alle Katzen grau, sondern auch am Tag. Die Straßen und Häuser gleichen sich bis ins letzte Detail, Bäume, Hecken und Wiesen, ja sogar die Haare ihrer Bewohner, sind auf eine normierte Form gestutzt. Die Menschen gehen, die gleiche Kleidung tragend, mit gesenkten Häuptern – auf ihre iPhones und Blackberrys starrend – aneinander vorbei. In HIER ist alles »von einer tadellosen, unglaublichen Aufgeräumtheit«, selbst die Silhouette der Stadt war – egal ob von außen oder von oben betrachtet – in alle Richtungen einheitlich. Einzig die äußersten Häuserreihen am Rand der Insel sind besonders. Sie haben keine Fenster zur Meerseite, denn hinter ihnen kommt das »große dunkle Tief«, dann die furchterregende See, der Rand der See und dahinter kommt nur noch DORT. DORT war ein völlig unbekannter Ort, an dem nie jemand war. Aber es gibt die Geschichte des Fischersohnes, der sich aufmachte nach DORT und den die Dunkelheit verschlang. »Es heißt, DORT brachte ihn durcheinander, verschlang und entgrenzte ihn, vermischte seine rechte Seite mit seiner linken, sein Inneres mit seinem Äußeren, seine Vergangenheit mit seiner Gegenwart mit seiner Zukunft. Bis er sich in nichts auflöste.« So wird es zumindest berichtet, genau weiß es natürlich niemand. Aber dieses Gruselmärchen reicht aus, um allen Einwohnern von HIER eine ausreichend abschreckende Vorstellung von DORT zu geben: »DORT war Unordnung. DORT war Chaos. DORT war das Böse.«
Schon auf den ersten Seiten von Stephen Collins famosem Comic wird deutlich, dass diese Geschichte eine Allegorie auf die gegenwärtigen Verhältnisse auf der britischen Insel ist. Die immer gleichen Straßenzüge von Seahaven erinnern an so manche Londoner Vorstadt, das Einheitsgrau der Bewohner von HIER lassen an die gegenwärtige britische Sehnsucht nach Gleichartigkeit angesichts der empfundenen Überfremdung denken – wenngleich hier auch Erinnerungen an die grauen Männer aus Michael Endes Momo wach werden. Die Angst vor dem Fremden ist ein drängendes Thema, mit dem sich auch Isabell Greenberg in ihrer eindrucksvollen Enzyklopädie der frühen Erde auseinandersetzt. Dass sowohl Collins als auch Greenberg den Jonathan Cape/Observer Graphic Short Story Price mit Auszügen ihrer aktuellen Comics gewonnen haben, belegt die Sensibilität der britischen Intellektuellen für die Unruhe in ihrer Heimat.
»Unreine Träume« sind es, die Dave nicht schlafen lassen. Während er tagsüber als Verwaltungsangestellter bei A&C Industries einer Tätigkeit nachgeht, von der er gar nicht weiß, ob sie irgendeine Bedeutung hat, sitzt er nachts am Fenster seiner Wohnung und hält zeichnend die wohlsortierten Menschen in der aufgeräumten Straße vor seinem akkurat gepflegten Garten fest. Collins tragischer Antiheld erinnert in seiner Verlorenheit an Chris Wares Jimmy Corrigan, der seinem Schicksal ebenso wenig entkommt wie der klügste Junge der Welt. Denn Daves innere Unruhe will nicht verschwinden. Sie steckt irgendwo unter seiner Haut, bis sie eines Tages in Form eines irrationalen, gigantischen Bartwuchses ausbricht. Aus einem einsamen Barthaar wird innerhalb von Minuten ein rauschender Vollbart, dem niemand mehr Herr werden kann. Bald schon durchbricht Daves Gesichtshaar jede Grenze und bedroht die Ordnung von HIER, wo Dinge nicht einfach »grundlos aus den Poren dringen« sollten. Erklären kann man dies natürlich nur mit einer äußeren Bedrohung, gegen die es mit aller Macht vorzugehen gilt: »Das Problem ist, wenn etwas von anderswo kommt, von einem Ort jenseits des Verstands… Jenseits der Ordnung… Jenseits von HIER…, dann, ehrlich gesagt, gerät alles aus den Fugen.«
Stephen Collins erzählt diese kafkaeske Geschichte in grandioser Manier. Er zeigt sich nicht nur als großer Erzähler, der jedes einzelne Wort genau abzuwägen weiß, sondern auch als souveräner Zeichner, der seine Striche mit größter Sorgfalt gesetzt hat. Die übergreifende Erzählweise der Neunten Kunst setzt er dabei so konsequent um, dass sich der Erzähltext in den Objekttexten fortsetzt. Collins’ grafische Lösungen sind nicht nur einfallsreich, sie sind ein herausforderndes Vergnügen für Auge und Geist. Für die Rhythmisierung seiner sequenziellen Erzählung spielt er auf der gesamten Klaviatur der Seitenarchitektur. Dabei variiert er mit den einzelnen Elementen nicht um der Variation willen, sondern stets im Sinne eines erzählerischen Mittels, so dass die bislang akkurat ausgerichtete Seitenarchitektur zu fliehen beginnt, wenn wir lesen, dass Dave das Gefühl hatte, »dass, eines schönen Tages, das geordnete HIER einfach irgendwie zusammenbrechen könnte«. Das Ungefähre der Bleistift- und Kohlestriche setzt Collins als grafische Metapher zur brüchigen Ordnung in HIER ein, denn zwischen der vermeintlichen Ordnung von HIER und dem zugeschriebenen Chaos von DORT liegt oft nur eine Krümmung im Raum-Zeit-Kontinuum. Und so wird dem Lesenden dieses Comics bewusst, dass HIER schon immer eine Form von DORT war, nur dass in Hier das Chaos permanent unter der Oberfläche gehalten wird. Der Preis ist das Leben selbst, dass in HIER in einem autoritären Überwachungskorsett steckt.
Nach Art Spiegelmans Im Schatten keiner Türme und Anders Nielsens Große Fragen sowie der Bertrand-Russell-Biografie Logicomix der beiden Griechen Apostolos Doxiadis und Christos H. Papadimitriou setzt der Atrium-Verlag mit Der gigantische Bart, der böse war sein beachtliches Comicprogramm fort. Dabei ist Collins Werk so abgeklärt wie Franz Kafkas alptraumhafte Satiren, so schwarzhumorig wie Roald Dahls Kurzgeschichten, so absurd wie Peter Weirds Truman-Show und so furchteinflößend wie die Dystopien von Aldous Huxley und George Orwell. Das macht diesen Comic zu einem unter die Haut gehenden und irritierenden Leseereignis im allerbesten Sinne. Völlig zu Recht ist Collins Werk für den Max-und-Moritz-Preis in Erlangen nominiert. Eine Auszeichnung wäre alles andere als eine Sensation.
Die englischsprachigen Grafiken sind der Homepage des Zeichners entnommen.
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