Literatur, Roman

Sich auf das Leben verlassen

In Judith Hermanns feinsinnigem Roman »Daheim« hört eine Frau dem Flüstern der Vergangenheit zu und baut sich in einer kargen Landschaft eine neue Existenz auf.

»Damals, in diesem Sommer vor dreißig Jahren«, als die Ich-Erzählerin in einem Neubaugebiet einer westdeutschen Stadt lebte und am Fließband in einer Zigarettenfabrik arbeitete, sprach sie ein Mann an. Er sei Zauberer und auf der Suche nach einer neuen Assistentin. Um sich eine Vorstellung zu machen, solle sie ihn in sein Haus begleiten. Dort begegnet die Erzählerin nicht nur seiner mürrischen Frau und erfährt vom Vorhaben einer gemeinsamen Reise, sondern macht sich auch probehalber mit der Kiste für den Trick der geteilten Jungfrau vertraut. Als sie darin Platz nimmt, überkommt sie ein Anflug von Panik. »Und einen Moment später dachte ich, ich wäre tatsächlich in zwei Hälften geteilt – nicht körperlich, eher im Kopf. Vielleicht im Herzen. Mein Herz wäre in zwei Hälften geteilt, ich war da, und ich war ganz woanders. An einem anderen Ort, sehr weit weg.«

Wenige Seiten und ein halbes Leben später ist die Ich-Erzählerin tatsächlich an einem anderen Ort und dieses Gefühl nur noch eine dumpfe Erinnerung. An der Nordseeküste hat sie ein altes Häuschen bezogen, nachdem ihre Tochter Ann am Polarkreis eigene Wege geht und die Ehe mit ihrem Mann Otis gescheitert ist. Die Selbständigkeit von Ann hat ebenso Spuren hinterlassen wie die Trennung von Otis. Im hohen Norden denkt sie noch einmal über das Scheitern ihrer Ehe und das, was es für sie bedeutet, nach. »Ich muss mir gewünscht haben, dass er mich in zwei Hälften zerteilen würde, er hat darauf verzichtet. Ich habe mich auf das Leben verlassen – vielleicht ist es das, was Ann tut. So weit weg am Rand des Kontinents und da, wo sich die Dinge verschärfen. Ihre Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf den Landkarten nicht vermerkt. Als wäre die Welt eine Kugel, die aufbricht, sich in ein Universum ergießt.«

Es ist etwas Grundsätzliches in ihrem Leben zu Ende gegangen, das spürt man in diesen Zeilen. »Otis und ich haben es ernst gemeint«, heißt es an einer Stelle lakonisch, aber vielsagend. Nun schreibt sie ihm in kurzen Briefen, wie es ihr in ihrem selbstgewählten Exil geht und was sie beschäftigt. Einmal schreibt sie ihm, wie sie eines nachts von der Kälte geweckt feststellte, dass ihre Haustür sperrangelweit aufsteht. »Von dieser Nacht an hatte ich einen gewissen Respekt, von dem ich dachte, er wäre der Preis für das Alleinsein.«

Judith Hermann: Daheim. Verlag S. Fischer 2021. 189 Seiten. 21,00 Euro. Hier bestellen.

Die Berlinerin Judith Hermann hat mit ihrem hochgelobten Debüt »Sommerhaus, später« 1998 den Ton gesetzt, an dem sie seither gemessen wird. Doch weder die drei Erzählungsbände »Nichts als Gespenster«, »Alice« und »Letti Park« noch ihr Debütroman »Aller Liebe Anfang« erfüllten die Sehnsucht des Feuilletons nach dem nächsten ganz großen Wurf. Das tut nun ihr zweiter Roman, in dessen zeitloser Schönheit sich viele wiederfinden dürften und der deshalb auch für viele als Favorit für den Preis der Leipziger Buchmesse gilt. Neben Hermann sind die aktuellen Bücher von Friederike Mayröcker, Helga Schubert, Iris Hanika und Christian Kracht für den Preis nominiert.

Er ist das poetische Protokoll eines Neuanfangs in einer kargen Landschaft, von der es heißt: »Torf und Schlacke, Regen ohne Ende. Die Leute haben ihre toten Babys unter den Feuerstellen begraben.« In dieser alles andere als romantischen Umgebung greift sie ihrem Bruder in seiner Kneipe unter die Arme, taucht mit ihrer Nachbarin Mimi in lokale Mythen ein und findet bei einem wortkargen Schweinebauern unverhofft Halt.

Der hilft ihr, als sich ein Marder in dem Gebälk ihres alten Hauses eingenistet hat. Er bringt eine Marderfalle an, die bei ihr ganz andere Assoziationen weckt. »Mir fiel ein, woran mich diese Falle die ganze Zeit über erinnert hatte – an die Stadt, an das Alleinsein, an diesen einen Tag vor dreißig Jahren. An die Hitze auf dem Balkon, die Tankstelle, den Zauberer und daran, dass ich mich in seine Kiste gelegt und er mich in der Mitte entzweigesägt hatte.« Hier taucht es plötzlich wieder auf, das tief vergrabene Gefühl des Geteilt- und Alleinseins.

»Daheim« ist kein Landflucht-Roman im herkömmlichen Sinne, sondern eine große Geschichte einer inneren Einkehr, um lange verdrängte Wunden zu heilen. Was brauchen wir, um uns daheim zu fühlen? Und worauf können wir verzichten? Von solchen Fragen ausgehend entwickelt dieser atmosphärisch dichte Text eine ungeheure Anziehungskraft. Die Handlung ist geradlinig, ohne einfach zu sein, die Figurensprache authentisch, ohne sich anzubiedern, die Auseinandersetzung mit der Welt inspirierend, ohne zu belehren.

»Daheim« ist das poetische Protokoll der Rückeroberung ihrer eigenen Geschichte – schonungslos ehrlich und unheimlich tröstend. In der kargen Landschaft – »da, wo sich die Dinge verschärfen« – holt sich die Ich-Erzählerin »Wehrhaftigkeit« und kommt still und leise bei sich selbst an. Bald schon ist sie jenen Stütze, die gerade noch für sie da waren.

3 Kommentare

  1. […] zwischen den nominierten Übersetzungs- und Belletristik-Titeln. Judith Hermann etwa, die mit ihrem Roman »Daheim« im Rennen ist, hat das Nachwort zu Tarjei Vesaas Roman »Die Vögel« geschrieben und Vesaas schwebender Ton […]

  2. […] besten Romane des Jahres, Judith Hermanns ebenso bewegende wie melancholische Sinnsuche an der See. »Daheim« ist das poetische Protokoll eines Neuanfangs in einer kargen Landschaft, von der es heißt: »Torf und Schlacke, Regen ohne Ende. Die Leute haben ihre toten Babys unter […]

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