Literatur, Roman

Die Bedeutung des Flügelschlags

Mit »Die Vögel« hat Tarjej Vesaas 1957 den »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« (Karl Ove Knausgård) verfasst. Dessen Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel ist eine ergreifende Sensation und nur folgerichtig für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

»Kein Wind, nur eine Bewegung – und hier war es so still, dass sich an den belaubten Espen kein Blatt regte.« Mit diesen Worten beginnt das Wunder, dessen Zeuge Mattis wird. Es ist der Balzflug einer Waldschnepfe, der in der Luft die Holzhütte quert, in der der sensible Mattis mit seiner Schwester Hege lebt. Und dieses Ereignis hat auf ihn eine Wirkung, die von magischer, lebensdurchströmender Kraft ist. »Es fühlte sich an, wie wenn nach langer, schwerer Zeit etwas überstanden war.« Entsprechend ist klar, dass der »Schnepfenstrich« eine tiefere Bedeutung haben muss. »Was kam der Schnepfenstrich hierher, wenn doch alles beim Alten blieb?«, fragt er sich selbst. Es ist nur der erste von vielen Gedanken, die ihn in den folgenden Wochen übermannen, und eine Kaskade an lebensverändernden Erkenntnissen auslösen.

Wenngleich Erkenntnis bei Mattis eine besondere Bedeutung bekommt. Dieser Mann in seinen besten Jahren, der doch niemals eine Frau berührt oder sich in der ländlichen Umgebung, in der er lebt, nützlich gemacht hat, ist besonders. Im Dorf nennt man ihn eilfertig Dussel. Er weiß das, er kennt das Zischen in seinem Rücken, ändern kann er es aber ohnehin nicht. Also versucht er es zu ignorieren und das Beste aus seiner Situation zu machen. In einer wirtschaftlichen Logik würde man sagen, er lebt in den Tag hinein, aus menschlicher Perspektive ist er wohl enger mit der Welt verbunden als die meisten von uns.

Aber ja, Mattis fällt es schwer, komplizierten Dingen zu folgen. Die Dinge sind das, was sie benennen, und nicht das, was man sich denken soll. Das Denken selbst ist bei Mattis und Hege ein Tabu, weil Mattis über Gedanken immer wieder ins Stolpern gerät. Er erlebt die Welt um ihn herum unmittelbar. Deshalb bricht für ihn auch eine Welt zusammen, als in eine der zwei Espen, die im Dorf jeder nur Hege-und-Mattis-Espen nennt, der Blitz einschlägt. Auch das muss eine Bedeutung haben, Mattis fürchtet Schlimmes. Als dann auch noch die Schnepfe von einem Hobbyjäger erlegt wird, droht seine innere Welt zusammenzustürzen.

Halt kann ihm in der Situation nur seine ältere Schwester Hege geben, mit der er zusammen in der elterlichen Hütte lebt, seit ihre Eltern viel zu früh gestorben sind. Hege ist diejenige, die beide über Wasser hält, was ihr schon früh graue Haare wachsen lässt. Und der Frust, ständig die Eigenwilligkeiten ihres Bruders ausgleichen zu müssen, belastet zunehmend auch ihr Verhältnis. Erst als Jørgen, ein Holzfäller von der anderen Seite des Sees, auftaucht und über Mattis und Hege in der Dachkammer einzieht, entspannen sich die Züge bei Mattis Schwester; sehr zur Irritation ihres Bruders.

Wenn Mattis die Dinge über den Kopf wachsen, flieht er auf den See, der im Wald zu Füßen ihrer Hütte liegt. Dort lässt er sich in seinem alten Ruderboot treiben. Eines Tages reist der Boden und das Boot droht unterzugehen. Mattis rettet sich auf eine kleine Insel, auf der er erschöpft einschläft. Geweckt wird er von zwei jungen Frauen, die auf der anderen Seite des Sees Urlaub machen und in dem jungen Mann eine willkommene Abwechslung sehen. Nichts von seiner Besonderheit wissend beginnen sie mit ihm zu flirten. Der Norweger Tarjej Vesaas beschreibt diese Szene so geheimnisvoll magisch, als würde er die sagenumwobenen Sirenen in Norwegens rauer Landschaft auftreten lassen. Diese Seiten sind von einer solch erschlagenden Sinnlichkeit, wie man es selten erlebt.

Tarjej Vesaas: Die Vögel. Aus dem Neunorwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Judith Hermann. Guggolz Verlag 2021. 279 Seiten. 23,00 Euro. Hier bestellen.

Überhaupt ist die Sprache des Norwegers von einer knorrigen Schönheit. Es sind kurze Sätze, verzichtet auf schmückendes Beiwerk und gibt der Welt – die wir durch Mattis Augen betrachten – eine unmittelbare Anmut und Empfindsamkeit. »Und das macht er mit einer Sprache, die einfach einen Satz an den anderen fügt«, erklärte mir Hinrich Schmidt-Henkel im Gespräch zu Vesaas Roman »Das Eis-Schloss«, den er zuvor übersetzt hat.

Dort erklärte er auch, wie viel Feingefühl und Raffinesse es dafür braucht. »Bei diesem Autor habe ich das Gefühl, dass ich wirklich alles, alles, alles benutzen muss, was ich in 30 Jahren Übersetzen gelernt habe. In jedem Parameter, ob Wörter, ob Spanne zwischen Schriftlichem und Mündlichem, ob Satzbau oder Zeichenverwendung. Ich habe den Werkzeugkasten wirklich bis ganz unten ausgepackt und selbst die kleine runde Feile, die da in einer Ecke liegt, noch rausgeholt.«

Auch für diese Übersetzung hat er kein Werkzeug geschont, so rund, so samtig, so elegant ist sein deutscher Text, der zu den schönsten gehört, die man im letzten Jahr entdecken konnte. Dass seine Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nun einmal mehr die Aufmerksamkeit auf den großartigen Berliner Verlag von Sebastian Guggolz lenkt, der verlässlich vergessene literarische Perlen hebt, ist nicht nur verdient, sondern eine wunderbare Geschichte für die deutsche Verlagslandschaft.

Schmidt-Henkel, der zu den vielseitigsten Übersetzer:innen in diesem Land gehört und neben Vesaas Autoren wie Kjell Askildsen, Henrik Ibsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline (im kommenden Monat erscheint seine Neuübersetzung von dessen Roman »Tod auf Raten«) oder Édouard Louis übersetzt, lässt den Text geradezu magisch schweben. Er verzichtet auf »scharfkantige« Wörter wie auch auf die Komplexität der deutschen Syntax, bleibt bei der einfachen, aber eindringlichen Sprache. Kein Wort ist hier zuviel, keines zu wenig, die Gestalt dieser Übersetzung ist einfach perfekt.

Zur Melancholie dieser Erzählung gehören auch die Lakonie und leise Ironie, die in den Gesprächen aufblitzt, die Mattis im Laufe der Erzählung führt – über die Eigenarten der Menschen, der Liebe und des Lebens. Seinem direkten Umgang mit der Welt und den Dingen sind seine Mitmenschen meist nicht gewachsen. Deshalb ist es auch nur ihm gestattet, so abgrundtiefe Fragen wie »Warum ist es so, wie es ist?« zu stellen, die andeuten, dass die wirklich wichtigen Fragen in den Köpfen der Sonderlinge dieser Welt verborgen ruhen. Tarjej Vesaas großartiger Roman ist das anmutig-traurige Porträt eines solchen besonderen Menschen.

2 Kommentare

  1. […] Leipziger Liste, auf der fünf bemerkenswerte Titel stehen. Da ist zum einen die Übertragung von Tarjei Vesaas Roman »Die Vögel«, die Hinrich Schmidt-Henkel für den Guggolz Verlag vorgenommen hat. Es ist das magisch schwebende […]

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